Tugendhat unternimmt es, die Methoden der analytischen Philosophie auf anthropologische Grundfragen anzuwenden. Was bedeutet es, sich "ich"-sagend zu sich zu verhalten? Wie unterscheidet sich der Selbstbezug der Menschen von der rudimentären Egozentrizität anderer Tiere? Im Blick auf solche Fragen erörtert der Autor Phänomene wie Egoismus und Altruismus, das Bewußtsein der Sterblichkeit, Sichwichtignehmen und die Möglichkeit der Selbstrelativierung sowie das Bedürfnis nach Religion und Mystik.
Eine philosophische Anthropologie geht immer von einem Grundphänomen aus. Für Tugendhat ist das die prädikative Struktur der menschlichen Sprache, die er innerhalb der biologischen Evolution für den entscheidenden Durchbruch zum Menschlichen hält. Von dieser Struktur her analysiert er in seinem neuen Buch eine Reihe von anthropologischen Merkmalen wie "ich"-Sagen, Rationalität, Zurechnungsfähigkeit, das Bedürfnis, etwas gut zu machen, und die Angewiesenheit auf Anerkennung und auf ein Selbstwertgefühl. Religion und Mystik werden in ihrem Sinn und in ihrem Verhältnis zueinander neu bestimmt. Mystik versteht Tugendhat als Zurücktreten von der eigenen Egozentrizität, und sie kulminiert für ihn in der buddhistischen Figur des mitleidigen Bhodisattva. Die These des Buches ist: man kann nur "ich" sagen, weil man ein Bewußtsein von anderen und von einer Welt hat, und das hat zur Folge, daß Menschen in einer Spannung zwischen zwei Polen leben: sie nehmen sich "ich"-sagend absolut wichtig und leiden daran, andererseits können sie, indem sie "von sich zurücktreten", ihre Egozentrizität im Bezug zu anderen und angesichts der Welt relativieren.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Eine philosophische Anthropologie geht immer von einem Grundphänomen aus. Für Tugendhat ist das die prädikative Struktur der menschlichen Sprache, die er innerhalb der biologischen Evolution für den entscheidenden Durchbruch zum Menschlichen hält. Von dieser Struktur her analysiert er in seinem neuen Buch eine Reihe von anthropologischen Merkmalen wie "ich"-Sagen, Rationalität, Zurechnungsfähigkeit, das Bedürfnis, etwas gut zu machen, und die Angewiesenheit auf Anerkennung und auf ein Selbstwertgefühl. Religion und Mystik werden in ihrem Sinn und in ihrem Verhältnis zueinander neu bestimmt. Mystik versteht Tugendhat als Zurücktreten von der eigenen Egozentrizität, und sie kulminiert für ihn in der buddhistischen Figur des mitleidigen Bhodisattva. Die These des Buches ist: man kann nur "ich" sagen, weil man ein Bewußtsein von anderen und von einer Welt hat, und das hat zur Folge, daß Menschen in einer Spannung zwischen zwei Polen leben: sie nehmen sich "ich"-sagend absolut wichtig und leiden daran, andererseits können sie, indem sie "von sich zurücktreten", ihre Egozentrizität im Bezug zu anderen und angesichts der Welt relativieren.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003Die Ich-Sager vor dem Was-Rätsel
Ernst Tugendhat will den Menschen erkennen und entdeckt die Transzendenz
Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Das sind drei Fragen gewesen, die sich für Immanuel Kant zu einer Grundfrage verdichten: Was ist der Mensch? Und die philosophische Disziplin, in deren Zuständigkeit die Beantwortung besagter Frage fällt, heißt auch bei Kant „Anthropologie”. Allerdings wächst ihr in seiner Architektur des Wissens die besondere Aufgabe zu, den die Vernunft bedrängenden Fragen ihre Zentralperspektive zu geben.
Nun haben sich in der modernen Philosophie Zweifel Geltung verschafft, die Fragen dieses Typs betreffen. Wer herausbekommen möchte, was etwas sei, zieht den Verdacht auf sich, Metaphysik zu treiben. Eine Version, in der sich solche Skepsis ausspricht, thematisiert das Problem, welches Wissen eigentlich verlangt ist, wenn es gilt, Was?-Rätsel zu knacken. Auch diese Gestalt von Metaphysikkritik geht auf Kant zurück, namentlich auf seine Arbeiten über die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens. Es ist also keineswegs zufällig, wenn Kant die Sequenz der Fragen so angeordnet hat, dass zunächst zu klären wäre, was wir „wissen” können, bevor sonach geklärt werden kann, was wir als Menschen sind.
Eine andere Version von Metaphysikkritik gibt zu bedenken, es müsse zunächst der Sinn von Sein geklärt werden, bevor verständliche Aussagen über dasjenige Seiende gemacht werden können, das wir als menschliches Dasein bezeichnen. Deshalb meinte Martin Heidegger, auf den dieses Bedenken zurückgeht, eine Fundamentalontologie an die Stelle der philosophischen Anthropologie setzen zu müssen.
