Die heutige Vorstellung von partnerschaftlicher und 'romantischer' Liebe ist historisch ein Spätprodukt. Der mit Antike und Bibel einsetzende Überblick zeigt, daß die Geschichte der praktizierten Sexualität durchaus von Liebe zeugt, aber zugleich voller Zwänge und Grausamkeiten ist. Das Christentum sah sich seit seiner Entstehung praktisch wie reflexiv herausgefordert. Es prägte gleichermaßen die Vorstellung von gleichberechtigter Partnerschaft wie auch von Lustfeindlichkeit. Inzwischen werden die kirchlichen Aussagen zur Sexualität breit kritisiert oder gänzlich zurückgewiesen. Das vorliegende Buch stellt alle kontroversen Aspekte um Ehe, Liebe und Sexualität aus historischer Perspektive dar - mit teilweise verblüffenden Einblicken: Die heute zum Weltexportartikel gewordene romantische Liebe ist ohne Christentum nicht denkbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2015Schon die Karolinger waren Romantiker
Sie muss auf Gegenseitigkeit beruhen: Arnold Angenendt schreibt eine Geschichte der Ehe in der westlichen Welt - und überzeugt mit der Hoffnung, die Kirche werde womöglich bald zu einer befriedigenden Sexuallehre finden.
Von Bernhard Lang
Schon früh war die karolingische Prinzessin Judith (844 bis 870) politischer Spielball ihres Vaters. Als Kind von dreizehn Jahren verheiratete sie ihr Vater, König Karl der Kahle, nach England. Nach dem frühen Tod ihres ersten Gatten nahm der Bruder des Verstorbenen sie zur Frau. Auch er verstarb nach kurzer Frist. Kaum war Judith ins heimatliche Frankenreich zurückgekehrt, schmiedete ihr Vater weitere Pläne. Doch Judith verliebte sich in den flandrischen Grafen Balduin und inszenierte ihre Entführung aus der Gewalt des Vaters. Der Vater war über Judith verärgert. Judith und ihr neuer Gemahl flohen zu Papst Nikolaus - ein guter Entschluss, denn Nikolaus konnte Karl den Kahlen schließlich zur Anerkennung der Ehe Judiths bewegen.
In seinem Buch über "Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum" schildert der Münsteraner Theologe, Mediävist und Kirchenhistoriker Arnold Angenendt die Ehegeschichte Judiths. Sie klingt wie ein Roman mit zumindest zwei Helden: der tapferen, sich von ihrem Vater emanzipierenden Judith, und dem einsichtigen, eine geradezu modern anmutende Eheauffassung vertretenden Mann auf dem Stuhl Petri. Für beide Protagonisten gilt gleichermaßen: Die Liebe siegt.
In höfischen Kreisen jedoch konnte die Liebe nur selten siegen, denn dort galt die Frau als Mittel dynastischer Machtpolitik. Anders im Volk, wo Frauen und Männer in Partnerschaft leben konnten. Folgen wir wie Angenendt dem Wiener Mediävisten Michael Mitterauer, so entstand im neunten Jahrhundert das, was die historische Anthropologie als das "European marriage pattern" bezeichnet. Darunter wird die spezifische Familien- und Ehekonstellation verstanden, die für alle west- und mitteleuropäischen Länder bis heute führend geworden ist: relativ späte Heirat, ungefähr gleiches Alter der Partner, freie Partnerwahl, partnerzentrierte Familie im Unterschied zur Groß- und Mehrgenerationenfamilie. Die Frau gliedert sich nicht in eine Großfamilie ein, um deren Nachkommenschaft durch Geburten zu sichern.
Das "European marriage pattern" wird von der biblischen und christlichen Tradition begünstigt und unterstützt. Das Neue Testament beurteilt den Menschen nach seinem Glauben an Gott und Christus, nicht nach seiner Herkunft aus einer Familiendynastie. Wer Christus nachfolgt, verlässt Vater und Mutter. Der Glaube schwächt den generationenübergreifenden Zusammenhalt und stärkt individuelle Selbständigkeit. Dementsprechend wird im Christentum der Ahnenkult verworfen. Das Christentum hat sich der Eheauffassung angeschlossen, wie sie die fortschrittlichsten der antiken Philosophen vertraten: Die Ehe muss, wie bei Judith und Balduin, stets auf dem gegenseitig gegebenen Jawort - dem Konsens - der Partner beruhen, ein Grundsatz, den Papst Nikolaus mit Nachdruck vertrat. Mann und Frau sind prinzipiell gleichberechtigt. Darin folgt die Kirche der Ehelehre antiker Stoiker.
