Sie findet einen Briefumschlag auf dem Schreibtisch ihres Mannes und darin ein eindeutiges Foto einer nackten Schwangeren. Ihr Leben ändert sich schlagartig. Sie erlebt etwas, von dem sie dachte, es könne nur die anderen betreffen. Ihre Eifersucht wird umso qualvoller, je mehr sie in Erfahrung bringt, und schließlich stürzt sie in eine tiefe Krise, deren einziger Ausweg die Erkundung des eigenen Ich wird. Die minutiöse Darstellung des Seelenlebens einer betrogenen Frau und zugleich eine zutiefst bewegende Liebesgeschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2010Hohe Schule der Distanz
Die condition féminine am Ende der Illusion: Catherine Millets kühles und kühnes Geständnisbuch zeigt, was geschieht, wenn Theorie und Praxis in der Katastrophe kollabieren.
Von Rose-Maria Gropp
Es sind die zwei Seiten einer Medaille. Im Jahr 2001 hat die französische Kunsthistorikerin Catherine Millet einen Text veröffentlicht, der "Das sexuelle Leben der Catherine M." heißt. Als aller Tabus entkleidete Schilderung multipler Sexualitäten und hemmungsloser Praktiken einer Frau, die aus der Ich-Perspektive schreibt, ist das Buch bis heute einzigartig. Es ist keine Autobiographie, höchstens ein biographischer Auf- und Ausriss. Es ist keine Pornographie, weil seine kalte Sprache, die wie ein starker Scheinwerfer die körperlichen Gemengelagen an den Rändern der Stadt, der Gesellschaft, der guten Sitten ohnehin ausleuchtet, lüsterne Lektüre unterbindet. Sein langer Schreibstrom ist eine Zumutung. Dass es zum internationalen Bestseller wurde und angeblich Millionenauflagen erzielte, ist eines jener Missverständnisse, die eigentlich witzig sind.
Aber diese "Vie sexuelle" war ein wichtiges Buch. Dort exerziert eine scharfsinnige Frau im Alter von dreiundfünfzig Jahren - ein praktizierendes Mitglied der Pariser Intelligenzija und Herausgeberin, damals wie heute, des Magazins "Art Press" - die sprachliche Vivisektion des Sexus am eigenen Körper. Freilich war auch vor knapp einem Jahrzehnt klar erkennbar, wes Geistes Kind dieser Selbstversuch ist, welche bittere Ironie da waltet: Unternimmt Millet doch die extrem mögliche Probe auf das Exempel, welche Auswirkungen der unbedingte Wille zum Wissen haben konnte. Ihr Text bildet gewissermaßen die Klimax von Michel Foucaults - schon 2001 gut eine Generation alter - Erkenntnis ab, dass es der schärfste Irrtum sei, das Reden über Sexualität für eine Befreiung zu halten.
So viel (und noch viel mehr) Theorie kannte Millet natürlich, als sie ihr Skandalbuch schrieb. Deshalb ist "Das sexuelle Leben der Catherine M." auch keine Beichte, kein persönliches Geständnis, sondern eine kalkulierte, im Wortsinn Unverschämtheit. Mehr noch: Millet beharrt überdies darauf, dass sie sich ihre allfällige Orgien-Empirie in den siebziger und achtziger Jahren aus einer "verspielten" Haltung heraus erarbeitete. Sie gibt die Libertinage als ihr Bedürfnis aus und identifiziert sie im selben Zug als ein Spiel mit strengen Regeln. Im Abstand von zwei Jahrzehnten wollte sie sich partout als das Mädchen, das sich im zerrütteten kleinbürgerlichen Elternhaus auf die Position der traumversponnenen Onanistin zurückgezogen hatte, schildern, als die junge Frau aus der Provinz, der es gelang, ins Zentrum des promisken Geschehens vorzustoßen.
Im Vorwort zu "Das sexuelle Leben" steht die Absicht glasklar: "Mich erstaunen jene Menschen, die über die ,Distanz' staunen, mit der ich meinen Bericht geschrieben habe. Kann ein denkender Mensch mit sich selbst eine andere Beziehung haben, als sich im Spiegel zu sehen? Da es sich um Sex dreht, hätte man eher erwartet, dass sich mein Bewusstsein ausschaltet wie in Ekstase? Aber würde man nicht die Empathie des Lesers heraufbeschwören, indem man zugesteht, dass man unter solchen Umständen schreiben kann? Im Übrigen ging es bei diesem Projekt nur darum, eine singuläre Sexualität darzustellen, die Sexualität der Catherine M."
