Über die nächsten fünf Wochen spielte sich in der Wand ein aussergewöhnliches Drama ab. Beide Teams kämpften mit verheerendem Wetter, Ausrüstungs- und Lebensmittelknappheit, Verletzungen und Erkrankungen. Anfangs folgten sie unterschiedlichen Routen, doch je höher sie in der Wand aufstiegen, desto mehr arbeiteten sie zusammen. Ende März gipfelte die Durchsteigung in einer nie zuvor dagewesenen Mischung aus Tragödie und Triumph. Fast 50 Jahre später schildern Peter & Leni Gillman in "Eiger extrem" auf packende Weise die damaligen Ereignisse. Zum ersten Mal vereinigt das Buch die Sichtweisen beider Teams und erzählt die bislang unbekannte vollständige Geschichte der epischen letzten Tage der Durchsteigung - ein Überlebenskampf und Grenzgang, der in der Alpingeschichte seinesgleichen sucht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mehr als eine alpinhistorische Erzählung erkennt Barbara Schaefer in dem Buch der Journalisten Jochen Hemmleb und Peter und Leni Gilman. Die Nacherzählung des Dramas um die Direktbesteigung der Eiger-Nordwand bietet ihr Zeugenberichte und Korrekturen eines Mythos der Bergsteigergeschichte. Auch wenn der Disput laut Schaefer eher etwas für Spezialisten ist, kann sie das Buch überzeugen. Vor allem die Hintergründe über die Teilnehmer der Ersteigung vermitteln die Autoren laut Rezensentin mit kritischer Nähe und Sachverstand. Noch besser hätte Schaefer es gefunden, wenn Fragen zum Faszinosum Bergsteigen im Buch genauer behandelt und die Materialfülle etwas ausgedünnt worden wäre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2016Drama in der Direttissima
Die Eiger-Nordwand und ihre Überlebenden
Der Mensch neigt dazu, Entwicklungen als etwas aufzufassen, das in der Vergangenheit spielt. Die Vorstellung, die Gegenwart sei denselben Wandlungen unterworfen wie das Gestern, fällt vielen schwer. Auch Bergsteigern. Edmund Hillary sagte nach seiner Erstersteigung des Mount Everest, er könne sich nicht vorstellen, dass jemand die Besteigung wiederholen wolle. Ein Irrtum, wie man weiß. Jeder Erfolg erzeugt Nachfolge.
So auch am Eiger in den Berner Alpen: 1858 wurde der Berg zum ersten Mal bestiegen, der Erstersteiger warf von oben einen Blick auf die 1800 Meter hohe Nordwand und befand - absolut unersteigbar. Nach vielen Versuchen kam es 1936 zum dramatischen Unglück mit vier Toten, zwei Jahre später glückte die Durchsteigung in drei Tagen und zwei Nächten auf der sogenannten Heckmair-Route. Doch es blieb nicht dabei, natürlich nicht. Neue Routen durch die Eiger-Nordwand wurden gesucht, etwa die Direttissima, der Linie des fallenden Tropfens folgend. Zwei Teams versuchten das gleichzeitig im Februar 1966, eines unter der Leitung des Amerikaners John Harlin, zugleich acht eher unbekannte deutsche Kletterer.
Peter und Leni Gilman und Jochen Hemmleb haben für ihr Buch mit den noch lebenden Teilnehmern beider Teams gesprochen um jene Verfälschungen zu korrigieren, "die in den kontrovers geführten Debatten über die Durchsteigung verbreitet wurden". Allein: Wer kennt diesen Disput? Die dramatische Geschichte der Erstersteigung kennen viele, aber das Drama in der Direttissima ist ein Randthema. Die Alpinisten kämpften mit schlechtem Wetter, mangelhafter Ausrüstung, hatten wenig zu essen. Doch "Eiger extrem" ist besser als die meisten Alpinbücher, denn die Autoren sind Journalisten: Der Brite Peter Gilman war schon vor fünfzig Jahren als junger Zeitungsjournalist nach Grindelwald gekommen, und der Deutsche Jochen Hemmleb hat nicht nur übersetzt, sondern den Hintergrund der deutschen Bergsteiger recherchiert.
