Wem gehören die deutschen börsennotierten Unternehmen? Wie werden sie geführt und welche Strategien verfolgen sie? Wie haben sich Eigentum, Governance und Strategien in den letzten 30 Jahren verändert und welche Zukunft liegt vor deutschen börsennotierten Unternehmen? Das System der Deutschland-AG, dessen Grundzüge bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, existiert nicht mehr. Ende der 1990er Jahre kam es zu einem fundamentalen Umbruch. Getrieben durch exogene Schocks und weitreichende regulatorische Reformen wurde die Deutschland AG zugunsten eines auf Wachstum ausgelegten, kapitalmarktorientierten Systems aufgebrochen. In Zukunft ist ein weiterer Systemwechsel möglich. Konkrete Treiber neuer Veränderungen sind unter anderem der Klimawandel, die zunehmende nationale Abschottung sowie technologische Innovationen, die eine geografische Rückverlagerung von Produktionsprozessen durch einen erhöhten Automatisierungsgrad ermöglichen. Das Buch zeigt die Entwicklungspfade der Eigentümerstrukturen, der Corporate Governance und der Strategien deutscher börsennotierter Unternehmen über mehrere Jahrzehnte auf und weist auf dieser umfassenden Analysebasis hinein in die Zukunft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2023Blackrock statt Commerzbank
Nach der Deutschland AG kam die Fonds AG
Große Veränderungen werden oft erst im Nachhinein als solche wahrgenommen. Mit den Veränderungen der deutschen Unternehmenslandschaft in den vergangenen dreißig Jahren befassen sich Thomas Hutzschenreuter und Sebastian Jans in ihrem Buch "Eigentum, Governance und Strategie". Bis in die Neunzigerjahre hinein bestand die sogenannte Deutschland AG, ein Netzwerk von Beteiligungen der Banken und Versicherungen an den großen Industrieunternehmen. Da die Banken auch für zahlreiche Kleinaktionäre das sogenannte Depotstimmrecht in ihrem Sinne wahrnahmen, waren Bemühungen um andere Aktionäre überflüssig. IR-Abteilungen, die sich um ein gutes Verhältnis zu den Aktionären bemühen, waren daher auch weitgehend unbekannt. Über Sitze in Aufsichtsräten anderer Unternehmen sicherten Vorstände zudem ihre Interessen bei Lieferanten und Kunden. Im Jahr 1995 saßen allein Vorstände der Thyssen AG in den Aufsichtsräten von 25 anderen börsennotierten Unternehmen - 20 Jahre später in keinem mehr.
In den Neunzigerjahren stieß die Deutschland AG an ihre Grenzen. Vor allem geopolitische Einflüsse sorgten für einen Finanzbedarf, der von den Hausbanken nicht mehr gedeckt werden konnte. Der Zusammenbruch des Ostblocks, die Einführung des europäischen Binnenmarktes, die Digitalisierung und die Globalisierung der Märkte erforderten eine neue strategische Ausrichtung. Mit Macht wurde ein deutscher Finanzmarkt für Eigen- wie Fremdkapital aufgebaut, der internationalen Standards entsprach.
Selbst wer diese Zeiten aktiv miterlebt hat, dürfte im Rückblick noch mal erstaunt sein über die Geschwindigkeit und Tiefe des Umbruchs und zur Mitte des Buches an zweien (der sehr vielen anschaulich gestalteten) Grafiken besonders lange hängen bleiben. Sie zeigen die Veränderung der Eigentümerstruktur der 100 größten deutschen Aktiengesellschaften zwischen 1990 und 2020. Sie zeigen auf einen Blick den Wandel von den bankenbeherrschten zu den fondsbeherrschten Unternehmen und damit auch weitgehend von inländischen zu ausländischen Eigentümern. Das hatte natürlich Folgen für die Unternehmen. Die neuen Eigentümer forderten eine Fokussierung des Angebots. Risikostreuung fand jetzt zunehmend auf der Anlegerebene statt und nicht mehr auf der Unternehmensebene. Unternehmen mussten sich umgekehrt sehr viel mehr um die Gunst der Anleger bemühen und ihnen auch mehr Informationen zur Verfügung stellen.