Angesichts dieser Problemsituation ist es zumindest überraschend, wenn ein moderner Philosoph wie Ernst Tugendhat sein jüngstes Buch gleich im Untertitel als „anthropologische Studie” charakterisiert. Und noch erstaunlicher ist, dass er in einem das Ganze seines Gedankenganges methodisch rechtfertigenden Anhang auf Kant mit der Forderung Bezug zu nehmen scheint, philosophische Fragen sollten wieder aus einer „Grundfrage” heraus begriffen werden, und hinzufügt, dass sich als diese die „zentrale Frage” anbietet, „wie wir uns als Menschen verstehen sollen”. Ist der ehemalige Heidegger Schüler Tugendhat zum Kantianer geworden?
Vernunft statt Geschichte
Nein, denn Tugendhat erklärt unmissverständlich, plausibel sei der Vorschlag nur, weil die „Überwölbungen” philosophischen Fragens „durch Ontologie und Transzendentalphilosophie nicht mehr überzeugen”. Tatsächlich lässt sich diese Distanzierung von Kants Transzendentalphilosophie und Heideggers Ontologie bereits an der Form seiner Fragestellung erkennen. Sie hebt ja auf das „Wie” eines humanen Selbstverständnisses und nicht auf das „Was” menschlichen Seins ab. Dabei interessieren Tugendhat augenscheinlich nicht vorfindliche Bilder, die Menschen von sich machen oder gemacht haben, sondern das Bild, das wir von uns mit Gründen haben sollten.
Kantisch mag daran die Überzeugung sein, eine prüfende Untersuchung solcher Gründe könne die in Einzeldisziplinen zerfallene Philosophie vereinheitlichen. Insofern enthält Tugendhats kurze Schrift auch eine programmatische Stellungnahme zu der anhaltenden Problematik, wie Philosophie heute zu verfassen sei. Und kantisch mag zudem Tugendhats methodische Überzeugung sein, dass es vernünftige, nicht aber historische Erkenntnisse sind, derer wir bedürfen, um uns über unser Selbstbild als Menschen zu verständigen.
Ob nun kantisch oder nicht, unorthodox bleibt Tugendhats Position allemal, zählt die Meinung, Anthropologie lasse sich nur noch als historische Anthropologie entwickeln, doch zu den gewöhnlich unbefragten Hintergrundannahmen der Gegenwart. Schon deshalb gehört seine kühne Untersuchung nicht nur auf die Regale philosophischer Fachbibliotheken, sondern unter die Leselampen aller Zeitgenossen, die sich mit dem Gedanken eingerichtet haben, der Historismus sei der unübersteigbare Horizont eines jeden modernen Welt- und Selbstverständnisses.
Das sind Stachel im Fleisch des Zeitgeistes. Doch damit nicht genug: Im Zentrum einer Anthropologie, die bei Tugendhat das menschliche Selbstverständnis aus der Analyse des Selbstbezuges von Tieren entfaltet, die nicht in Signalen, sondern in Sätzen kommunizieren, steht eine noch erstaunlichere Behauptung. Nachdem Tugendhat gezeigt hat, dass sich die Menschen vor allem als „ich”-Sager von anderen Tieren unterscheiden, und dass sie sich als solche egozentristisch zu anderen „ich”-Sagern wie zur Welt der Gegenstände und Tatsachen verhalten, will er dartun, dass es eine dieser Haltung entgegengesetzte, dezentrierte Weise des menschlichen Selbst- und Weltbezuges gibt. Er legt dar, dass sich die „ich”-Sager aus Gründen, die zu ihrer Verfassung als sprechende Tiere gehören, weniger wichtig nehmen können als ihre Egozentrizität nahelegen würde. In solchen Momenten treten die „ich”-Sager, wie Tugendhat formuliert, von sich zurück. Dieses Zurücktreten aber bedeutet „einen Schritt zurück nicht nur vom Egoismus, sondern von der eigenen Egozentrizität”. Es betrifft mithin alle Ziele und Wünsche, die ein Mensch verfolgt, sowohl jene, die andere zum Gegenstand haben, als auch jene, die mit anderen geteilt werden. Solche Distanzierungen bringt Tugendhats Anthropologie auf den Begriff „Sammlung”. Damit stellt sich die zwingende Frage: „Kann man sich einfach auf sich hin sammeln?”
Mit Argumenten, die Tugendhat aus einer subtilen Analyse des Selbstverhältnisses entwickelt, begründet er seine strikte Verneinung der Frage. Folglich behauptet die von ihm vertretene Anthropologie, dass Menschen ein genuines Bedürfnis danach haben, sich aus der Zerstreutheit ihres Wollens und Wünschens zu sammeln, und dass sie sich dabei auf etwas „Unverlierbares” verwiesen finden, das „nicht von dieser Welt” sein kann.