Die Autoren schildern die Beteiligten mit Sachverstand und kritischer Nähe, verlieren sich aber gelegentlich in der Fülle des Materials in Details. Spannender wäre es gewesen, die Besteigungsgeschichte kompakt neu darzustellen, um weitreichenderen Fragen mehr Raum zu geben, etwa der zeitlos aktuellen Frage, was extreme Alpinisten antreibt. Eine narzisstische Störung? Die Suche nach Selbstbestätigung, nach Frieden und nach Berühmtheit lautet eine Antwort.
Interessant auch das Aufeinandertreffen der Nationalitäten am Berg und wie diese unterschiedliche Herkunft ihr Bergsteigen beeinflusste. Die Eltern der Alpinisten der ersten Nachkriegsgeneration waren noch Todfeinde gewesen. Die Briten kamen als Sieger, hatten aber als Kleinkinder die Bombardierung Londons erlebt; der Amerikaner war vom Krieg verschont, und die Deutschen die Nation der Kriegstreiber und der Verlierer.
Jochen Hemmleb bricht eine Lanze für die Schwabenfraktion. Es sind einmal nicht die berühmten Münchner, die am Eiger eintreffen, sondern junge Männer, die am Albtrauf und im Donautal mit dem Klettern begannen, wie der leichtsinnige, "Katastrophen-Karle" genannte Karl Golikow sowie der in Balmertshofen geborene Sigi Hupfauer, der von 1973 an auf acht Achttausendern stand. Sie wollen die Kriegsvergangenheit abschütteln, sind noch unbekannt, aber herausragend gute Kletterer. Doch die Briten nehmen die Deutschen nicht ernst. Am Ende wird die Direttissima verhandelt, die wiederholten Versuche am Zentralpfeiler, im ersten Eisfeld, in der Spinne, im zweiten Eisfeld. Es kommt zum Drama, ein Seil reißt, der Amerikaner John Harlin stürzt zu Tode. Und beide Teams beschließen trotz grässlichen Wetters, "die Kletterei solle weitergehen", aufgeben würde "bedeuten, dass alles umsonst gewesen wäre". Das können nur Bergsteiger verstehen, im Guten wie im Schlechten.
Und in der Eiger-Nordwand geht es immer weiter. 2015 durchstieg Ueli Steck die Heckmair-Route, für die die Erstbegeher drei Tage brauchten, in gut zwei Stunden. Und die heutigen Rekorde werden nicht das letzte Wort sein. Das Buch regt an, über solche Fragen nachzudenken, und ist damit weit mehr als die alpinhistorische Nacherzählung einer dramatischen Berg-Geschichte.
BARBARA SCHAEFER
Jochen Hemmleb, Peter und Leni Gilman: "Eiger extrem". Das Rennen um die Nordwand-Direttissima.
AS Verlag, Zürich 2016. 448 S., zahlr. Abb., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Eiger-Nordwand und ihre Überlebenden
Der Mensch neigt dazu, Entwicklungen als etwas aufzufassen, das in der Vergangenheit spielt. Die Vorstellung, die Gegenwart sei denselben Wandlungen unterworfen wie das Gestern, fällt vielen schwer. Auch Bergsteigern. Edmund Hillary sagte nach seiner Erstersteigung des Mount Everest, er könne sich nicht vorstellen, dass jemand die Besteigung wiederholen wolle. Ein Irrtum, wie man weiß. Jeder Erfolg erzeugt Nachfolge.
So auch am Eiger in den Berner Alpen: 1858 wurde der Berg zum ersten Mal bestiegen, der Erstersteiger warf von oben einen Blick auf die 1800 Meter hohe Nordwand und befand - absolut unersteigbar. Nach vielen Versuchen kam es 1936 zum dramatischen Unglück mit vier Toten, zwei Jahre später glückte die Durchsteigung in drei Tagen und zwei Nächten auf der sogenannten Heckmair-Route. Doch es blieb nicht dabei, natürlich nicht. Neue Routen durch die Eiger-Nordwand wurden gesucht, etwa die Direttissima, der Linie des fallenden Tropfens folgend. Zwei Teams versuchten das gleichzeitig im Februar 1966, eines unter der Leitung des Amerikaners John Harlin, zugleich acht eher unbekannte deutsche Kletterer.