Genau hier setzt ihr neues Buch ein. Es ist ein großartiges Werk, viel stärker und wahrhaftiger als das vorige. Denn Millet radikalisiert in "Eifersucht" ihre Subjektivität bis zur Schmerzgrenze. Doch wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass sie dabei ihre Distanz verringert. Ihre Sprache ist in der Beschreibung der terroristischen Emotion und deren Verheerungen womöglich noch klarer, fast wie ein Skalpell des Wahns. Das französische Original schließt mit "Jour de souffrance" (Tag des Leidens) nicht an den reißerischen Vorgängertitel an, was der deutsche Titel mit "Eifersucht" schwach versucht. Was also geschieht?
Catherine Millet findet Fotos einer Geliebten ihres Mannes, Notizen von ihm dazu, die dieser vielleicht nicht nur vor ihr nicht verborgen hat, sondern vielmehr bewusst herumliegen ließ. Referenzpunkt ist da Poes berühmte Geschichte "Der entwendete Brief", in der sich die Offensichtlichkeit zunächst als sicherstes Versteck erweist. Die fatale Entdeckung zwingt Millet in die Bahn eines zynischen Paradoxes: Sie wird die "Detektivin", heimliche Wühlerin, Flehende und Inquisitorin ihres Mannes. Furchtbar verletzt, stürzt sie in zwanghafte Phantasien von immer mehr jungen Frauen, die ihr Mann, mit dem sie seit dreißig Jahren zusammen ist, an ihr vertraute Orte mitgenommen hat. Sie wird zur "Höhlenforscherin", legt ein inneres Archiv der Grausamkeiten an. Ihre Körpergrenze, ihr Territorium überhaupt, ist aufs Äußerste bedroht; sie flüchtet in groteske Selbstbefriedigungsrituale.
Manchmal kommt sie sich vor, als spiele sie schäbigen Boulevard, wo der eine immer zur einen Tür hereinkommt, wenn der andere den Raum gerade durch die andere Tür verlässt; dann wieder überfällt sie schlimme Paranoia. So ist das, ließe sich resümieren, wenn Theorie und Praxis in der Katastrophe kollabieren. Aber Millet destilliert daraus die atemraubende Schilderung einer jahrelangen Tunnelfahrt durch ihre "Krise" (ein Begriff, über den sie sich eigentlich mokiert). Während die Sexualität ihrer Kontrolle unterstellt und ihr äußerlich war, ist die Eifersucht ihrem rationalen Bewusstsein entzogen, sie entspringt der dunklen Welt des Triebs. Und "Trieb" ist auch das zentrale Kapitel überschrieben. Es handelt vom vorübergehend grundstürzenden Verlust der Identität, aber es enthält zugleich die radikalsten reflektierenden Passagen, Überlegungen zur Kunst vor allem.
Die zwei Seiten einer Medaille also: Es ist durchaus plausibel, dass Millet das "Sexuelle Leben" geschrieben hat, ohne es mit dem Drama, dem Jahre später (das Buch erschien in Frankreich 2008) "Eifersucht" gewidmet ist, zu durchtränken. Es ist ihr schon zu glauben, dass sie diese Sphären trennen musste, auch wenn sie chronologisch ganz eng miteinander verwoben sind. Der blanke Sexus kann nicht neben der entblößten Seele stehen. Millet ist eine Moralistin. Nun ist ihr eine phänomenale Introspektion in die condition féminine am Ende der Illusion gelungen, rückhaltlos und analytisch, hysterisch bisweilen, also hellsichtig genug. Ohne jeden Revisinismus ist es implizit auch ein Nachruf ohne Sentimentalität und Reue auf die - wenn nicht verfehlte, dann doch fragwürdige - Existenz à la theorie. Weshalb die, nur anscheinend naheliegende, Frage obsolet ist, wie ausgerechnet Millet, die begabte Polygame, dazu kommen konnte, von der Eifersucht befallen zu werden.