Anders gesagt, verteidigt Tugendhat die für einen aus der analytischen Tradition kommenden Philosophen schlechterdings verblüffende Auffassung, dass es außerhalb von Religion und Mystik „keine Möglichkeit einer ’gesammelten Existenz‘ gibt”. Diese Wiederentdeckung der Transzendenz – so viel sollte klar sein – wird heftige Kontroversen auslösen, wird Geister spalten und Gemüter erhitzen. Sie wird nicht nur Philosophen und Theologen, sondern auch Soziologen, Religionswissenschaftler und Historiker herausfordern. Und das kann, Ernst Tugendhat sei Dank, nur wirklich gute Philosophie.
MARTIN BAUER
ERNST TUGENDHAT: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. C. H. Beck, München 2003. 170 Seiten, 19.90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ernst Tugendhat will den Menschen erkennen und entdeckt die Transzendenz
Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Das sind drei Fragen gewesen, die sich für Immanuel Kant zu einer Grundfrage verdichten: Was ist der Mensch? Und die philosophische Disziplin, in deren Zuständigkeit die Beantwortung besagter Frage fällt, heißt auch bei Kant „Anthropologie”. Allerdings wächst ihr in seiner Architektur des Wissens die besondere Aufgabe zu, den die Vernunft bedrängenden Fragen ihre Zentralperspektive zu geben.
Nun haben sich in der modernen Philosophie Zweifel Geltung verschafft, die Fragen dieses Typs betreffen. Wer herausbekommen möchte, was etwas sei, zieht den Verdacht auf sich, Metaphysik zu treiben. Eine Version, in der sich solche Skepsis ausspricht, thematisiert das Problem, welches Wissen eigentlich verlangt ist, wenn es gilt, Was?-Rätsel zu knacken. Auch diese Gestalt von Metaphysikkritik geht auf Kant zurück, namentlich auf seine Arbeiten über die Möglichkeiten und Grenzen menschlichen Wissens. Es ist also keineswegs zufällig, wenn Kant die Sequenz der Fragen so angeordnet hat, dass zunächst zu klären wäre, was wir „wissen” können, bevor sonach geklärt werden kann, was wir als Menschen sind.
Eine andere Version von Metaphysikkritik gibt zu bedenken, es müsse zunächst der Sinn von Sein geklärt werden, bevor verständliche Aussagen über dasjenige Seiende gemacht werden können, das wir als menschliches Dasein bezeichnen. Deshalb meinte Martin Heidegger, auf den dieses Bedenken zurückgeht, eine Fundamentalontologie an die Stelle der philosophischen Anthropologie setzen zu müssen.
Angesichts dieser Problemsituation ist es zumindest überraschend, wenn ein moderner Philosoph wie Ernst Tugendhat sein jüngstes Buch gleich im Untertitel als „anthropologische Studie” charakterisiert. Und noch erstaunlicher ist, dass er in einem das Ganze seines Gedankenganges methodisch rechtfertigenden Anhang auf Kant mit der Forderung Bezug zu nehmen scheint, philosophische Fragen sollten wieder aus einer „Grundfrage” heraus begriffen werden, und hinzufügt, dass sich als diese die „zentrale Frage” anbietet, „wie wir uns als Menschen verstehen sollen”. Ist der ehemalige Heidegger Schüler Tugendhat zum Kantianer geworden?
Vernunft statt Geschichte
Nein, denn Tugendhat erklärt unmissverständlich, plausibel sei der Vorschlag nur, weil die „Überwölbungen” philosophischen Fragens „durch Ontologie und Transzendentalphilosophie nicht mehr überzeugen”. Tatsächlich lässt sich diese Distanzierung von Kants Transzendentalphilosophie und Heideggers Ontologie bereits an der Form seiner Fragestellung erkennen. Sie hebt ja auf das „Wie” eines humanen Selbstverständnisses und nicht auf das „Was” menschlichen Seins ab. Dabei interessieren Tugendhat augenscheinlich nicht vorfindliche Bilder, die Menschen von sich machen oder gemacht haben, sondern das Bild, das wir von uns mit Gründen haben sollten.
Kantisch mag daran die Überzeugung sein, eine prüfende Untersuchung solcher Gründe könne die in Einzeldisziplinen zerfallene Philosophie vereinheitlichen. Insofern enthält Tugendhats kurze Schrift auch eine programmatische Stellungnahme zu der anhaltenden Problematik, wie Philosophie heute zu verfassen sei. Und kantisch mag zudem Tugendhats methodische Überzeugung sein, dass es vernünftige, nicht aber historische Erkenntnisse sind, derer wir bedürfen, um uns über unser Selbstbild als Menschen zu verständigen.