Das alles wird in dem Buch nicht nur abstrakt dargestellt und mit vielen Grafiken und Tabellen untermauert. Es gewinnt eine besondere Anschaulichkeit durch die zahlreichen Beispiele, die immer wieder angeführt und in der notwendigen, aber nie ausufernden Länge beschrieben werden. Sehr passend ist auch die Idee, die Veränderung an den zwei Vorstandsvorsitzenden der Thyssen AG, nämlich Heinz Kriwet (1991 bis 1996 Vorstandsvorsitzender) und Heinrich Hiesinger (2011 bis 2018) beispielhaft aufzuzeigen. Beide hatten große Strukturveränderungen zu bewältigen. Trotz vieler Parallelen nahmen ihre Karrieren dann aber einen völlig anderen Verlauf - weil inzwischen neue Eigentümer andere Vorstellungen von einer guten Unternehmensführung (Governance) hatten. Die weiteren Fallstudien lassen die Unternehmenswelt von AEG über Buderus, Daimler, Flick, Holzmann und Hugo Boss bis zu Siemens, Stada oder Veba am Leser sehr lebendig vorüberziehen. Zudem werden die neuen Eigentümer, also die Private-Equity-Fonds, die Hedgefonds, die allgemeinen Investmentfonds oder die Staatsfonds in ihrer Geschichte, Bedeutung und Vorgehensweise beschrieben. Das Buch wird in diesem Teil zu einem aktuellen Nachschlagewerk über die Blackrocks (Blackrock ist an 70 Prozent der deutschen AGs beteiligt und damit aktuell mit Abstand wichtigster Einzelaktionär) oder Vanguards bis hin zu den Staatsfonds Norwegens oder Qatars.
Damit der Leser vor lauter Einzeldarstellungen nicht den Überblick verliert, beschreiben kurze Zusammenfassungen immer wieder, welche Auswirkungen die Entwicklungen auf die drei unternehmerischen Kerndimensionen Eigentümerstruktur, Geschäftsführung (Governance) und Strategie hatten bis dahin, dass die neuen Eigentümer nicht zuförderst an Gremiensitzen interessiert sind, sondern anderweitig Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen. Stichworte sind aktivistische Aktionäre oder auch Stimmrechtsberater.
Das Buch ist deutschen Aufsichtsräten und Vorständen zu empfehlen, aber auch jedem, der an der Entwicklung der Unternehmen und damit an der Wirtschaft interessiert ist. Im letzten Teil versuchen die Autoren, ihre zuvor gewonnenen Erkenntnisse auf die Zukunft zu projizieren. Um es kurz zu sagen: Diese Seiten kann man sich schenken. Schon die erste These ist kurz nach Erscheinen des Buches obsolet, weil sie von "einer anhaltenden Niedrigzinsphase" ausgeht. Danach wird die zunehmende Bedeutung der Nachhaltigkeit beschworen, inzwischen eine Allerweltsweisheit. Hier wäre interessanter, wie sich die zunehmende Kreislaufwirtschaft auf die Unternehmensstrukturen auswirken wird. Die Kritik an den letzten Seiten wie der Hinweis, die Lesbarkeit vor allem der Netzwerkgrafiken zu verbessern, ändert nichts am Gesamturteil, dass hier den Autoren ein insgesamt guter und großer Wurf gelungen ist. Ihm sind - trotz des sperrigen Titels - viele Leser zu wünschen. GEORG GIERSBERG
Thomas Hutzschenreuter, Sebastian Jans: Eigentum, Governance und Strategie. Von den Ursprüngen der Deutschland AG zur Neuorientierung börsennotierter Unternehmen. Verlag De Gruyter, Berlin 2022, 300 Seiten, 35 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach der Deutschland AG kam die Fonds AG
Große Veränderungen werden oft erst im Nachhinein als solche wahrgenommen. Mit den Veränderungen der deutschen Unternehmenslandschaft in den vergangenen dreißig Jahren befassen sich Thomas Hutzschenreuter und Sebastian Jans in ihrem Buch "Eigentum, Governance und Strategie". Bis in die Neunzigerjahre hinein bestand die sogenannte Deutschland AG, ein Netzwerk von Beteiligungen der Banken und Versicherungen an den großen Industrieunternehmen. Da die Banken auch für zahlreiche Kleinaktionäre das sogenannte Depotstimmrecht in ihrem Sinne wahrnahmen, waren Bemühungen um andere Aktionäre überflüssig. IR-Abteilungen, die sich um ein gutes Verhältnis zu den Aktionären bemühen, waren daher auch weitgehend unbekannt. Über Sitze in Aufsichtsräten anderer Unternehmen sicherten Vorstände zudem ihre Interessen bei Lieferanten und Kunden. Im Jahr 1995 saßen allein Vorstände der Thyssen AG in den Aufsichtsräten von 25 anderen börsennotierten Unternehmen - 20 Jahre später in keinem mehr.