Mit der Etablierung des "European marriage pattern" hat die Geschichte der Ehe im Christentum ihren Abschluss gefunden. Angenendt könnte sich auf ein Wort berufen, das von dem Anthropologen Louis Dumont überliefert wird: "Um das Jahr 1000 hatte Europa seine grundlegende Arbeit bereits geleistet." Was danach kommt, ist Folgegeschichte, die der Autor nur noch summarisch ausführt. Zu den Fernwirkungen des Mittelalters zählt Angenendt die moderne Ehe, die sich als romantische und partnerschaftliche Ehe oder Liebesehe kennzeichnen lässt. Hier sind die Partner gleichberechtigt, die Liebe zwischen den Partnern rückt in den Vordergrund, denn von ihr werden Erfüllung und Glück erhofft - so etwa dargestellt in Goethes "Werther" (1774), einem Gründungsdokument romantischer Liebesvorstellung. Der Autor sieht alle Merkmale der modernen Ehe bereits im Mittelalter angelegt, nämlich in der Konsensidee, welche die Gleichheit der Partner und ihre gegenseitige Liebe voraussetzt. Bereits in karolingischer Zeit haben Balduin und Judith eine romantische Ehe geführt.
Angenendt ist weit davon entfernt, nur den positiven Beitrag des Christentums zur Geschichte der Ehe hervorzuheben. Er kennt und benennt alle Lasten, die Theologen und Kirchenmänner dem Menschen als sexuellem Wesen aufgebürdet haben, von Augustinus bis Papst Paul VI. Dazu gehört nicht nur die Vorstellung, jede geschlechtliche Betätigung verunreinige Mann und Frau, sondern noch vieles andere: jeder Verkehr sei von Sünde belastet, vorehelicher Verkehr sei besonders verwerflich, Homosexualität verdammenswürdig, Ehelosigkeit von höherem Wert als die Ehe, Geburtenkontrolle fast gänzlich abzulehnen. Der Münsteraner Theologe vertritt die optimistische Auffassung, der Mensch müsse und könne aus der Geschichte lernen. Kirchlich gewendet: Theologie und kirchliches Lehramt müssen und können sich von den Lasten einer irrigen Sexuallehre lösen.
Seinen Optimismus scheint Angenendt wiederum aus dem Mittelalter zu schöpfen. Neben der Konsenslehre anerkennt der Autor noch eine weitere Spitzenleistung der mittelalterlichen Theologie: die Rehabilitierung der Liebeslust. Warum war sie nötig geworden? Die Antwort hat mit dem Erbe der Theologie Augustinus' (354 bis 430) zu tun. Der hat die antike philosophische Empfehlung von Zurückhaltung im Geschlechtsverkehr verschärft, indem er jedwede Geschlechtslust, auch die in der Ehe, für sündhaft erklärt. Nur das Ziel der Kinderzeugung entschuldige die Sünde und gleiche sie aus. Trotz ihrer breiten Rezeption augustinischer Lehren entfernte sich die mittelalterliche Theologie von diesen Vorgaben.
Nicht nur der Franzose Peter Abaelard (1079 bis 1141) fand - nach der geheimen Ehe mit seiner Schülerin und Geliebten Héloïse - nichts Verwerfliches an geschlechtlicher Lust in der Ehe; auch andere Theologen empfahlen geschlechtliche Freuden oder erklärten sie für natürlich, so der größte Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin. Eine kühne Formulierung fand Dionysius der Kartäuser (1402 bis 1471): Verheiratete sollen sich "mit fleischlicher Lust wechselseitig lieben" - so im Traktat "Über das löbliche Leben der Eheleute".
Das Buch von Arnold Angenendt überzeugt durch die Hervorhebung der Konsenslehre als einem christlichen, der antiken Philosophie verpflichteten Beitrag zum modernen Verständnis des Menschen. Es fasziniert nicht zuletzt durch die Hoffnung, irgendwann, vielleicht sogar bald, könne die Kirche zu einer befriedigenden Lehre finden über alles, was mit Ehe, Liebe und Sexualität zusammenhängt. Auch wer den Optimismus des Autors nicht teilt, wird das Buch als eine Meisterleistung historischer Anthropologie schätzen.
