Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Feind gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück - "heuchlerisch" nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. In seiner Autobiografie erinnert er sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten. War die Zustimmung zum Euro tatsächlich der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie manche behaupten? Waigel schreibt sein politisches Vermächtnis und stellt sich den wichtigen Fragen der Gegenwart: Wohin führt der Weg der CSU? Und hat die europäische Idee noch eine Chance?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.2019In positivem Geist
Der ehemalige CSU-Vorsitzende und Finanzminister Waigel beschreibt sein politisches Leben
Der frühere CSU-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Theo Waigel hat unter dem Titel "Ehrlichkeit ist eine Währung" seine Erinnerungen vorgelegt. Wer ein so unwahrscheinliches Leben hatte wie er - vom Bauernbuben aus einem schwäbischen Dorf zu einem der prägenden deutschen Politiker der Nachkriegszeit -, dessen Autobiographie kann eigentlich gar nicht langweilig sein. Ist sie auch nicht. Die Leser werden vielmehr Zeugen der Weltgeschichte: als Waigel 1990 mit dem stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden der Sowjetunion, Stepan Sitarjan, um den Preis der deutschen Einheit feilscht; als er mit Helmut Kohl und Boris Jelzin beim Angeln die deutsch-russischen Beziehungen festigt; als er 1995 auf dem europäischen Gipfel in Madrid seine Idee für die Bezeichnung der geplanten Gemeinschaftswährung präsentiert: Euro.
Waigel ist ein guter Erzähler, der nicht zuletzt die Pointen der Wirklichkeit erkennt und wiederzugeben weiß; nach seinen Angaben hat er das Material für das Buch diktiert, eine Mitarbeiterin seines Büros hat es in Schriftform gebracht. Er hat aber auch einen Sinn fürs Tragische und Tieftraurige. Der eindrücklichste Teil des Buches ist der Anfang, wenn Waigel, Jahrgang 1939, von seiner schweren Kindheit erzählt, vor allem vom bitteren Verlust des Bruders, der 1944 in Lothringen fiel. Dass das die Urerfahrung war, aus der sich alles weitere, zumal die entschieden europafreundliche Politik ergab, kann man anhand des Buches sofort nachvollziehen.
Ausführlich dokumentiert Waigel die Feldpostbriefe, die sein Bruder von der Front nach Hause geschickt hat. Das ist berührend. Freilich lässt das Unverstellte von deren Sprache Waigels eigene Sprache manchmal etwas getragen erscheinen. Er selbst und andere sind im Buch häufig "tief bewegt", "zutiefst bewegt", "zutiefst aufgewühlt", "empört", "bestürzt". Nichts gegen große Gefühle. Aber es hätte den Geschehnissen nichts von ihrer Eindringlichkeit genommen, hätte der Autor sie öfter einfach für sich wirken lassen.
Angenehm am Buch ist, dass Waigel sich eine Hochschätzung des Lebensumfelds, aus dem er stammt, bewahrt hat. Seine Bodenständigkeit ist dabei nicht frei von Koketterie. Im Zusammenhang mit der Frage, wer 1993 bayrischer Ministerpräsident werden sollte, verweist er auf seine "aus der schwäbischen Mentalität geborene Auffassung, das Amt müsse zum Mann kommen und nicht der Mann zum Amt". Das kann man bescheiden nennen, aber eben auch - wie seinerzeit der "Spiegel" - "ehrpusselig". Waigel hat einen guten Humor und ein Talent zur Selbstironie - manchmal nimmt er sich aber auch ziemlich ernst. Vielfach erwähnt er Philosophen und Dichter, von deren Werken er seine Politik inspiriert sieht oder mit denen er persönlichen Umgang pflegte. Es ist durchaus wohltuend zu sehen, dass es mal Politiker gab, die auch in der Literatur zu Hause waren. Waigel aber übertreibt es ein wenig: Um Heimat als "Eingebundenheit in Sein und Zeit" zu beschreiben, muss man nicht unbedingt Heidegger bemühen.
