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Das Gesamtkunstwerk Kischs ist sein Leben, seine Literatur ist konstituierendes Element desselben und zugleich Mittel zum politischen Zweck. Seim Umgang zur Historie ist brillant, doch auch leichtfertig zu nennen. Sein operativer Blickwinkel verleitet ihn mitunter zu Fehleinschätzungen, welche es kritisch zu beurteilen gilt.

Produktbeschreibung
Das Gesamtkunstwerk Kischs ist sein Leben, seine Literatur ist konstituierendes Element desselben und zugleich Mittel zum politischen Zweck. Seim Umgang zur Historie ist brillant, doch auch leichtfertig zu nennen. Sein operativer Blickwinkel verleitet ihn mitunter zu Fehleinschätzungen, welche es kritisch zu beurteilen gilt.
Autorenporträt
Marcus G. Patka, Dr. Mag. phil., geboren 1966; Zeit- und Kulturhistoriker, Germanist, seit 1998 Kurator im Jüdischen Museum Wien, zahlreiche Ausstellungen zur Wiener jüdischen Geschichte sowie Wanderausstellungen in Deutschland, Israel, Australien und Chile, Gastlektor an der Portland State University und am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, zahlreiche Publikationen im In- und Ausland.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1997

Der rasende Idealist
Alte Legenden rosten nicht: Eine neue Kisch-Biographie

Obwohl wir seit langem wissen, daß es Egon Erwin Kisch mit der Wahrheit so genau nicht nahm, daß er seine Reportagen mit Dichtung anreicherte, sie bisweilen ganz und gar erfand, steht "der rasende Reporter" nach wie vor im Ruf des unbestechlichen Journalisten. Ein Preis, mit dem das Metier vorbildliche Leistungen auszeichnet, trägt seinen Namen. Übersehen wird die Großzügigkeit, mit der er die Tatsachen fälschte, wenn es seine Überzeugung verlangte. Wer daran erinnert, muß sich den Vorwurf der Unsachlichkeit gefallen lassen. Auch Marcus G. Patka, der Autor der bislang umfangreichsten Kisch-Biographie, versteht sich auf diesen Angriff. Auch er verweist die Kritiker seines Helden kurzerhand in das Lager des politischen Gegners, betrachtet es als eine Folge des "Kalten Krieges", daß der Publizist im Westen vor 1968 nur zögernd Anerkennung fand.

Zwar verkündet der Autor, geboren 1966, anfangs, das Ziel seiner Arbeit sei, "voreilige Urteile zu hinterfragen", doch stellt er umgehend fest, Kischs "Absicht" sei trotz allem "rein" gewesen. Ausdrücklich hervorgehoben wird "ein selbstauferlegter, überhöhter Anspruch an Authentizität und Wahrheit", was nicht zuletzt "den Maximen der sozialistischen Literatur" entsprochen habe.

Derart festgelegt auf das Selbstverständnis einer Ideologie, die ihre Parteilichkeit für die Wahrheit ansah, hat der Autor keine Mühe, seine Figur als einen Idealisten zu beschreiben, der dem Glauben gegen alle Anfechtungen die Treue hielt. Stalin ist er gleichsam notgedrungen beigesprungen. Um das Ziel nicht zu gefährden, hat der "Humanist" - "ein Beispiel an Zivilcourage" - die Diktatur des Proletariats geschönt, die Einschränkung der geistigen Freiheit als "Schutzzensur" anerkannt und kein kritisches Wort über den Hitler-Stalin-Pakt verloren, wobei es ihm laut Autor "zur Ehre" gereiche, "daß er die allergrößten Skrupel hatte, auch diesen Schwenk mitzumachen". Belegt werden diese Zweifel, die Gewissensbisse des "unbefangenen Zeugen", immer wieder mit der freundlichen Ahnung seiner Anhänger, mit den Vermutungen der Nachgeborenen zumal. Ihre Urteile ersetzen dem Biographen den dokumentarischen Nachweis.

Doch das Vertrauen gilt keineswegs uneingeschränkt. Nicht immer werden die Intellektuellen, wo sie sich von der Verheißung verführen ließen, entschuldigt. Die Arbeit kann Rechtfertigung durchaus und mit Recht versagen; der "Renegat" Gustav Regler entkommt ihrer kritischen Strenge ebensowenig wie Gottfried Benn, "ein vermeintlich großer Geist". Während er Kisch "politische Naivität" zugute hält, um ihm gleichwohl die "Demaskierung der Methoden und Ziele des politischen und literarischen Gegners" nachzurühmen, macht Patka mit Benn kurzen Prozeß. Was er bei jenem übersieht, den Machtanspruch des Intellektuellen, der aus Eitelkeit zum Ideologen wird, hält er diesem unerbittlich vor.

Seine in der Tat haltlosen Äußerungen zur Emigration, auf die Kisch mit der gebotenen Schärfe reagierte, werden zum Anlaß einer Generalabrechnung, die wie ein Ablenkungsmanöver anmutet. Von "ungeheuerlich dummen Vorwürfen" und vom "Ausmerzen der Geistesfreiheit" ist da unter anderem die Rede. Kein Wort wird darüber verloren, daß sich Benn schon nach kurzem wieder abwandte, daß es nicht einen Text gibt, in dem er Hitler so gefeiert hätte, wie Kisch Stalin anpries. Wo historische Erläuterung zu erwarten wäre, trüben Verbalinjurien den Blick; wo sie passen, werden die Dinge ganz einfach (absichtlich oder in purer Unkenntnis) auf den Kopf gestellt. Benn habe sich, lesen wir etwa, "an den völkischen Pöbel angebiedert"; und als ob das nicht genug der Irreführung wäre, heißt es nach dem Komma auch noch: "gerade dadurch wurde er Jahre später aber Identifikationsobjekt". Eine Unterstellung, für die sich neben anderen Peter Rühmkorf bedanken dürfte.

Die Funktion der polemischen Abschweifungen ist leicht zu erkennen. Der Hinweis auf die "in vieler Hinsicht überhastete Wiedervereinigung" Deutschlands, mit dem die Einleitung beginnt, und die Klage über "die aggressive Diffamierung der Sowjetunion in der westlichen Welt", alles fügt sich in eine Darstellung, die ihre Figur zum tragischen Helden macht, indem sie die Geschichte bis in die Gegenwart hinein als den Sieg der Reaktion darzustellen sucht. Der Held unterliegt, nachdem er ein Leben lang für die höhere Wahrheit eintrat, die Reportage mit Dichtung auffüllte, um das Ideal zur Geltung zu bringen. THOMAS RIETZSCHEL

Marcus G. Patka: "Egon Erwin Kisch". Stationen im Leben eines streitbaren Autors. Böhlau Verlag, Wien, Köln und Weimar 1997. 581 S., Abb., geb., 128,- DM.

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