Ob nun kantisch oder nicht, unorthodox bleibt Tugendhats Position allemal, zählt die Meinung, Anthropologie lasse sich nur noch als historische Anthropologie entwickeln, doch zu den gewöhnlich unbefragten Hintergrundannahmen der Gegenwart. Schon deshalb gehört seine kühne Untersuchung nicht nur auf die Regale philosophischer Fachbibliotheken, sondern unter die Leselampen aller Zeitgenossen, die sich mit dem Gedanken eingerichtet haben, der Historismus sei der unübersteigbare Horizont eines jeden modernen Welt- und Selbstverständnisses.
Das sind Stachel im Fleisch des Zeitgeistes. Doch damit nicht genug: Im Zentrum einer Anthropologie, die bei Tugendhat das menschliche Selbstverständnis aus der Analyse des Selbstbezuges von Tieren entfaltet, die nicht in Signalen, sondern in Sätzen kommunizieren, steht eine noch erstaunlichere Behauptung. Nachdem Tugendhat gezeigt hat, dass sich die Menschen vor allem als „ich”-Sager von anderen Tieren unterscheiden, und dass sie sich als solche egozentristisch zu anderen „ich”-Sagern wie zur Welt der Gegenstände und Tatsachen verhalten, will er dartun, dass es eine dieser Haltung entgegengesetzte, dezentrierte Weise des menschlichen Selbst- und Weltbezuges gibt. Er legt dar, dass sich die „ich”-Sager aus Gründen, die zu ihrer Verfassung als sprechende Tiere gehören, weniger wichtig nehmen können als ihre Egozentrizität nahelegen würde. In solchen Momenten treten die „ich”-Sager, wie Tugendhat formuliert, von sich zurück. Dieses Zurücktreten aber bedeutet „einen Schritt zurück nicht nur vom Egoismus, sondern von der eigenen Egozentrizität”. Es betrifft mithin alle Ziele und Wünsche, die ein Mensch verfolgt, sowohl jene, die andere zum Gegenstand haben, als auch jene, die mit anderen geteilt werden. Solche Distanzierungen bringt Tugendhats Anthropologie auf den Begriff „Sammlung”. Damit stellt sich die zwingende Frage: „Kann man sich einfach auf sich hin sammeln?”
Mit Argumenten, die Tugendhat aus einer subtilen Analyse des Selbstverhältnisses entwickelt, begründet er seine strikte Verneinung der Frage. Folglich behauptet die von ihm vertretene Anthropologie, dass Menschen ein genuines Bedürfnis danach haben, sich aus der Zerstreutheit ihres Wollens und Wünschens zu sammeln, und dass sie sich dabei auf etwas „Unverlierbares” verwiesen finden, das „nicht von dieser Welt” sein kann.
Anders gesagt, verteidigt Tugendhat die für einen aus der analytischen Tradition kommenden Philosophen schlechterdings verblüffende Auffassung, dass es außerhalb von Religion und Mystik „keine Möglichkeit einer ’gesammelten Existenz‘ gibt”. Diese Wiederentdeckung der Transzendenz – so viel sollte klar sein – wird heftige Kontroversen auslösen, wird Geister spalten und Gemüter erhitzen. Sie wird nicht nur Philosophen und Theologen, sondern auch Soziologen, Religionswissenschaftler und Historiker herausfordern. Und das kann, Ernst Tugendhat sei Dank, nur wirklich gute Philosophie.
MARTIN BAUER
ERNST TUGENDHAT: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. C. H. Beck, München 2003. 170 Seiten, 19.90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003Mußten diese häßlichen Gardinen sein?
Man wird ja einmal fragen dürfen: Ernst Tugendhat verschreibt dem Egozentriker eine Portion Mystik / Von Gustav Falke
Der Vorwurf, Ernst Tugendhat werde in seiner Beschäftigung mit der Mystik und dem Tod zunehmend seltsam, fällt auf die zurück, die ihn erheben. Wenn zum Philosophieren das Rechenschaftgeben gehört, müßte geprüft werden, auf welche Probleme einzelne Metaphysiken oder Theologien oder Mystiken mit welchen Angeboten reagieren. Daß die Religion oder die Metaphysik im Singular veraltet sein könnten, ist ganz schlechter Hegelianismus. Und wenn zum Philosophieren der einordnende Blick aufs Ganze gehört, bieten Metaphysiken und Religionen mit ihrem umfassenden Anspruch einen guten Ausgangspunkt. Wer sie zurückweist, verweigert sich meist disziplinübergreifenden Anforderungen überhaupt. Keineswegs wendet sich Tugendhat von seinen ethischen Interessen ab und einem Jenseits zu. Das Buch folgt eher der Figur einer Rückführung in die Grundlagen. Die systematisch und überaus klar dargestellte Ethik wird auf ihre metaphysischen Fundamente hin durchsichtig gemacht.