Arnold Angenendt: , "Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum". Von den Anfängen bis heute.
Aschendorff Verlag, Münster 2015. 324 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie muss auf Gegenseitigkeit beruhen: Arnold Angenendt schreibt eine Geschichte der Ehe in der westlichen Welt - und überzeugt mit der Hoffnung, die Kirche werde womöglich bald zu einer befriedigenden Sexuallehre finden.
Von Bernhard Lang
Schon früh war die karolingische Prinzessin Judith (844 bis 870) politischer Spielball ihres Vaters. Als Kind von dreizehn Jahren verheiratete sie ihr Vater, König Karl der Kahle, nach England. Nach dem frühen Tod ihres ersten Gatten nahm der Bruder des Verstorbenen sie zur Frau. Auch er verstarb nach kurzer Frist. Kaum war Judith ins heimatliche Frankenreich zurückgekehrt, schmiedete ihr Vater weitere Pläne. Doch Judith verliebte sich in den flandrischen Grafen Balduin und inszenierte ihre Entführung aus der Gewalt des Vaters. Der Vater war über Judith verärgert. Judith und ihr neuer Gemahl flohen zu Papst Nikolaus - ein guter Entschluss, denn Nikolaus konnte Karl den Kahlen schließlich zur Anerkennung der Ehe Judiths bewegen.
In seinem Buch über "Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum" schildert der Münsteraner Theologe, Mediävist und Kirchenhistoriker Arnold Angenendt die Ehegeschichte Judiths. Sie klingt wie ein Roman mit zumindest zwei Helden: der tapferen, sich von ihrem Vater emanzipierenden Judith, und dem einsichtigen, eine geradezu modern anmutende Eheauffassung vertretenden Mann auf dem Stuhl Petri. Für beide Protagonisten gilt gleichermaßen: Die Liebe siegt.
In höfischen Kreisen jedoch konnte die Liebe nur selten siegen, denn dort galt die Frau als Mittel dynastischer Machtpolitik. Anders im Volk, wo Frauen und Männer in Partnerschaft leben konnten. Folgen wir wie Angenendt dem Wiener Mediävisten Michael Mitterauer, so entstand im neunten Jahrhundert das, was die historische Anthropologie als das "European marriage pattern" bezeichnet. Darunter wird die spezifische Familien- und Ehekonstellation verstanden, die für alle west- und mitteleuropäischen Länder bis heute führend geworden ist: relativ späte Heirat, ungefähr gleiches Alter der Partner, freie Partnerwahl, partnerzentrierte Familie im Unterschied zur Groß- und Mehrgenerationenfamilie. Die Frau gliedert sich nicht in eine Großfamilie ein, um deren Nachkommenschaft durch Geburten zu sichern.
Das "European marriage pattern" wird von der biblischen und christlichen Tradition begünstigt und unterstützt. Das Neue Testament beurteilt den Menschen nach seinem Glauben an Gott und Christus, nicht nach seiner Herkunft aus einer Familiendynastie. Wer Christus nachfolgt, verlässt Vater und Mutter. Der Glaube schwächt den generationenübergreifenden Zusammenhalt und stärkt individuelle Selbständigkeit. Dementsprechend wird im Christentum der Ahnenkult verworfen. Das Christentum hat sich der Eheauffassung angeschlossen, wie sie die fortschrittlichsten der antiken Philosophen vertraten: Die Ehe muss, wie bei Judith und Balduin, stets auf dem gegenseitig gegebenen Jawort - dem Konsens - der Partner beruhen, ein Grundsatz, den Papst Nikolaus mit Nachdruck vertrat. Mann und Frau sind prinzipiell gleichberechtigt. Darin folgt die Kirche der Ehelehre antiker Stoiker.
Mit der Etablierung des "European marriage pattern" hat die Geschichte der Ehe im Christentum ihren Abschluss gefunden. Angenendt könnte sich auf ein Wort berufen, das von dem Anthropologen Louis Dumont überliefert wird: "Um das Jahr 1000 hatte Europa seine grundlegende Arbeit bereits geleistet." Was danach kommt, ist Folgegeschichte, die der Autor nur noch summarisch ausführt. Zu den Fernwirkungen des Mittelalters zählt Angenendt die moderne Ehe, die sich als romantische und partnerschaftliche Ehe oder Liebesehe kennzeichnen lässt. Hier sind die Partner gleichberechtigt, die Liebe zwischen den Partnern rückt in den Vordergrund, denn von ihr werden Erfüllung und Glück erhofft - so etwa dargestellt in Goethes "Werther" (1774), einem Gründungsdokument romantischer Liebesvorstellung. Der Autor sieht alle Merkmale der modernen Ehe bereits im Mittelalter angelegt, nämlich in der Konsensidee, welche die Gleichheit der Partner und ihre gegenseitige Liebe voraussetzt. Bereits in karolingischer Zeit haben Balduin und Judith eine romantische Ehe geführt.