In den Neunzigerjahren stieß die Deutschland AG an ihre Grenzen. Vor allem geopolitische Einflüsse sorgten für einen Finanzbedarf, der von den Hausbanken nicht mehr gedeckt werden konnte. Der Zusammenbruch des Ostblocks, die Einführung des europäischen Binnenmarktes, die Digitalisierung und die Globalisierung der Märkte erforderten eine neue strategische Ausrichtung. Mit Macht wurde ein deutscher Finanzmarkt für Eigen- wie Fremdkapital aufgebaut, der internationalen Standards entsprach.
Selbst wer diese Zeiten aktiv miterlebt hat, dürfte im Rückblick noch mal erstaunt sein über die Geschwindigkeit und Tiefe des Umbruchs und zur Mitte des Buches an zweien (der sehr vielen anschaulich gestalteten) Grafiken besonders lange hängen bleiben. Sie zeigen die Veränderung der Eigentümerstruktur der 100 größten deutschen Aktiengesellschaften zwischen 1990 und 2020. Sie zeigen auf einen Blick den Wandel von den bankenbeherrschten zu den fondsbeherrschten Unternehmen und damit auch weitgehend von inländischen zu ausländischen Eigentümern. Das hatte natürlich Folgen für die Unternehmen. Die neuen Eigentümer forderten eine Fokussierung des Angebots. Risikostreuung fand jetzt zunehmend auf der Anlegerebene statt und nicht mehr auf der Unternehmensebene. Unternehmen mussten sich umgekehrt sehr viel mehr um die Gunst der Anleger bemühen und ihnen auch mehr Informationen zur Verfügung stellen.
Das alles wird in dem Buch nicht nur abstrakt dargestellt und mit vielen Grafiken und Tabellen untermauert. Es gewinnt eine besondere Anschaulichkeit durch die zahlreichen Beispiele, die immer wieder angeführt und in der notwendigen, aber nie ausufernden Länge beschrieben werden. Sehr passend ist auch die Idee, die Veränderung an den zwei Vorstandsvorsitzenden der Thyssen AG, nämlich Heinz Kriwet (1991 bis 1996 Vorstandsvorsitzender) und Heinrich Hiesinger (2011 bis 2018) beispielhaft aufzuzeigen. Beide hatten große Strukturveränderungen zu bewältigen. Trotz vieler Parallelen nahmen ihre Karrieren dann aber einen völlig anderen Verlauf - weil inzwischen neue Eigentümer andere Vorstellungen von einer guten Unternehmensführung (Governance) hatten. Die weiteren Fallstudien lassen die Unternehmenswelt von AEG über Buderus, Daimler, Flick, Holzmann und Hugo Boss bis zu Siemens, Stada oder Veba am Leser sehr lebendig vorüberziehen. Zudem werden die neuen Eigentümer, also die Private-Equity-Fonds, die Hedgefonds, die allgemeinen Investmentfonds oder die Staatsfonds in ihrer Geschichte, Bedeutung und Vorgehensweise beschrieben. Das Buch wird in diesem Teil zu einem aktuellen Nachschlagewerk über die Blackrocks (Blackrock ist an 70 Prozent der deutschen AGs beteiligt und damit aktuell mit Abstand wichtigster Einzelaktionär) oder Vanguards bis hin zu den Staatsfonds Norwegens oder Qatars.