Catherine Millet, die am 1. April zweiundsechzig Jahre alt wird, hat überhaupt nichts Neues erkannt. Was sie als masochistische, bis an die Grenze der Lust reichende Erfahrung beschreibt, ist doch die uralte Spruchweisheit: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Das haben schon unsere Großmütter gewusst, ohne sich für dieses Märchenwissen Hundertschaften fremder Männer hingegeben zu haben. Aber so über ihre Eifersucht geschrieben wie Catherine Millet hat noch keine Frau bisher. Dazu gehört wirklich Mut. Und darin liegt auch die Größe ihres Buches.
Catherine Millet: "Eifersucht". Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Hanser Verlag, München 2010. 218 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die condition féminine am Ende der Illusion: Catherine Millets kühles und kühnes Geständnisbuch zeigt, was geschieht, wenn Theorie und Praxis in der Katastrophe kollabieren.
Von Rose-Maria Gropp
Es sind die zwei Seiten einer Medaille. Im Jahr 2001 hat die französische Kunsthistorikerin Catherine Millet einen Text veröffentlicht, der "Das sexuelle Leben der Catherine M." heißt. Als aller Tabus entkleidete Schilderung multipler Sexualitäten und hemmungsloser Praktiken einer Frau, die aus der Ich-Perspektive schreibt, ist das Buch bis heute einzigartig. Es ist keine Autobiographie, höchstens ein biographischer Auf- und Ausriss. Es ist keine Pornographie, weil seine kalte Sprache, die wie ein starker Scheinwerfer die körperlichen Gemengelagen an den Rändern der Stadt, der Gesellschaft, der guten Sitten ohnehin ausleuchtet, lüsterne Lektüre unterbindet. Sein langer Schreibstrom ist eine Zumutung. Dass es zum internationalen Bestseller wurde und angeblich Millionenauflagen erzielte, ist eines jener Missverständnisse, die eigentlich witzig sind.
Aber diese "Vie sexuelle" war ein wichtiges Buch. Dort exerziert eine scharfsinnige Frau im Alter von dreiundfünfzig Jahren - ein praktizierendes Mitglied der Pariser Intelligenzija und Herausgeberin, damals wie heute, des Magazins "Art Press" - die sprachliche Vivisektion des Sexus am eigenen Körper. Freilich war auch vor knapp einem Jahrzehnt klar erkennbar, wes Geistes Kind dieser Selbstversuch ist, welche bittere Ironie da waltet: Unternimmt Millet doch die extrem mögliche Probe auf das Exempel, welche Auswirkungen der unbedingte Wille zum Wissen haben konnte. Ihr Text bildet gewissermaßen die Klimax von Michel Foucaults - schon 2001 gut eine Generation alter - Erkenntnis ab, dass es der schärfste Irrtum sei, das Reden über Sexualität für eine Befreiung zu halten.
So viel (und noch viel mehr) Theorie kannte Millet natürlich, als sie ihr Skandalbuch schrieb. Deshalb ist "Das sexuelle Leben der Catherine M." auch keine Beichte, kein persönliches Geständnis, sondern eine kalkulierte, im Wortsinn Unverschämtheit. Mehr noch: Millet beharrt überdies darauf, dass sie sich ihre allfällige Orgien-Empirie in den siebziger und achtziger Jahren aus einer "verspielten" Haltung heraus erarbeitete. Sie gibt die Libertinage als ihr Bedürfnis aus und identifiziert sie im selben Zug als ein Spiel mit strengen Regeln. Im Abstand von zwei Jahrzehnten wollte sie sich partout als das Mädchen, das sich im zerrütteten kleinbürgerlichen Elternhaus auf die Position der traumversponnenen Onanistin zurückgezogen hatte, schildern, als die junge Frau aus der Provinz, der es gelang, ins Zentrum des promisken Geschehens vorzustoßen.
Im Vorwort zu "Das sexuelle Leben" steht die Absicht glasklar: "Mich erstaunen jene Menschen, die über die ,Distanz' staunen, mit der ich meinen Bericht geschrieben habe. Kann ein denkender Mensch mit sich selbst eine andere Beziehung haben, als sich im Spiegel zu sehen? Da es sich um Sex dreht, hätte man eher erwartet, dass sich mein Bewusstsein ausschaltet wie in Ekstase? Aber würde man nicht die Empathie des Lesers heraufbeschwören, indem man zugesteht, dass man unter solchen Umständen schreiben kann? Im Übrigen ging es bei diesem Projekt nur darum, eine singuläre Sexualität darzustellen, die Sexualität der Catherine M."