Mit der Sprache hat der Mensch als einziges Tier die Möglichkeit, von der jeweiligen Situation unabhängig behauptend, wünschend, befehlend sich auf ein identisches Etwas zu beziehen. Ein anderer kann dieser Bezugnahme zustimmen oder sie zurückweisen. So entsteht mit der Sprache die Rationalität als Fähigkeit, nach dem Wahren und Guten, nach Gründen zu fragen, und die Freiheit als Fähigkeit, zwischen Gütern auszuwählen. (Für Tugendhat muß sich jede Aussage über den Menschen mit einer evolutionstheoretischen Hypothese verbinden lassen, und die Entstehung von Rationalität und Freiheit aus der Sprache könne plausibel gemacht werden, das Umgekehrte nicht.) Zugleich wird der Sprecher seiner selbst bewußt als derjenige, der sich auf etwas bezieht. Er lernt, ich zu sagen. All sein Meinen, Wünschen, Handeln geht von ihm aus. Selbst und Welt sind gleichursprünglich und jeder für sich selbst das Zentrum der Welt, die er doch als unabhängig von ihm erkennt. Das ist mit dem anthropologischen Faktum der Egozentrizität gemeint. Zwischen egoistischen und altruistischen Handlungen können wir nur als egozentrische Wesen wählen.
Kraft der Sprache können wir uns Zwecke setzen, und die Zwecke werden Gegenstände dessen, was Tugendhat mit Heidegger Sorge nennt. Sie hat bei ihm drei Stufen. Wir sind erstens besorgt, daß unser Handeln gelingt. Das steht nie völlig in unserer Macht, es braucht immer auch ein wenig Glück. In unserer Macht steht dagegen zweitens, daß wir unsere Handlungen auf das Ziel ausrichten. Wir wollen unsere Sache gut machen. Tugendhat widmet diesem "adverbiellen Guten" viel Aufmerksamkeit. Hier könne man zum einen fassen, was Verantwortung bedeutet. Wer nicht vorankommt, wer immer wieder dieselben Fehler macht, dem werfen wir vor, er habe sich nicht genügend angestrengt, er hätte den inneren Schweinehund überwinden müssen.
Ohne daß der Name dabei fiele, wird das Sich-Anstrengen wie bei Bergson als ein fortschreitendes Einbeziehen der ganzen Seele auf das eine Ziel beschrieben. Und weil wir verantwortlich sind, sind wir zum anderen selbst in den Handlungen, die sich nur auf unser eigenes Wohl richten, der ständigen Bewertung unterworfen. Es mag eine Unhöflichkeit sein, jemandem vorzuwerfen, daß er sich häßliche Gardinen gekauft hat oder Jackett und Hose nicht zusammenpassen. Dennoch wird er nur nach dem Maßstab seiner Handlung bewertet, und oft genug verstärken die Vorwürfe Zweifel, die er selbst gehabt hat. Entsprechend reagiert er mit Wut oder Scham. Denn "es ist unmöglich, etwas gut machen zu wollen, wenn man es nicht bedauert, daß man es schlecht macht". Er könnte natürlich auch antworten, daß ihm das nicht so wichtig ist und daß ihm überhaupt diese ganze Ästhetisierung der Lebenswelt auf den Keks geht.
Das ist dann der dritte Bereich der Sorge. Wir müssen entscheiden, was uns wichtig ist, was wir in der uns beschiedenen Zeit erreichen können. Für Tugendhat tritt die christlich-transzendentalphilosophische Frage nach der Moral fortschreitend zurück in die platonisch-aristotelische Frage nach dem richtigen Leben. Denn das ist dem Menschen eigen, daß ihm "das Wie des Lebens zum Gegenstand des Überlegens wird". Was die Antike Eudaimonia genannt hatte, begegnet uns täglich in der Frage, ob es uns gut geht. Damit ist, außer den materiellen Voraussetzungen von Gesundheit und Einkommen, gemeint, daß es um die Dinge, die uns wichtig sind, gut oder schlecht bestellt ist. Wenn mein Buch nicht vorankommt und ich dieses Jahr schon wieder nicht nach Karatschi fahren kann, aber auch wenn die Ehe von Freunden scheitert oder ich in meiner Umgebung Armut und Elend beobachte, geht es mir nicht restlos gut.
Die drei Bereiche egozentrischer Sorge sind stete Quellen der Qual. Es quält mich, daß ich kein Glück habe, daß ich unfähig bin, daß ich mein Leben nicht ins Lot bekomme. Und aus diesen Qualen sind Religion und Mystik geboren. Die Religion stellt sich einen Gott vor, der die Welt nach ihrer Hoffnung verändern kann. Das ist für Tugendhat kein gangbarer Weg. Die Mystik setzt statt dessen auf die Transformation unseres Selbstverständnisses. Dabei ist der relativierende Taoismus für Tugendhat den verneinenden indischen Mystiken überlegen und das auf Herzensgüte abzielende Ideal des Bhodisattva dem immer noch an seinem Selbst ausgerichteten taoistischen Weisen. Religion wie Mystik eigne aber, daß sie Seelenfrieden anstreben, indem sie den Menschen von sich zurücktreten lassen und sein Selbstverhältnis an das Universum, das Ganze des Seins zurückbinden. Wir lernen, uns nicht so wichtig zu nehmen.