Damit der Leser vor lauter Einzeldarstellungen nicht den Überblick verliert, beschreiben kurze Zusammenfassungen immer wieder, welche Auswirkungen die Entwicklungen auf die drei unternehmerischen Kerndimensionen Eigentümerstruktur, Geschäftsführung (Governance) und Strategie hatten bis dahin, dass die neuen Eigentümer nicht zuförderst an Gremiensitzen interessiert sind, sondern anderweitig Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen. Stichworte sind aktivistische Aktionäre oder auch Stimmrechtsberater.
Das Buch ist deutschen Aufsichtsräten und Vorständen zu empfehlen, aber auch jedem, der an der Entwicklung der Unternehmen und damit an der Wirtschaft interessiert ist. Im letzten Teil versuchen die Autoren, ihre zuvor gewonnenen Erkenntnisse auf die Zukunft zu projizieren. Um es kurz zu sagen: Diese Seiten kann man sich schenken. Schon die erste These ist kurz nach Erscheinen des Buches obsolet, weil sie von "einer anhaltenden Niedrigzinsphase" ausgeht. Danach wird die zunehmende Bedeutung der Nachhaltigkeit beschworen, inzwischen eine Allerweltsweisheit. Hier wäre interessanter, wie sich die zunehmende Kreislaufwirtschaft auf die Unternehmensstrukturen auswirken wird. Die Kritik an den letzten Seiten wie der Hinweis, die Lesbarkeit vor allem der Netzwerkgrafiken zu verbessern, ändert nichts am Gesamturteil, dass hier den Autoren ein insgesamt guter und großer Wurf gelungen ist. Ihm sind - trotz des sperrigen Titels - viele Leser zu wünschen. GEORG GIERSBERG
Thomas Hutzschenreuter, Sebastian Jans: Eigentum, Governance und Strategie. Von den Ursprüngen der Deutschland AG zur Neuorientierung börsennotierter Unternehmen. Verlag De Gruyter, Berlin 2022, 300 Seiten, 35 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Georg Giersberg empfiehlt dieses Buch nachdrücklich jedem, der sich für Wirtschaft interessiert. Thomas Hutzschenreuter und Sebastian Jans zeichnen in ihrem Buch die "Veränderung der deutschen Unternehmenslandschaft" in den letzten dreißig Jahren nach. Ende der neunziger Jahre vollzieht sich aufgrund geopolitischer Veränderungen ein Systemumbruch: die sogenannte Deutschland-AG wird aufgelöst, um den Anforderungen durch Globalisierung und europäischem Binnenmarkt gerecht zu werden, erläutert der Rezensent. Die Folgen für den deutschen Finanzmarkt und die großen Unternehmen werden hier nicht nur ausführlich analysiert, sondern auch an detaillierten Grafiken veranschaulicht, so der Kritiker. Sinnvoll findet er auch die Idee, die Entwicklungen mit zahlreichen Fallstudien aus der "Unternehmenswelt" für den Leser lebendig werden zu lassen. Interessiert hätte den Rezensenten am Ende noch, wie die Autoren, die Auswirkungen der "zunehmenden Kreislaufwirtschaft" auf die Unternehmen einschätzen, aber nichtsdestotrotz findet er dieses Buch sehr gelungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das Buch ist deutschen Aufsichtsräten und Vorständen zu empfehlen, aber auch jedem, der an der Entwicklung der Unternehmen und damit an der Wirtschaft interessiert ist."
Georg Giersberg, aus dem Artikel Blackrock statt Commerzbank- Nach der Deutschland AG kam die Fonds AG, FAZ, 12.06.2023
Georg Giersberg, aus dem Artikel Blackrock statt Commerzbank- Nach der Deutschland AG kam die Fonds AG, FAZ, 12.06.2023