Genau hier setzt ihr neues Buch ein. Es ist ein großartiges Werk, viel stärker und wahrhaftiger als das vorige. Denn Millet radikalisiert in "Eifersucht" ihre Subjektivität bis zur Schmerzgrenze. Doch wäre es ein Irrtum anzunehmen, dass sie dabei ihre Distanz verringert. Ihre Sprache ist in der Beschreibung der terroristischen Emotion und deren Verheerungen womöglich noch klarer, fast wie ein Skalpell des Wahns. Das französische Original schließt mit "Jour de souffrance" (Tag des Leidens) nicht an den reißerischen Vorgängertitel an, was der deutsche Titel mit "Eifersucht" schwach versucht. Was also geschieht?
Catherine Millet findet Fotos einer Geliebten ihres Mannes, Notizen von ihm dazu, die dieser vielleicht nicht nur vor ihr nicht verborgen hat, sondern vielmehr bewusst herumliegen ließ. Referenzpunkt ist da Poes berühmte Geschichte "Der entwendete Brief", in der sich die Offensichtlichkeit zunächst als sicherstes Versteck erweist. Die fatale Entdeckung zwingt Millet in die Bahn eines zynischen Paradoxes: Sie wird die "Detektivin", heimliche Wühlerin, Flehende und Inquisitorin ihres Mannes. Furchtbar verletzt, stürzt sie in zwanghafte Phantasien von immer mehr jungen Frauen, die ihr Mann, mit dem sie seit dreißig Jahren zusammen ist, an ihr vertraute Orte mitgenommen hat. Sie wird zur "Höhlenforscherin", legt ein inneres Archiv der Grausamkeiten an. Ihre Körpergrenze, ihr Territorium überhaupt, ist aufs Äußerste bedroht; sie flüchtet in groteske Selbstbefriedigungsrituale.
Manchmal kommt sie sich vor, als spiele sie schäbigen Boulevard, wo der eine immer zur einen Tür hereinkommt, wenn der andere den Raum gerade durch die andere Tür verlässt; dann wieder überfällt sie schlimme Paranoia. So ist das, ließe sich resümieren, wenn Theorie und Praxis in der Katastrophe kollabieren. Aber Millet destilliert daraus die atemraubende Schilderung einer jahrelangen Tunnelfahrt durch ihre "Krise" (ein Begriff, über den sie sich eigentlich mokiert). Während die Sexualität ihrer Kontrolle unterstellt und ihr äußerlich war, ist die Eifersucht ihrem rationalen Bewusstsein entzogen, sie entspringt der dunklen Welt des Triebs. Und "Trieb" ist auch das zentrale Kapitel überschrieben. Es handelt vom vorübergehend grundstürzenden Verlust der Identität, aber es enthält zugleich die radikalsten reflektierenden Passagen, Überlegungen zur Kunst vor allem.
Die zwei Seiten einer Medaille also: Es ist durchaus plausibel, dass Millet das "Sexuelle Leben" geschrieben hat, ohne es mit dem Drama, dem Jahre später (das Buch erschien in Frankreich 2008) "Eifersucht" gewidmet ist, zu durchtränken. Es ist ihr schon zu glauben, dass sie diese Sphären trennen musste, auch wenn sie chronologisch ganz eng miteinander verwoben sind. Der blanke Sexus kann nicht neben der entblößten Seele stehen. Millet ist eine Moralistin. Nun ist ihr eine phänomenale Introspektion in die condition féminine am Ende der Illusion gelungen, rückhaltlos und analytisch, hysterisch bisweilen, also hellsichtig genug. Ohne jeden Revisinismus ist es implizit auch ein Nachruf ohne Sentimentalität und Reue auf die - wenn nicht verfehlte, dann doch fragwürdige - Existenz à la theorie. Weshalb die, nur anscheinend naheliegende, Frage obsolet ist, wie ausgerechnet Millet, die begabte Polygame, dazu kommen konnte, von der Eifersucht befallen zu werden.
Catherine Millet, die am 1. April zweiundsechzig Jahre alt wird, hat überhaupt nichts Neues erkannt. Was sie als masochistische, bis an die Grenze der Lust reichende Erfahrung beschreibt, ist doch die uralte Spruchweisheit: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Das haben schon unsere Großmütter gewusst, ohne sich für dieses Märchenwissen Hundertschaften fremder Männer hingegeben zu haben. Aber so über ihre Eifersucht geschrieben wie Catherine Millet hat noch keine Frau bisher. Dazu gehört wirklich Mut. Und darin liegt auch die Größe ihres Buches.