Die ursprüngliche Weisheit der Mystiker kann uns Lebenshilfe sein, ihr philosophischer Gehalt wird für Tugendhat erst bei Wittgenstein und bei Heidegger expliziert. Denn das ist das eigentlich Erstaunliche an dem Buch, daß Tugendhat sich zur Metaphysik seines Lehrers Heidegger und gerade auch des Heideggers der Kehre zurückwendet. Er nennt das nicht Metaphysik, sondern weist es einer stark erweiterten Anthropologie zu und wirft Heidegger auch ein paar böse Worte hinterher. Aber insofern die Anthropologie Ontologie und Transzendentalphilosophie beerbt, übernimmt sie auch die metaphysischen Fragen. Und in der Sache hatte Heidegger ganz recht: Das Wesen des Mystischen besteht im Staunen über das Wunder, daß Seiendes ist. Heidegger hatte auch recht, die klassische Metaphysik als seinsvergessen zu kritisieren. Aristoteles ging von einzelnem Seienden aus, sah noch nicht, daß alles einzelne im Zusammenhang mit allem anderen, in einer Welt ist.
Indem er sich zu Heidegger zurückwendet, handelt Tugendhat sich freilich Einwände ein, die er früher teils selber gegen Heidegger vorgebracht hatte. Es ist die Sorge und zumal die Sorge angesichts unserer Endlichkeit, die uns zu Gott, zum Mystischen, zur Metaphysik treibt. Warum nicht auch die Freude? Durchaus anrührend spricht Tugendhat von denen, denen schon als Kindern ständig der Vorwurf gemacht wurde: "Es liegt an dir, daß du diese Fehler gemacht hast, du hättest mehr achtgeben können, du mußt dich mehr anstrengen, es ist deine Schuld", und schildert die Verzweiflung derer, denen ihre Verantwortung "Quelle unaufhörlichen Leidens an sich selbst und wechselseitigen Verdrusses ist". Aber könnte man nicht mit gleichem Recht von der Freude erzählen, daß wir immer wieder Glück haben, daß uns Arbeiten gelingen, daß manches sich im Leben zum Guten fügt?
Die Mystik ist für Tugendhat ein Quietiv. Und entsprechend arm fällt die Metaphysik aus, die sie auf den Begriff bringt. Es geht um das Sein. Tugendhat betont zwar, daß darunter die Welt verstanden werden muß. Aber da das Staunen auf das Sein der Welt geht, ist der Unterschied nicht groß. Die klassische Metaphysik hatte dagegen die Welt als Zusammenhang entfalten wollen. Dort sollte der Mensch sich auf die richtige Weise wichtig nehmen, indem er seinen Ort und seine Grenzen bedenkt.
Ernst Tugendhat: "Egozentrizität und Mystik". Eine anthropologische Studie. C. H. Beck Verlag, München 2003. 170 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man wird ja einmal fragen dürfen: Ernst Tugendhat verschreibt dem Egozentriker eine Portion Mystik / Von Gustav Falke
Der Vorwurf, Ernst Tugendhat werde in seiner Beschäftigung mit der Mystik und dem Tod zunehmend seltsam, fällt auf die zurück, die ihn erheben. Wenn zum Philosophieren das Rechenschaftgeben gehört, müßte geprüft werden, auf welche Probleme einzelne Metaphysiken oder Theologien oder Mystiken mit welchen Angeboten reagieren. Daß die Religion oder die Metaphysik im Singular veraltet sein könnten, ist ganz schlechter Hegelianismus. Und wenn zum Philosophieren der einordnende Blick aufs Ganze gehört, bieten Metaphysiken und Religionen mit ihrem umfassenden Anspruch einen guten Ausgangspunkt. Wer sie zurückweist, verweigert sich meist disziplinübergreifenden Anforderungen überhaupt. Keineswegs wendet sich Tugendhat von seinen ethischen Interessen ab und einem Jenseits zu. Das Buch folgt eher der Figur einer Rückführung in die Grundlagen. Die systematisch und überaus klar dargestellte Ethik wird auf ihre metaphysischen Fundamente hin durchsichtig gemacht.