Angenendt ist weit davon entfernt, nur den positiven Beitrag des Christentums zur Geschichte der Ehe hervorzuheben. Er kennt und benennt alle Lasten, die Theologen und Kirchenmänner dem Menschen als sexuellem Wesen aufgebürdet haben, von Augustinus bis Papst Paul VI. Dazu gehört nicht nur die Vorstellung, jede geschlechtliche Betätigung verunreinige Mann und Frau, sondern noch vieles andere: jeder Verkehr sei von Sünde belastet, vorehelicher Verkehr sei besonders verwerflich, Homosexualität verdammenswürdig, Ehelosigkeit von höherem Wert als die Ehe, Geburtenkontrolle fast gänzlich abzulehnen. Der Münsteraner Theologe vertritt die optimistische Auffassung, der Mensch müsse und könne aus der Geschichte lernen. Kirchlich gewendet: Theologie und kirchliches Lehramt müssen und können sich von den Lasten einer irrigen Sexuallehre lösen.
Seinen Optimismus scheint Angenendt wiederum aus dem Mittelalter zu schöpfen. Neben der Konsenslehre anerkennt der Autor noch eine weitere Spitzenleistung der mittelalterlichen Theologie: die Rehabilitierung der Liebeslust. Warum war sie nötig geworden? Die Antwort hat mit dem Erbe der Theologie Augustinus' (354 bis 430) zu tun. Der hat die antike philosophische Empfehlung von Zurückhaltung im Geschlechtsverkehr verschärft, indem er jedwede Geschlechtslust, auch die in der Ehe, für sündhaft erklärt. Nur das Ziel der Kinderzeugung entschuldige die Sünde und gleiche sie aus. Trotz ihrer breiten Rezeption augustinischer Lehren entfernte sich die mittelalterliche Theologie von diesen Vorgaben.
Nicht nur der Franzose Peter Abaelard (1079 bis 1141) fand - nach der geheimen Ehe mit seiner Schülerin und Geliebten Héloïse - nichts Verwerfliches an geschlechtlicher Lust in der Ehe; auch andere Theologen empfahlen geschlechtliche Freuden oder erklärten sie für natürlich, so der größte Theologe des Mittelalters, Thomas von Aquin. Eine kühne Formulierung fand Dionysius der Kartäuser (1402 bis 1471): Verheiratete sollen sich "mit fleischlicher Lust wechselseitig lieben" - so im Traktat "Über das löbliche Leben der Eheleute".
Das Buch von Arnold Angenendt überzeugt durch die Hervorhebung der Konsenslehre als einem christlichen, der antiken Philosophie verpflichteten Beitrag zum modernen Verständnis des Menschen. Es fasziniert nicht zuletzt durch die Hoffnung, irgendwann, vielleicht sogar bald, könne die Kirche zu einer befriedigenden Lehre finden über alles, was mit Ehe, Liebe und Sexualität zusammenhängt. Auch wer den Optimismus des Autors nicht teilt, wird das Buch als eine Meisterleistung historischer Anthropologie schätzen.
Arnold Angenendt: , "Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum". Von den Anfängen bis heute.
Aschendorff Verlag, Münster 2015. 324 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein Meisterwerk historischer Anthropologie ist das Buch des Theologen Arnold Angenendt für den Rezensenten Bernhard Lang. Nicht nur, weil der Autor mit dem "European marriage pattern" eine Ehekonstellation herausarbeitet, die bereits das christliche Mittelalter anlegt. Sondern auch, da er eben nicht nur das Positive daran erörtert. Indem er die Lasten nicht verschweigt, die etwa Augustinus und Paul VI. dem Menschen aufbürdeten, als sie die Sünde des geschlechtlichen Verkehrs betonten, Homosexualität und den außerehelichen Verkehr verdammten und die Geburtenkontrolle ablehnten, jedoch zugleich optimistisch auf die Lernfähigkeit der Theologie hofft, überzeugt der Autor den Rezensenten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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