Die Beiträge dieses Bandes versuchen, ein möglichst breites Spektrum möglicher Varianten von Ego-Dokumenten abzudecken. Es sollen darunter alle jene Quellen verstanden werden, in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig - also etwa in einem persönlichen Brief, einem Tagebuch, einer Traumniederschrift oder einem autobiographischen Versuch - oder durch anere Umstände bedingt, geschieht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Das Ich, der kleine Gott der Menschen
Neuzeitliche Selbstzeugnisse unter der Lupe/Von Helga Meise
Ob in den Niederlanden oder Spanien, in England oder dem deutschen Sprachraum." - der Beginn der Neuzeit hat auf dem alten Kontinent allerorten und unabhängig von Standes-, Konfessions- oder Geschlechtsunterschieden die "Selbstwahrnehmung" des einzelnen heimisch gemacht und die "Verschriftung" dieser Erfahrung massiv befördert. Der Blick auf die eigene Person wurde zur sozialen Anforderung. Er etablierte sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern, von der Ökonomik über die Frömmigkeit bis hin zum wachsenden Interesse des Staates am Individuum.
Im Unterschied zu dem, was der Begriff heute automatisch an Assoziationen evoziert, waren die vom sechzehnten Jahrhundert an entstehenden "Ego-Dokumente" bis ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert keineswegs ausschließlich für das eigene Ich bestimmt, sondern für andere: für die eigenen Kinder oder die Familie, für Standes- oder Glaubensgenossen. Sie sollten die eigene Zugehörigkeit zu diesen Gruppen demonstrieren.
Daß weder die gängige Definition eines Selbstzeugnisses noch die der Autobiographie die Reichweite der überlieferten Texte und das breite, in sich offene Formenspektrum berücksichtigen, liegt auf der Hand. Die Tagung der Werner-Reimers-Stiftung, die es unter der Leitung von Winfried Schulze erstmals unternahm, die Quellen überhaupt zu sichten und eine Systematisierung vorzuschlagen, mündete denn auch in ein Plädoyer für den Terminus "Ego-Dokument". Die Tragfähigkeit des Begriffs hatte der Historiker Rudolf Dekker in einem eleganten Überblick über 1121 niederländische "Ego-Dokumente" aus drei Jahrhunderten vorgeführt.
Wie die Diskussionen und weitere Quellenanalysen zeigen, ist der Begriff besonders da sinnvoll, wo sich die Erschließung der Texte auch auf die Untersuchung ihres Umfeldes erstreckt. Der Begriff bewährt sich daher bei Autobiographien klassischen Stils, bei Memoiren, Tagebüchern und Briefen ebenso wie bei den umfangreich erhaltenen, seit kurzem erst in den Blick tretenden religiös inspirierten "Lebensläufen", Bitt- und Gnadengesuchen oder Zeugenbefragungen und Verhörsprotokollen.
Es ist zu hoffen, daß der Begriff die deutschsprachige Forschung inspirieren wird, nicht nur die Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte oder die historische Anthropologie, sondern auch die Literaturwissenschaft. Er bietet die Möglichkeit, über Fächergrenzen und Gattungsbarrieren hinweg Texte und Textsorten aufeinander zu beziehen, die, nur immanent gelesen, so widersprüchlich bleiben wie das Geständnis, das der niederländische Dichter Willem Bilderdijk zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an den Anfang seiner Autobiographie setzte: "Das Leben war für mich, solange ich mich erinnern kann, schmerzlich, unangenehm und leer. Ich habe schon früh getrachtet, die meisten Einzelheiten zu vergessen, und dies ist mir größtenteils, obwohl in geringerem Maße, als ich wünschte, gelungen."
Winfried Schulze (Hrsg.): "Ego-Dokumente". Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Akademie Verlag, Berlin 1996. 348 S., geb., 88,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Neuzeitliche Selbstzeugnisse unter der Lupe/Von Helga Meise
Ob in den Niederlanden oder Spanien, in England oder dem deutschen Sprachraum." - der Beginn der Neuzeit hat auf dem alten Kontinent allerorten und unabhängig von Standes-, Konfessions- oder Geschlechtsunterschieden die "Selbstwahrnehmung" des einzelnen heimisch gemacht und die "Verschriftung" dieser Erfahrung massiv befördert. Der Blick auf die eigene Person wurde zur sozialen Anforderung. Er etablierte sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Feldern, von der Ökonomik über die Frömmigkeit bis hin zum wachsenden Interesse des Staates am Individuum.
Im Unterschied zu dem, was der Begriff heute automatisch an Assoziationen evoziert, waren die vom sechzehnten Jahrhundert an entstehenden "Ego-Dokumente" bis ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert keineswegs ausschließlich für das eigene Ich bestimmt, sondern für andere: für die eigenen Kinder oder die Familie, für Standes- oder Glaubensgenossen. Sie sollten die eigene Zugehörigkeit zu diesen Gruppen demonstrieren.
Daß weder die gängige Definition eines Selbstzeugnisses noch die der Autobiographie die Reichweite der überlieferten Texte und das breite, in sich offene Formenspektrum berücksichtigen, liegt auf der Hand. Die Tagung der Werner-Reimers-Stiftung, die es unter der Leitung von Winfried Schulze erstmals unternahm, die Quellen überhaupt zu sichten und eine Systematisierung vorzuschlagen, mündete denn auch in ein Plädoyer für den Terminus "Ego-Dokument". Die Tragfähigkeit des Begriffs hatte der Historiker Rudolf Dekker in einem eleganten Überblick über 1121 niederländische "Ego-Dokumente" aus drei Jahrhunderten vorgeführt.
Wie die Diskussionen und weitere Quellenanalysen zeigen, ist der Begriff besonders da sinnvoll, wo sich die Erschließung der Texte auch auf die Untersuchung ihres Umfeldes erstreckt. Der Begriff bewährt sich daher bei Autobiographien klassischen Stils, bei Memoiren, Tagebüchern und Briefen ebenso wie bei den umfangreich erhaltenen, seit kurzem erst in den Blick tretenden religiös inspirierten "Lebensläufen", Bitt- und Gnadengesuchen oder Zeugenbefragungen und Verhörsprotokollen.
Es ist zu hoffen, daß der Begriff die deutschsprachige Forschung inspirieren wird, nicht nur die Erfahrungs- und Mentalitätsgeschichte oder die historische Anthropologie, sondern auch die Literaturwissenschaft. Er bietet die Möglichkeit, über Fächergrenzen und Gattungsbarrieren hinweg Texte und Textsorten aufeinander zu beziehen, die, nur immanent gelesen, so widersprüchlich bleiben wie das Geständnis, das der niederländische Dichter Willem Bilderdijk zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an den Anfang seiner Autobiographie setzte: "Das Leben war für mich, solange ich mich erinnern kann, schmerzlich, unangenehm und leer. Ich habe schon früh getrachtet, die meisten Einzelheiten zu vergessen, und dies ist mir größtenteils, obwohl in geringerem Maße, als ich wünschte, gelungen."
Winfried Schulze (Hrsg.): "Ego-Dokumente". Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Akademie Verlag, Berlin 1996. 348 S., geb., 88,- DM.
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