Das Schönste am Buch ist sein positiver, konstruktiver Geist. "Die Welt im Umbruch, das ist nichts Neues. Aber viele Menschen bejammern unsere Gegenwart, und dann muss es erlaubt sein zu fragen, ob die Zeit vor 30, 40 oder 50 Jahren besser gewesen sei." Es gehe darum, schreibt Waigel, "die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und den Menschen Identität und Stabilität zu geben. Das gelingt, indem man aufzeigt, was gut ist. Der Angst vor der Zukunft etwas entgegensetzt." Da urteilt jemand, von dem man sich auch heute noch gerne regieren lassen würde.
Das größte Problem des Buches ist die Flagge, unter der es segelt: Ehrlichkeit. Waigel schreibt am Schluss, er habe "nicht nur Erfolge und Verdienste aufgezählt, sondern auch manchen Irrtum, manchen Fehler, ehrlich und offen dargelegt". Verbiegen sei noch nie seine Sache gewesen. Sein Leben gibt tatsächlich wenig Anlass, daran zu zweifeln. Wer aber die Latte so hoch legt, der kann, auch wenn er dann noch so ehrlich ist, nur darunter durchtauchen.
Es stimmt: Waigel gesteht Irrtümer und Unzulänglichkeiten ein, aber sie sind doch oft lässlicher Art - und lassen ihn unterm Strich dann doch gut aussehen. Den Wildwuchs seiner Augenbrauen führt er zum Beispiel als Beleg dafür an, dass er zu dem steht, was er ist. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das in dem Fall nicht schwerfallen dürfte: Die Augenbrauen sind schließlich Waigels Markenzeichen.
In vielen seiner Anekdoten ist er der Mutige, der Widerspruch gewagt, das "große Ganze im Blick" gehabt und dem die Geschichte recht gegeben hat. Das ist so mit dem Trennungsbeschluss von Kreuth 1976, als sich die CSU gegen seinen Widerstand aus der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU lösen wollte; Waigel verfügt über das einzige Protokoll aus jenen Tagen. Das ist auch so mit der deutschen Einheit. Da schreibt Waigel zwar: "Der Ehrlichkeit halber möchte ich nicht verschweigen, dass die Entwicklung im damaligen Beitrittsgebiet deutlich hinter unseren Erwartungen zurückblieb." Ein paar Sätze später fügt er aber gleich an, dass zwischen 1989 und 1998, also in seiner Amtszeit, "die Weichen richtig gestellt" worden seien.
Auch im Zusammenhang mit dem Machtkampf um das Amt des Ministerpräsidenten gesteht Waigel einen Fehler zu: dass er die Trennung von seiner ersten Frau und seine neue Beziehung, die gegen ihn in Stellung gebracht wurden, nicht früher öffentlich gemacht habe. Aber auch in dieser Episode ist nicht er der Böse, sondern die Heckenschützen in der CSU, die nicht nur seiner Ansicht nach zumindest mit Kenntnis seines ewigen Widersachers Edmund Stoiber gehandelt haben. Letzteres zu erwähnen, hält Waigel ebenfalls für ein Gebot der Ehrlichkeit. Das kann man so sehen. Dann jedoch hätte er den Leser über andere wichtige Aspekte der damaligen Zeit nicht im Unklaren lassen dürfen: über seine Chancen auf das Ministerpräsidentenamt und seine Ambitionen. Da mäandert er allerdings.
Erinnerungen sind der Definition nach selektiv. In den sozialen Netzwerken ist es heute gerade unter Journalisten üblich, sich für jeden Käse selbst zu loben und das Lob anderer zu heischen. Wer wollte da einen Staatsmann, der während seiner Amtszeit auch viel ungerechte Kritik einstecken musste, dafür kritisieren, dass er sein Lebenswerk in positivem Licht erscheinen lässt - ein Lebenswerk zumal, um das er angesichts der gegenwärtigen europäischen Verwerfungen bangen muss? Trotzdem: Die Ehrlichkeit in diesem insgesamt sehr lesenswerten Buch ist eine entbehrliche Pose. Waigel ist groß genug. Er hat es gar nicht nötig, sich dadurch noch größer zu machen.
TIMO FRASCH
Theo Waigel: Ehrlichkeit ist eine Währung. Erinnerungen.