Catherine Millet: "Eifersucht". Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Hanser Verlag, München 2010. 218 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2010Die Wiederkehr
der Eifersucht
Nun auch in e-Moll: Das
sexuelle Leben der Catherine M.
Fehlt nun noch die ausgereifte Version. Nach dem vergnügt forschen Bericht über „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ vor neun Jahren bietet Catherine Millet in diesem Buch eine bedrückende Kehrseite zum selben Thema. Eine mit der sexuellen Enthemmung aufgewachsene Frau lernt zu ihrer eigenen Überraschung, dass trotz der großen Freizügigkeit mit ihrem Mann und zahllosen anderen Partnern die Schatten von Selbstzweifeln, Verstoßenheit, Eifersucht auch auf sie fallen können. Sexleben in e-Moll. „Eifersucht“ ist zwar ein zu direktes Wort für den „Jour de souffrance“, den besonderen Lichtfall des Schmerzes im französischen Originaltitel. Dennoch passt es dank der mitausgesprochenen „Sucht“ gut zum Buch.
Die Sache beginnt mit einem Briefumschlag. Briefe liegen auf dem ovalen Wohnzimmertisch der Pariser Wohnung neben Pressemappen, Katalogen, Büchern, Zeitungen so zahlreich wie die außerehelichen Partner im einen oder anderen Bett. Das tagelang verschlossen bleibende Kuvert auf dem Tisch hätte also nicht sonderlich aufzufallen brauchen. Dann fand Catherine M. es aber schließlich auf dem Schreibtisch ihres Mannes Jacques wieder, neben einem offenen Notizheft. Der Briefumschlag enthielt Fotos von einer nackten schwangeren Frau mit gespreizten Beinen vor dem Spiegel, die Aufzeichnungen sprachen vom Reiz dieser Frau. Für Catherine M. begann eine Höllenfahrt des Herumspionierens in Tagebüchern, Briefen, Computerdateien: umso schmerzvoller, als zwischen den Ehepartnern stets Freizügigkeit herrschte und Jacques ihr diese Geschichte auch gar nicht besonders zu verbergen suchte.
Liebe und Sex haben für Catherine nichts miteinander zu tun. Es gibt die Beziehung zu Jacques und den Rest. Im Lauf ihrer zahllosen Erfahrungen hat sie auch gelernt, zwischen ihren zwei Körpern zu unterscheiden. Den einen trägt sie – eher ungeschickt – mit sich herum wie ein Weichtier seine Schale, ohne besonderes Raumgefühl dafür. Der andere ist ihr „Beziehungskörper“, den sie, auch zur eigenen Lust, freizügig und offenbar talentvoll anderen zur Verfügung stellt. Dieser andere Körper steht nun durch die unerwartete Erfahrung der Eifersucht, die es unter den Bedingungen absoluter sexueller Permissivität eigentlich gar nicht geben sollte, plötzlich beziehungslos da – nicht einmal die Beziehung durch Vorwurf und Anklage ist möglich.
So genau hatten wir die Einzelheiten des sexuellen Lebens von Catherine M. ja nie wissen wollen. Wenn dieses wie das frühere Buch dennoch nicht ganz uninteressant ist, dann dank der symptomatischen Genauigkeit in der Selbstbeobachtung. Eine Vertreterin der ersten Generation kollektiver sexueller Befreiung registriert, was passiert, wenn das überwunden Geglaubte in den Freiraum zurückkehrt. Es entsteht eine kalte Einsamkeit, wie sie vielleicht noch keine andere Generation davor gekannt hat. Wenn die Frau in den Sachen ihres Mannes herumschnüffelt, fürchtet sie kein Schuldgefühl – der Gedanke von Einbruch in die Privatsphäre entspricht einem aufgesetzten Über-Ich, an das sie nicht mehr glaubt. Sie fürchtet nur das Leiden, das die Nachforschungen in ihr selbst hervorrufen würden: in einem absolut kurzgeschlossenen Ich, das die Autorin auf der engen Bühne der Masturbation minutiös vorführt.
