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Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • Seitenzahl: 275
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 412g
  • ISBN-13: 9783406398827
  • Artikelnr.: 06062142
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.1996

Parzivals gemischte Liebkosung
Otfrid Ehrismanns "Wortgeschichten aus dem Mittelalter"

Daß "guot" nicht "gut" und "arebeit" nicht "Arbeit" heißt, gehört zum traumatischen Wissen jedes erfolgreichen Proseminarbesuchers in Älterer Germanistik. Daran ist Franz Saran nicht ganz unschuldig, der im Jahre 1930 ein Büchlein mit dem Titel "Das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen" veröffentlichte, weil es ihm wünschenswert schien, "dem Studenten gewisse Dinge gedruckt in die Hand zu geben, damit man sie nicht immer wieder sagen muß". Auch Otfrid Ehrismanns "Wortgeschichten" sind für den akademischen Unterricht bestimmt und möchten alles auf einmal sein, "Nachschlagewerk, historisches Lesebuch und gründliche literaturwissenschaftliche Einführung". Es ist schwer, so hohe Erwartungen nicht zu enttäuschen. Vielleicht werden sich "Leserinnen und Leser" wohler fühlen, wenn sie das Buch als Sammlung von zweiundvierzig Referaten zu einem virtuellen Seminar über Schlüsselwörter der höfischen Dichtung lesen.

Der Herausgeber hat dafür zehn Kollegen gewonnen und die gute Hälfte der Artikel selber beigesteuert. Sie sind alphabetisch gereiht, führen oft treffende, manchmal auch nur schicke Kurztitel mit sich ("Minne: das Fluidum zur Interaktion"), geben etwas widerwillig ihre Etymologie preis und entwickeln dann ",Sinn' und ,Bedeutung'". Sie sind meist angenehm zu lesen, wenn man von den vielen Klammern, ein paar gestelzten Pseudofachwörtern und einer durch tausend kleine Pfeile verfilzten "Vernetzung" einmal absieht. In den meisten Fällen enthalten sie eine sorgfältige Aufarbeitung des Forschungsstandes und trotz gewollter Beschränkung ausgezeichnete bibliographische Hinweise.

Die Schlüsselwörter sind solche, "die in den Dichtungen der Zeit um 1200 in besonderer Weise mit den Wertvorstellungen des Adels verbunden waren, . . . deren Semantik die ,höfische' (,kuriale') Lebensform in signifikanter Weise mittrug". Jede einzelne der "kleinen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Skizzen" sollte also die soziologische Realität, die literarische Fiktion und eine dazwischen vermittelnde Sprache zur Deckung bringen. Daß dies so selten gelingt (am ehsten noch bei "êre" und "diet"), liegt an einer für interdisziplinäre Ansätze typischen methodologischen Unentschiedenheit. Sie betrifft zuerst das Verhältnis von gesellschaftlicher Realität und Literatur, alsdann das von Textinterpretation und Linguistik.

Wo die gesellschaftliche Realität die Oberhand behält, also bei Realien wie Kleidung, Speise und Turnier, wird man die "konzise Information" begrüßen. Das gilt auch noch für Artikel, die institutionelle oder juristische Verhältnisse betreffen, wie "Recht und Schutz" ("vride"). Bei einigen höfischen Wörtern wie "âventiure" tritt dagegen die Literatur in den Vordergrund, da sie offensichtlich entschieden besser in literarischer Nährlösung als auf dem Boden der Wirklichkeit gedeihen.

Schwierig wird es bei solchen Wörtern, die in der gesellschaftlichen Realität fest verankert sind, aber in der Dichtung unter starken poetischen Druck geraten, zum Beispiel "dienest", "edel" und "hövesch". Der reale "Adel des Regnum Teutonicum" (um 1200) steht dahinter, aber schon im Vorwort hat der Herausgeber eine wichtige Unterscheidung getroffen: "Höfisches Leben" heißt nicht einfach Hofleben, sondern "bezieht sich vorzugsweise auf die prunkvolle Entfaltung des Hofes in arbeitsenthobener Situation", eine zeitlose soziologische Kategorie. In den Wortgeschichten begegnet uns dieses Phänomen aber nur, "soweit es sich in der Dichtung spiegelt", wie die Verlagsankündigung es formuliert. Eignet sich die Dichtung zu solchem Zweck? Ein Autor bemerkt etwa, daß Gottfried von Straßburg das Wort "hövesch" "inflationär" einsetzt. Was wird damit gespiegelt? Wirklich die "Kurialität" in Gestalt der "höfischen Ästhetik"? Wer die Dichtung als Spiegel benutzt, wird in jedem Bild ein Abbild sehen und nicht wahrnehmen, daß sie auch selber etwas produziert, hier also gewiß nicht den "Roman der höfischen Ästhetik", sondern allenfalls den Roman von deren Aufhebung, also vielleicht den Roman der Ästhetisierung des Höfischen.

Eine unbefestigte Grenze verläuft aber nicht nur zwischen gesellschaftlicher Realität und Literatur, sondern auch zwischen Interpretation und Linguistik: Französische Fremdwörter sind zum Beispiel eine besondere Zierde der deutschen "Kurialität": "Wenn die Worte, mit denen Herzeloyde ihren Sohn Parzival liebkost: ,bon fîz', ,cher fîz', ,bêâ fîz' der Wirklichkeit abgeschaut sind", schreibt Ehrismann, "dann gehörte das ,strîfeln' (Sprachmischen) zum Erziehungsprogramm des Adels, zur Intensivierung seiner eigenen Identität." Letzteres sei dahingestellt, aber Herzeloyde ist Französin, und Wolfram fand in seiner Vorlage bei Chrétien de Troyes nicht nur, daß sie "biax fix, biax fix plus de cent fois" (mehr als hundertmal) gesagt habe, sondern daß sie es dann auch noch ein dutzendmal wirklich sagt. Als Zeugin fürs "strîfeln" ist Herzeloyde methodologisch überfordert.

Die Unentschiedenheit zwischen literarischer Interpretation und semantischer Analyse ist auch dafür verantwortlich, daß der lange und gut dokumentierte Artikel über "vrouwe" und "wîp" so schwer verdaulich geraten ist: Das Vexierspiel der Dichter mit diesen Wörtern ist eben nicht zwischen Semantik und Pragmatik angesiedelt, sondern zwischen Sprache und Poesie. Man wird immer wieder zum illegalen Grenzübertritt verführt, nämlich den poetischen Gebrauch eines Wortes für Pragmatik zu halten und daraus auf den Inhalt zu schließen, "denn Semantik ist nur die Kehrseite der Pragmatik", und "der Inhalt ,ist' die breite Palette der möglichen Gebrauchsweisen eines Wortes". Was die Poeten betreiben, ist aber keine semantische Feinanalyse und keine pragmatische Grenzbegehung, sondern produktive poetische Sinnsuche.

Franz Saran wollte ihr mit einem einfachen Rezept gerecht werden: "Man wähle beim Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen andere Wörter als die, welche im Schriftsteller stehen." Daß dies nicht mehr genügt, erweisen die "Wortgeschichten" auf vielfältige Art und tragen damit wohl auch zu einem "semantischen Problembewußtsein" bei, wenn ihr eigenes Methodenbewußtsein auch zu wünschen übrigläßt. HANS-HERBERT RÄKEL

Otfrid Ehrismann: "Ehre und Mut, Aventiure und Minne". Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. Verlag C. H. Beck, München 1995. 275 S., br., 49,80 DM.

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