Mit der Sprache hat der Mensch als einziges Tier die Möglichkeit, von der jeweiligen Situation unabhängig behauptend, wünschend, befehlend sich auf ein identisches Etwas zu beziehen. Ein anderer kann dieser Bezugnahme zustimmen oder sie zurückweisen. So entsteht mit der Sprache die Rationalität als Fähigkeit, nach dem Wahren und Guten, nach Gründen zu fragen, und die Freiheit als Fähigkeit, zwischen Gütern auszuwählen. (Für Tugendhat muß sich jede Aussage über den Menschen mit einer evolutionstheoretischen Hypothese verbinden lassen, und die Entstehung von Rationalität und Freiheit aus der Sprache könne plausibel gemacht werden, das Umgekehrte nicht.) Zugleich wird der Sprecher seiner selbst bewußt als derjenige, der sich auf etwas bezieht. Er lernt, ich zu sagen. All sein Meinen, Wünschen, Handeln geht von ihm aus. Selbst und Welt sind gleichursprünglich und jeder für sich selbst das Zentrum der Welt, die er doch als unabhängig von ihm erkennt. Das ist mit dem anthropologischen Faktum der Egozentrizität gemeint. Zwischen egoistischen und altruistischen Handlungen können wir nur als egozentrische Wesen wählen.
Kraft der Sprache können wir uns Zwecke setzen, und die Zwecke werden Gegenstände dessen, was Tugendhat mit Heidegger Sorge nennt. Sie hat bei ihm drei Stufen. Wir sind erstens besorgt, daß unser Handeln gelingt. Das steht nie völlig in unserer Macht, es braucht immer auch ein wenig Glück. In unserer Macht steht dagegen zweitens, daß wir unsere Handlungen auf das Ziel ausrichten. Wir wollen unsere Sache gut machen. Tugendhat widmet diesem "adverbiellen Guten" viel Aufmerksamkeit. Hier könne man zum einen fassen, was Verantwortung bedeutet. Wer nicht vorankommt, wer immer wieder dieselben Fehler macht, dem werfen wir vor, er habe sich nicht genügend angestrengt, er hätte den inneren Schweinehund überwinden müssen.
Ohne daß der Name dabei fiele, wird das Sich-Anstrengen wie bei Bergson als ein fortschreitendes Einbeziehen der ganzen Seele auf das eine Ziel beschrieben. Und weil wir verantwortlich sind, sind wir zum anderen selbst in den Handlungen, die sich nur auf unser eigenes Wohl richten, der ständigen Bewertung unterworfen. Es mag eine Unhöflichkeit sein, jemandem vorzuwerfen, daß er sich häßliche Gardinen gekauft hat oder Jackett und Hose nicht zusammenpassen. Dennoch wird er nur nach dem Maßstab seiner Handlung bewertet, und oft genug verstärken die Vorwürfe Zweifel, die er selbst gehabt hat. Entsprechend reagiert er mit Wut oder Scham. Denn "es ist unmöglich, etwas gut machen zu wollen, wenn man es nicht bedauert, daß man es schlecht macht". Er könnte natürlich auch antworten, daß ihm das nicht so wichtig ist und daß ihm überhaupt diese ganze Ästhetisierung der Lebenswelt auf den Keks geht.
Das ist dann der dritte Bereich der Sorge. Wir müssen entscheiden, was uns wichtig ist, was wir in der uns beschiedenen Zeit erreichen können. Für Tugendhat tritt die christlich-transzendentalphilosophische Frage nach der Moral fortschreitend zurück in die platonisch-aristotelische Frage nach dem richtigen Leben. Denn das ist dem Menschen eigen, daß ihm "das Wie des Lebens zum Gegenstand des Überlegens wird". Was die Antike Eudaimonia genannt hatte, begegnet uns täglich in der Frage, ob es uns gut geht. Damit ist, außer den materiellen Voraussetzungen von Gesundheit und Einkommen, gemeint, daß es um die Dinge, die uns wichtig sind, gut oder schlecht bestellt ist. Wenn mein Buch nicht vorankommt und ich dieses Jahr schon wieder nicht nach Karatschi fahren kann, aber auch wenn die Ehe von Freunden scheitert oder ich in meiner Umgebung Armut und Elend beobachte, geht es mir nicht restlos gut.
Die drei Bereiche egozentrischer Sorge sind stete Quellen der Qual. Es quält mich, daß ich kein Glück habe, daß ich unfähig bin, daß ich mein Leben nicht ins Lot bekomme. Und aus diesen Qualen sind Religion und Mystik geboren. Die Religion stellt sich einen Gott vor, der die Welt nach ihrer Hoffnung verändern kann. Das ist für Tugendhat kein gangbarer Weg. Die Mystik setzt statt dessen auf die Transformation unseres Selbstverständnisses. Dabei ist der relativierende Taoismus für Tugendhat den verneinenden indischen Mystiken überlegen und das auf Herzensgüte abzielende Ideal des Bhodisattva dem immer noch an seinem Selbst ausgerichteten taoistischen Weisen. Religion wie Mystik eigne aber, daß sie Seelenfrieden anstreben, indem sie den Menschen von sich zurücktreten lassen und sein Selbstverhältnis an das Universum, das Ganze des Seins zurückbinden. Wir lernen, uns nicht so wichtig zu nehmen.
