Ehrensache ist ein Zeugnis gegen den Hass, ein einzigartiger Lebensbericht und der dringend nötige Vorstoß an einen neuralgischen Punkt der deutschen Öffentlichkeit.
Ein junger Muslim und sein Kampf gegen Antisemitismus unter Glaubensbrüdern
Burak Yilmaz ist Teenager, als er auf die Innenseite seines Kleiderschranks ein Bild der brennenden Zwillingstürme in New York klebt. "Als Beweis, dass wir Muslime Amerika verwunden können", schreibt er in seiner Erinnerung an die Zeit. Es ist das Jahr 2002, die Anschläge haben auch das Leben des türkischstämmigen Jugendlichen verändert, der im Duisburger Norden aufwächst.
Als Yilmaz einmal seine Großmutter zum Einkaufen begleitet, wird die Frau auf der Straße gefragt, ob sie eine Bombe unter ihrem Kopftuch trage. Beschimpfungen wie "Terrorist" oder "Moslemfratze" werden in dieser Zeit alltäglich. Ein Freund behauptet, nicht Muslime hätten den Anschlag geplant, sondern Juden, eine gängige Verschwörungserzählung. Das überzeugt Yilmaz schon damals nicht, aber er wird zunehmend amerikakritisch, beschäftigt sich mit der Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Dann entdeckt sein Vater das Bild des Terroranschlags im Kinderzimmer und verpasst ihm eine Abreibung. "Findest du das gut, wenn unschuldige Menschen sterben?", fragt er. "Steht im Koran, dass wir die USA zerstören sollen?" Yilmaz beginnt, mit seinen Eltern mehr über das Verhältnis zur Religion, über eigene Ausgrenzungserfahrungen zu sprechen.
In "Ehrensache: Kampf gegen Judenhass" erzählt er seine Geschichte, den Weg vom Einwandererkind mit schlechten Startbedingungen hin zum Pädagogen, der für sein Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wird. Es ist die Geschichte von einem, der zwischen Welten wandelt: Erst soll er trotz guter Noten auf die Hauptschule kommen, landet dann aber dank des Einsatzes seiner Mutter auf einem katholischen Gymnasium und geht am Wochenende zur Koranschule, um seinen Glauben nicht zu vernachlässigen. Wenn Yilmaz etwa beschreibt, wie er einerseits unter der emotionalen Brutalität des Imams leidet, zugleich aber von Mitschülern wegen seines Glaubens angegangen wird und im katholischen Gottesdienst anfangs aus Angst vor der fremden Religion für sich Koransuren spricht, spürt man die Zerrissenheit. Seine Geschichte ähnelt der vieler Jugendlicher, mit denen er später arbeitet. Immer wieder wird Yilmaz über die Jahre auch für seine Jugendarbeit als "Verräter" beschimpft. Ein Gefühl, das ihn begleitet.
Als zentrales Erlebnis schildert er einen Nachmittag in einem Duisburger Jugendheim, Yilmaz arbeitet dort während seines Lehramtsstudiums als Betreuer. Ein paar Jugendliche, die zuvor auf einer Anti-Israel-Demo waren, kommen hereingestürmt und zeigen den Hitlergruß. Als er sie wütend rauswirft, ruft ihm einer der Jungen zu: "Wir sind Antisemiten. Daran kannst du nichts ändern." Es wird für Yilmaz ein zentraler Moment. Denn Monate später beginnt er mit diesen und einigen anderen Jugendlichen das Gespräch über Judenhass und Erinnerungskultur, das, was er bis heute als Pädagoge macht. Schnell landen sie beim Nahostkonflikt, bei eigenen Ausgrenzungserfahrungen, der Distanz zu Deutschland. Probleme legen sich übereinander, erscheinen beinahe unlösbar. Dass Yilmaz auf schnelle Erklärmuster verzichtet, nicht vorverurteilt oder in Schutz nimmt, macht seine Schilderung lesenswert.
Als ein paar Jugendliche ihm berichten, dass sie als muslimische Schüler von einer Bildungsreise nach Auschwitz ausgeschlossen wurden, will Yilmaz das zunächst nicht glauben. Die Lehrer fürchten offenbar antisemitisches Verhalten, stellt sich heraus. Yilmaz hat die Idee, mit ihnen dort hinzufahren. Manche Eltern wollen ihre Kinder nicht mitfahren lassen, vermuten eine Verschwörung. Yilmaz selbst wird von einem Vater bedroht. Letztlich kommen alle mit, der Besuch des Lagers findet statt.
Die jungen Muslime sind ebenso erschüttert wie die meisten Menschen, die nach Auschwitz kommen, benehmen sich keineswegs daneben. Spontan sprechen zwei von ihnen Israelis, denen sie in der Gedenkstätte begegnen, ihr Mitgefühl aus. Manche der Teilnehmer fühlen sich komisch, schämen sich dafür, "irgendwie deutsch" zu sein. Abends sprechen sie über den Tag, sie merken, wie Yilmaz schreibt: "Ausgerechnet in Auschwitz werden wir plötzlich als Deutsche wahrgenommen." Einer der Teilnehmer bereut zeitweise, dass er mitgekommen ist, als er die Besucher mit Israel-Flaggen über den Schultern sieht. Es habe sich wie Verrat an seiner Familie angefühlt, die aus den Palästinensergebieten kommt und viel Leid durch Krieg und Flucht erfahren habe. Trotzdem gesteht er später ein, auch das Leid der Juden verstehen zu können. Empathie zu entwickeln, Hass zu überwinden, das werden Yilmaz' Ziele. Auch wenn er sich Jahre später bei den Anschlägen auf Halle und Hanau fragt, wie viel das bringen kann, macht er weiter mit den Auschwitz-Besuchen, entwickelt theaterpädagogische Konzepte für Schulen.
Sein Erfolg dürfte auch damit zu tun haben, dass er den Jugendlichen auf Augenhöhe begegnet, ganz ohne "Pädagogen-Gelabere", wie er schreibt. Ähnlich geradlinig ist sein Buch. Zwar macht er zum Schluss eine Reihe von Vorschlägen im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus, vor allem aber gibt er einen tiefen, unverstellten Einblick in seine praktische Arbeit. Eine wichtige Bereicherung für die Erinnerungskultur. TIMO STEPPAT
Burak Yilmaz: Ehrensache. Kämpfen gegen Judenhass.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 229 S., 16,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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