Peter und Leni Gilman und Jochen Hemmleb haben für ihr Buch mit den noch lebenden Teilnehmern beider Teams gesprochen um jene Verfälschungen zu korrigieren, "die in den kontrovers geführten Debatten über die Durchsteigung verbreitet wurden". Allein: Wer kennt diesen Disput? Die dramatische Geschichte der Erstersteigung kennen viele, aber das Drama in der Direttissima ist ein Randthema. Die Alpinisten kämpften mit schlechtem Wetter, mangelhafter Ausrüstung, hatten wenig zu essen. Doch "Eiger extrem" ist besser als die meisten Alpinbücher, denn die Autoren sind Journalisten: Der Brite Peter Gilman war schon vor fünfzig Jahren als junger Zeitungsjournalist nach Grindelwald gekommen, und der Deutsche Jochen Hemmleb hat nicht nur übersetzt, sondern den Hintergrund der deutschen Bergsteiger recherchiert.
Die Autoren schildern die Beteiligten mit Sachverstand und kritischer Nähe, verlieren sich aber gelegentlich in der Fülle des Materials in Details. Spannender wäre es gewesen, die Besteigungsgeschichte kompakt neu darzustellen, um weitreichenderen Fragen mehr Raum zu geben, etwa der zeitlos aktuellen Frage, was extreme Alpinisten antreibt. Eine narzisstische Störung? Die Suche nach Selbstbestätigung, nach Frieden und nach Berühmtheit lautet eine Antwort.
Interessant auch das Aufeinandertreffen der Nationalitäten am Berg und wie diese unterschiedliche Herkunft ihr Bergsteigen beeinflusste. Die Eltern der Alpinisten der ersten Nachkriegsgeneration waren noch Todfeinde gewesen. Die Briten kamen als Sieger, hatten aber als Kleinkinder die Bombardierung Londons erlebt; der Amerikaner war vom Krieg verschont, und die Deutschen die Nation der Kriegstreiber und der Verlierer.
Jochen Hemmleb bricht eine Lanze für die Schwabenfraktion. Es sind einmal nicht die berühmten Münchner, die am Eiger eintreffen, sondern junge Männer, die am Albtrauf und im Donautal mit dem Klettern begannen, wie der leichtsinnige, "Katastrophen-Karle" genannte Karl Golikow sowie der in Balmertshofen geborene Sigi Hupfauer, der von 1973 an auf acht Achttausendern stand. Sie wollen die Kriegsvergangenheit abschütteln, sind noch unbekannt, aber herausragend gute Kletterer. Doch die Briten nehmen die Deutschen nicht ernst. Am Ende wird die Direttissima verhandelt, die wiederholten Versuche am Zentralpfeiler, im ersten Eisfeld, in der Spinne, im zweiten Eisfeld. Es kommt zum Drama, ein Seil reißt, der Amerikaner John Harlin stürzt zu Tode. Und beide Teams beschließen trotz grässlichen Wetters, "die Kletterei solle weitergehen", aufgeben würde "bedeuten, dass alles umsonst gewesen wäre". Das können nur Bergsteiger verstehen, im Guten wie im Schlechten.
Und in der Eiger-Nordwand geht es immer weiter. 2015 durchstieg Ueli Steck die Heckmair-Route, für die die Erstbegeher drei Tage brauchten, in gut zwei Stunden. Und die heutigen Rekorde werden nicht das letzte Wort sein. Das Buch regt an, über solche Fragen nachzudenken, und ist damit weit mehr als die alpinhistorische Nacherzählung einer dramatischen Berg-Geschichte.
BARBARA SCHAEFER
Jochen Hemmleb, Peter und Leni Gilman: "Eiger extrem". Das Rennen um die Nordwand-Direttissima.
AS Verlag, Zürich 2016. 448 S., zahlr. Abb., geb., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main