Das Masturbieren ist Catherine M. seit den frühen Mädchenjahren vertraut. Sie brachte da nach ganz bestimmten Regeln gewisse Phantasien zum Einsatz, deren Figuren mit bekannten Gesichtern nichts zu tun hatten und deren Dramaturgie der Banalität und dem Klischee verpflichtet blieb. Mit der Erfahrung der Eifersucht werden diese Masturbationsphantasien plötzlich konkret. Jacques und dessen wechselnde Partnerinnen haben die Rolle der Protagonisten eingenommen und Catherine M. kommt allenfalls noch als verborgene Beobachterin vor. Fremde Frauen teilen sich die Plätze in Jacques’ Leben auf „wie Schauspielerinnen, die bei der Probe ihre Markierungen auf der Bühne zeichnen“, während ihr eigener Bewegungsraum immer enger wird. Die Autorin beschreibt, wie dieses Jahre dauernde erotische Zwangsprogramm sie auf einsame Gipfel der Selbstbefriedigung führte.
Wo der Bericht aber vom exakt beobachteten Ich zum räsonierenden „Wir“ in der Tradition der wertungsfreien französischen Moralisten wechselt, fällt die Spannung im Buch sofort ab. Catherine Millet hat weder das philosophische Rüstzeug noch die nötige Distanz, um eine Erbin La Rochefoucaulds, Chamforts oder Ciorans zu werden. Das rücksichtslos offen gelegte Ich und das wolkig bleibende Wir kommen bei ihr nicht zusammen. „Wir leiden unter unserer Vorstellungskraft und manchmal sogar unter unserem Mangel an Vorstellungskraft“ – liest man etwa. Mit der aphoristisch splitternden Ausdrucksschärfe der Moralisten hat das nichts zu tun. „Das Mitleid kann eine Ablenkung sein“. Das Räsonieren ebenfalls. Catherine M. zieht uns, von der Übersetzerin Sigrid Vagt sachkundig und prägnant unterstützt, dort in den Bann, wo sie sich selbst beschreibt. Die dritte, ausgereifte Version ihrer Geschichte kann aber noch dauern. Sie dürfte allenfalls ein Alterswerk werden.
JOSEPH HANIMANN
CATHERINE MILLET: Eifersucht. Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Carl Hanser Verlag, München, 2010. 221 Seiten, 21,50 Euro.
„Das Mitleid kann eine
Ablenkung sein.“
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
der Eifersucht
Nun auch in e-Moll: Das
sexuelle Leben der Catherine M.
Fehlt nun noch die ausgereifte Version. Nach dem vergnügt forschen Bericht über „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ vor neun Jahren bietet Catherine Millet in diesem Buch eine bedrückende Kehrseite zum selben Thema. Eine mit der sexuellen Enthemmung aufgewachsene Frau lernt zu ihrer eigenen Überraschung, dass trotz der großen Freizügigkeit mit ihrem Mann und zahllosen anderen Partnern die Schatten von Selbstzweifeln, Verstoßenheit, Eifersucht auch auf sie fallen können. Sexleben in e-Moll. „Eifersucht“ ist zwar ein zu direktes Wort für den „Jour de souffrance“, den besonderen Lichtfall des Schmerzes im französischen Originaltitel. Dennoch passt es dank der mitausgesprochenen „Sucht“ gut zum Buch.
Die Sache beginnt mit einem Briefumschlag. Briefe liegen auf dem ovalen Wohnzimmertisch der Pariser Wohnung neben Pressemappen, Katalogen, Büchern, Zeitungen so zahlreich wie die außerehelichen Partner im einen oder anderen Bett. Das tagelang verschlossen bleibende Kuvert auf dem Tisch hätte also nicht sonderlich aufzufallen brauchen. Dann fand Catherine M. es aber schließlich auf dem Schreibtisch ihres Mannes Jacques wieder, neben einem offenen Notizheft. Der Briefumschlag enthielt Fotos von einer nackten schwangeren Frau mit gespreizten Beinen vor dem Spiegel, die Aufzeichnungen sprachen vom Reiz dieser Frau. Für Catherine M. begann eine Höllenfahrt des Herumspionierens in Tagebüchern, Briefen, Computerdateien: umso schmerzvoller, als zwischen den Ehepartnern stets Freizügigkeit herrschte und Jacques ihr diese Geschichte auch gar nicht besonders zu verbergen suchte.