Econ Verlag, Berlin 2019. 352 S., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der ehemalige CSU-Vorsitzende und Finanzminister Waigel beschreibt sein politisches Leben
Der frühere CSU-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Theo Waigel hat unter dem Titel "Ehrlichkeit ist eine Währung" seine Erinnerungen vorgelegt. Wer ein so unwahrscheinliches Leben hatte wie er - vom Bauernbuben aus einem schwäbischen Dorf zu einem der prägenden deutschen Politiker der Nachkriegszeit -, dessen Autobiographie kann eigentlich gar nicht langweilig sein. Ist sie auch nicht. Die Leser werden vielmehr Zeugen der Weltgeschichte: als Waigel 1990 mit dem stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden der Sowjetunion, Stepan Sitarjan, um den Preis der deutschen Einheit feilscht; als er mit Helmut Kohl und Boris Jelzin beim Angeln die deutsch-russischen Beziehungen festigt; als er 1995 auf dem europäischen Gipfel in Madrid seine Idee für die Bezeichnung der geplanten Gemeinschaftswährung präsentiert: Euro.
Waigel ist ein guter Erzähler, der nicht zuletzt die Pointen der Wirklichkeit erkennt und wiederzugeben weiß; nach seinen Angaben hat er das Material für das Buch diktiert, eine Mitarbeiterin seines Büros hat es in Schriftform gebracht. Er hat aber auch einen Sinn fürs Tragische und Tieftraurige. Der eindrücklichste Teil des Buches ist der Anfang, wenn Waigel, Jahrgang 1939, von seiner schweren Kindheit erzählt, vor allem vom bitteren Verlust des Bruders, der 1944 in Lothringen fiel. Dass das die Urerfahrung war, aus der sich alles weitere, zumal die entschieden europafreundliche Politik ergab, kann man anhand des Buches sofort nachvollziehen.
Ausführlich dokumentiert Waigel die Feldpostbriefe, die sein Bruder von der Front nach Hause geschickt hat. Das ist berührend. Freilich lässt das Unverstellte von deren Sprache Waigels eigene Sprache manchmal etwas getragen erscheinen. Er selbst und andere sind im Buch häufig "tief bewegt", "zutiefst bewegt", "zutiefst aufgewühlt", "empört", "bestürzt". Nichts gegen große Gefühle. Aber es hätte den Geschehnissen nichts von ihrer Eindringlichkeit genommen, hätte der Autor sie öfter einfach für sich wirken lassen.
Angenehm am Buch ist, dass Waigel sich eine Hochschätzung des Lebensumfelds, aus dem er stammt, bewahrt hat. Seine Bodenständigkeit ist dabei nicht frei von Koketterie. Im Zusammenhang mit der Frage, wer 1993 bayrischer Ministerpräsident werden sollte, verweist er auf seine "aus der schwäbischen Mentalität geborene Auffassung, das Amt müsse zum Mann kommen und nicht der Mann zum Amt". Das kann man bescheiden nennen, aber eben auch - wie seinerzeit der "Spiegel" - "ehrpusselig". Waigel hat einen guten Humor und ein Talent zur Selbstironie - manchmal nimmt er sich aber auch ziemlich ernst. Vielfach erwähnt er Philosophen und Dichter, von deren Werken er seine Politik inspiriert sieht oder mit denen er persönlichen Umgang pflegte. Es ist durchaus wohltuend zu sehen, dass es mal Politiker gab, die auch in der Literatur zu Hause waren. Waigel aber übertreibt es ein wenig: Um Heimat als "Eingebundenheit in Sein und Zeit" zu beschreiben, muss man nicht unbedingt Heidegger bemühen.
Das Schönste am Buch ist sein positiver, konstruktiver Geist. "Die Welt im Umbruch, das ist nichts Neues. Aber viele Menschen bejammern unsere Gegenwart, und dann muss es erlaubt sein zu fragen, ob die Zeit vor 30, 40 oder 50 Jahren besser gewesen sei." Es gehe darum, schreibt Waigel, "die Zeichen der Zeit richtig zu deuten und den Menschen Identität und Stabilität zu geben. Das gelingt, indem man aufzeigt, was gut ist. Der Angst vor der Zukunft etwas entgegensetzt." Da urteilt jemand, von dem man sich auch heute noch gerne regieren lassen würde.