Die ursprüngliche Weisheit der Mystiker kann uns Lebenshilfe sein, ihr philosophischer Gehalt wird für Tugendhat erst bei Wittgenstein und bei Heidegger expliziert. Denn das ist das eigentlich Erstaunliche an dem Buch, daß Tugendhat sich zur Metaphysik seines Lehrers Heidegger und gerade auch des Heideggers der Kehre zurückwendet. Er nennt das nicht Metaphysik, sondern weist es einer stark erweiterten Anthropologie zu und wirft Heidegger auch ein paar böse Worte hinterher. Aber insofern die Anthropologie Ontologie und Transzendentalphilosophie beerbt, übernimmt sie auch die metaphysischen Fragen. Und in der Sache hatte Heidegger ganz recht: Das Wesen des Mystischen besteht im Staunen über das Wunder, daß Seiendes ist. Heidegger hatte auch recht, die klassische Metaphysik als seinsvergessen zu kritisieren. Aristoteles ging von einzelnem Seienden aus, sah noch nicht, daß alles einzelne im Zusammenhang mit allem anderen, in einer Welt ist.
Indem er sich zu Heidegger zurückwendet, handelt Tugendhat sich freilich Einwände ein, die er früher teils selber gegen Heidegger vorgebracht hatte. Es ist die Sorge und zumal die Sorge angesichts unserer Endlichkeit, die uns zu Gott, zum Mystischen, zur Metaphysik treibt. Warum nicht auch die Freude? Durchaus anrührend spricht Tugendhat von denen, denen schon als Kindern ständig der Vorwurf gemacht wurde: "Es liegt an dir, daß du diese Fehler gemacht hast, du hättest mehr achtgeben können, du mußt dich mehr anstrengen, es ist deine Schuld", und schildert die Verzweiflung derer, denen ihre Verantwortung "Quelle unaufhörlichen Leidens an sich selbst und wechselseitigen Verdrusses ist". Aber könnte man nicht mit gleichem Recht von der Freude erzählen, daß wir immer wieder Glück haben, daß uns Arbeiten gelingen, daß manches sich im Leben zum Guten fügt?
Die Mystik ist für Tugendhat ein Quietiv. Und entsprechend arm fällt die Metaphysik aus, die sie auf den Begriff bringt. Es geht um das Sein. Tugendhat betont zwar, daß darunter die Welt verstanden werden muß. Aber da das Staunen auf das Sein der Welt geht, ist der Unterschied nicht groß. Die klassische Metaphysik hatte dagegen die Welt als Zusammenhang entfalten wollen. Dort sollte der Mensch sich auf die richtige Weise wichtig nehmen, indem er seinen Ort und seine Grenzen bedenkt.
Ernst Tugendhat: "Egozentrizität und Mystik". Eine anthropologische Studie. C. H. Beck Verlag, München 2003. 170 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ernst Tugendhat, Thomas Meyer zufolge eine der "wenigen unverwechselbaren Stimmen in der deutschen Philosophie der letzten drei Jahrzehnte", zudem eine der verständlichsten, hat ein neues Buch geschrieben, in dem es um den Zusammenhang von Vernunft - dem Streben nach dem Guten - und Selbstbezug geht. Letzteres - von Tugendhat "Egozentrizität" genannt - braucht es für ersteres, so der Grundgedanke. Aber warum? Weil es, so vollzieht es Meyer gerafft nach, eines Ichs bedarf, um die in der Sprache, im Gespräch mit anderen vollzogene Fähigkeit zur Rationalität zu verwirklichen, wobei dieses Ich bei Tugendhat "ein völlig unprätentiöses Phänomen (ist), dem es gelingt, seine Meinungen, Wünsche, Absichten und Gefühle durch die Fähigkeit zu objektivieren, prädikativ über sich selbst zu sprechen". Unter anderem über seine "Freiheit", die wiederum die Voraussetzung für ein "Sichausrichtenkönnen auf Gutes" sei. Das Ich praktiziere einen Ausgleich zwischen "Vielheit und Zerstreuung" auf der einen Seite und "Sammlung" auf der anderen - "auf diese Weise kann eine Einheit des menschlichen Lebens gedacht werden" und man kann seine Handlung auf das Gute ausrichten, erklärt Meyer. Und dieser Zusammenhang zwischen Ich, Freiheit und Ausrichtung auf das Gute könne sich innerhalb von Mystik und Religion, "den traditionellen Antworten auf der Suche nach Einheit" nicht entfalten. Für Meyer steckt in Tugendhats Buch "ein philosophischer Trost, wie er ernsthafter und furchtloser nicht sein könnte".
© Perlentaucher Medien GmbH
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