Liebe und Sex haben für Catherine nichts miteinander zu tun. Es gibt die Beziehung zu Jacques und den Rest. Im Lauf ihrer zahllosen Erfahrungen hat sie auch gelernt, zwischen ihren zwei Körpern zu unterscheiden. Den einen trägt sie – eher ungeschickt – mit sich herum wie ein Weichtier seine Schale, ohne besonderes Raumgefühl dafür. Der andere ist ihr „Beziehungskörper“, den sie, auch zur eigenen Lust, freizügig und offenbar talentvoll anderen zur Verfügung stellt. Dieser andere Körper steht nun durch die unerwartete Erfahrung der Eifersucht, die es unter den Bedingungen absoluter sexueller Permissivität eigentlich gar nicht geben sollte, plötzlich beziehungslos da – nicht einmal die Beziehung durch Vorwurf und Anklage ist möglich.
So genau hatten wir die Einzelheiten des sexuellen Lebens von Catherine M. ja nie wissen wollen. Wenn dieses wie das frühere Buch dennoch nicht ganz uninteressant ist, dann dank der symptomatischen Genauigkeit in der Selbstbeobachtung. Eine Vertreterin der ersten Generation kollektiver sexueller Befreiung registriert, was passiert, wenn das überwunden Geglaubte in den Freiraum zurückkehrt. Es entsteht eine kalte Einsamkeit, wie sie vielleicht noch keine andere Generation davor gekannt hat. Wenn die Frau in den Sachen ihres Mannes herumschnüffelt, fürchtet sie kein Schuldgefühl – der Gedanke von Einbruch in die Privatsphäre entspricht einem aufgesetzten Über-Ich, an das sie nicht mehr glaubt. Sie fürchtet nur das Leiden, das die Nachforschungen in ihr selbst hervorrufen würden: in einem absolut kurzgeschlossenen Ich, das die Autorin auf der engen Bühne der Masturbation minutiös vorführt.
Das Masturbieren ist Catherine M. seit den frühen Mädchenjahren vertraut. Sie brachte da nach ganz bestimmten Regeln gewisse Phantasien zum Einsatz, deren Figuren mit bekannten Gesichtern nichts zu tun hatten und deren Dramaturgie der Banalität und dem Klischee verpflichtet blieb. Mit der Erfahrung der Eifersucht werden diese Masturbationsphantasien plötzlich konkret. Jacques und dessen wechselnde Partnerinnen haben die Rolle der Protagonisten eingenommen und Catherine M. kommt allenfalls noch als verborgene Beobachterin vor. Fremde Frauen teilen sich die Plätze in Jacques’ Leben auf „wie Schauspielerinnen, die bei der Probe ihre Markierungen auf der Bühne zeichnen“, während ihr eigener Bewegungsraum immer enger wird. Die Autorin beschreibt, wie dieses Jahre dauernde erotische Zwangsprogramm sie auf einsame Gipfel der Selbstbefriedigung führte.
Wo der Bericht aber vom exakt beobachteten Ich zum räsonierenden „Wir“ in der Tradition der wertungsfreien französischen Moralisten wechselt, fällt die Spannung im Buch sofort ab. Catherine Millet hat weder das philosophische Rüstzeug noch die nötige Distanz, um eine Erbin La Rochefoucaulds, Chamforts oder Ciorans zu werden. Das rücksichtslos offen gelegte Ich und das wolkig bleibende Wir kommen bei ihr nicht zusammen. „Wir leiden unter unserer Vorstellungskraft und manchmal sogar unter unserem Mangel an Vorstellungskraft“ – liest man etwa. Mit der aphoristisch splitternden Ausdrucksschärfe der Moralisten hat das nichts zu tun. „Das Mitleid kann eine Ablenkung sein“. Das Räsonieren ebenfalls. Catherine M. zieht uns, von der Übersetzerin Sigrid Vagt sachkundig und prägnant unterstützt, dort in den Bann, wo sie sich selbst beschreibt. Die dritte, ausgereifte Version ihrer Geschichte kann aber noch dauern. Sie dürfte allenfalls ein Alterswerk werden.
JOSEPH HANIMANN
CATHERINE MILLET: Eifersucht. Aus dem Französischen von Sigrid Vagt. Carl Hanser Verlag, München, 2010. 221 Seiten, 21,50 Euro.
„Das Mitleid kann eine
Ablenkung sein.“
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