Das größte Problem des Buches ist die Flagge, unter der es segelt: Ehrlichkeit. Waigel schreibt am Schluss, er habe "nicht nur Erfolge und Verdienste aufgezählt, sondern auch manchen Irrtum, manchen Fehler, ehrlich und offen dargelegt". Verbiegen sei noch nie seine Sache gewesen. Sein Leben gibt tatsächlich wenig Anlass, daran zu zweifeln. Wer aber die Latte so hoch legt, der kann, auch wenn er dann noch so ehrlich ist, nur darunter durchtauchen.
Es stimmt: Waigel gesteht Irrtümer und Unzulänglichkeiten ein, aber sie sind doch oft lässlicher Art - und lassen ihn unterm Strich dann doch gut aussehen. Den Wildwuchs seiner Augenbrauen führt er zum Beispiel als Beleg dafür an, dass er zu dem steht, was er ist. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das in dem Fall nicht schwerfallen dürfte: Die Augenbrauen sind schließlich Waigels Markenzeichen.
In vielen seiner Anekdoten ist er der Mutige, der Widerspruch gewagt, das "große Ganze im Blick" gehabt und dem die Geschichte recht gegeben hat. Das ist so mit dem Trennungsbeschluss von Kreuth 1976, als sich die CSU gegen seinen Widerstand aus der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU lösen wollte; Waigel verfügt über das einzige Protokoll aus jenen Tagen. Das ist auch so mit der deutschen Einheit. Da schreibt Waigel zwar: "Der Ehrlichkeit halber möchte ich nicht verschweigen, dass die Entwicklung im damaligen Beitrittsgebiet deutlich hinter unseren Erwartungen zurückblieb." Ein paar Sätze später fügt er aber gleich an, dass zwischen 1989 und 1998, also in seiner Amtszeit, "die Weichen richtig gestellt" worden seien.
Auch im Zusammenhang mit dem Machtkampf um das Amt des Ministerpräsidenten gesteht Waigel einen Fehler zu: dass er die Trennung von seiner ersten Frau und seine neue Beziehung, die gegen ihn in Stellung gebracht wurden, nicht früher öffentlich gemacht habe. Aber auch in dieser Episode ist nicht er der Böse, sondern die Heckenschützen in der CSU, die nicht nur seiner Ansicht nach zumindest mit Kenntnis seines ewigen Widersachers Edmund Stoiber gehandelt haben. Letzteres zu erwähnen, hält Waigel ebenfalls für ein Gebot der Ehrlichkeit. Das kann man so sehen. Dann jedoch hätte er den Leser über andere wichtige Aspekte der damaligen Zeit nicht im Unklaren lassen dürfen: über seine Chancen auf das Ministerpräsidentenamt und seine Ambitionen. Da mäandert er allerdings.
Erinnerungen sind der Definition nach selektiv. In den sozialen Netzwerken ist es heute gerade unter Journalisten üblich, sich für jeden Käse selbst zu loben und das Lob anderer zu heischen. Wer wollte da einen Staatsmann, der während seiner Amtszeit auch viel ungerechte Kritik einstecken musste, dafür kritisieren, dass er sein Lebenswerk in positivem Licht erscheinen lässt - ein Lebenswerk zumal, um das er angesichts der gegenwärtigen europäischen Verwerfungen bangen muss? Trotzdem: Die Ehrlichkeit in diesem insgesamt sehr lesenswerten Buch ist eine entbehrliche Pose. Waigel ist groß genug. Er hat es gar nicht nötig, sich dadurch noch größer zu machen.
TIMO FRASCH
Theo Waigel: Ehrlichkeit ist eine Währung. Erinnerungen.
Econ Verlag, Berlin 2019. 352 S., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Timo Frasch könnte auf die große Geste der Ehrlichkeit und so manches ausgeprochene Gefühl verzichten in Theo Waigels Lebenserinnerungen. Der Mann, findet er, ist groß genug, und der Leser kann durchaus selber fühlen. Waigels Stil, sein Humor und seine Selbstironie findet Frasch hingegen geradezu bezaubernd. Ob der Autor aus den Feldpostbriefen seines Bruders diktiert, von seiner Kindheit oder vom Angeln mit Jelzin und Kohl berichtet, Frasch langweilt sich nie. Vor allem der positive Geist des Buches lässt Frasch wehmütig an Politiker von Format (und mit solchen Brauen) zurückdenken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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