Eine Kleinstadt in Neuengland, Weihnachten 1964. Die vierundzwanzigjährige Eileen Dunlop hasst sich und die Welt. Sie muss für ihren paranoiden, alkoholkranken Vater sorgen, einen ehemaligen Cop, mit dem zusammen sie in einem heruntergekommenen Haus lebt. Ihren mageren Lohn verdient sie sich als Sekretärin in einer Vollzugsanstalt für jugendliche Straftäter. Als die schöne Harvard-Absolventin Rebecca Saint John ihren Dienst als Erziehungsbeauftragte des Gefängnisses antritt, ist Eileen sofort Feuer und Flamme. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als zu sein wie diese selbstbewusste, unabhängige Frau. Doch die Freundschaft von Rebecca Saint John hat einen hohen Preis. Eileen wird in ein grauenhaftes Verbrechen hineingezogen ...In ihrem preisgekrönten Roman beschreibt Ottessa Moshfegh das Schicksal einer jungen Frau, die ausbrechen will aus einer von dunklen Obsessionen und roher Gewalt geprägten Welt. Eigentlich kann man dieser Welt nicht entkommen. Es sei denn, man nimmt das Gesetz in die eigene Hand.
buecher-magazin.deSie hasst ihre Brüste, ihren Körper, ihr Leben. Die 24-jährige Eileen Dunlop lebt 1964 in einer Kleinstadt in Neuengland bei ihrem alkoholkranken Vater und arbeitet als Sekretärin in einer Vollzugsanstalt für straffällig gewordene Jugendliche. Alles in ihrem Leben ist heruntergekommen: das Haus, ihr Körper, ihr Selbstwertgefühl. Sie übt sich in Gelassenheit und Unnahbarkeit, während sie sich ihren Fantasien über heiße Liebschaften oder Planungen zur Flucht hingibt. Aber dann kommt die schöne Rebecca Saint John in die Kleinstadt. Und damit wittert Eileen die Chance auf eine Freundschaft - und ein neues Leben. In Ottessa Moshfeghs Roman "Eileen" trifft die gewaltvolle Emanzipation der Erzählerin auf eine bornierte Kleinstadt, Erinnerungen sowohl an Sylvia Plath als Jim Thompson werden wach. Eileen ist von Selbsthass und -ekel getrieben, doch wenn sie rückblickend von den Ereignissen erzählt, erweist sie sich vor allem als gnadenlose Beobachterin ihres Selbst und ihrer Umgebung. Schrecken und die Spannung entstehen aus der Sprache und den alltäglichen Grausamkeiten, die Eileen sich selbst antut, erfährt und beobachtet, ohne deren Konsequenzen und Ausmaß vollends zu benennen. Langsam entfaltet sich das Porträt einer Frau mit soziopathischen Zügen.
© BÜCHERmagazin, Sonja Hartl (sh)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2017Sätze, die wie Leberhaken treffen
Ottessa Moshfegh wollte nicht ewig warten, bis man sie entdeckt. Da hat sie lieber gleich den Kriminalroman "Eileen" geschrieben
Eine Woche bevor die Halbwaise Eileen im Dezember 1964 spurlos aus Neuengland verschwindet, versteckt sie die Stiefel ihres Vaters im Kofferraum und fährt zur Arbeit nach Moorehead, einem Gefängnis für straffällige Jugendliche. Das Schuheverstecken ist eine stillschweigende Vereinbarung mit ihrem Vater. Seit dem Tod seiner Frau leert der Ex-Cop die erste Flasche Gin des Tages, noch bevor er zum Frühstück ein rohes Ei herunterwürgt. Mittlerweile zittern seine Hände so stark, dass Eileen für ihn die Rechnungen unterschreibt. Stünden seine Stiefel nachmittags im Flur, würde er auf den verschneiten Straßen der Kleinstadt mit gezücktem Revolver Jagd nach dem "Lumpenpack" machen. Eileen fragt ihren Vater schon lange nicht mehr, wer sich hinter dem Lumpenpack verbirgt. Die Antwort ist vermutlich in den Tiefen seines zersoffenen Gehirns zu suchen.
In Moorehead wartet ein Tag im Verwaltungstrakt auf Eileen, den sie so herumkriegt, wie sie die Tage der letzten Jahre herumgekriegt hat: Sie schämt sich am Schreibtisch für ihre dürren Beinchen und die eingefallene Brust, die sie unter den Wollstrumpfhosen und Strickpullovern ihrer verstorbenen Mutter versteckt. Zwischendurch schielt sie zu den beiden anderen Sekretärinnen hinüber und formuliert in ihrem Kopf Hasstiraden: "Widerliche, faule, unkultivierte Schlampen" ist ihr Favorit. Danach stellt sich Eileen meistens vor, wie es die beiden älteren Damen miteinander treiben. "Vielleicht", sagt sie, "kam ich mir im Vergleich dazu fast würdevoll vor." Eileens Sexphantasien und ihre gelebte Prüderie, der Selbsthass, der genauso heftig ist wie ihr Stolz: Das sind die großen Konflikte in Ottessa Moshfeghs herausragendem Romandebüt "Eileen".
Die Autorin ist in Deutschland so gut wie unbekannt. In ihrer Heimat, den Vereinigten Staaten, war das nicht anders. Vor "Eileen" war die 36-jährige Moshfegh das, was man einen "writer's writer" nennt. Ihr erstes Buch "McGlue", eine schmale Erzählung über einen zum Tode verurteilten Seemann, war ein Formexperiment, das von der Kritik hochgelobt wurde. Die amerikanischen Leser ignorierten "McGlue".
Mit "Eileen" wollte Moshfegh einen Bestseller landen. "Ich hatte keine Lust, 30 Jahre zu warten, bis ich entdeckt werde", sagte sie in einem Interview mit dem "Guardian". "Da draußen sind all diese Vollidioten, die Millionen von Dollar scheffeln. Wieso sollte ich nicht dazugehören?" Moshfegh kaufte sich den Schreibratgeber "The 90-Day Novel", versuchte, alle Regeln zu befolgen, und hielt es nach 60 Tagen nicht mehr aus. Ihr Plan ging dennoch auf. Letztes Jahr stand "Eileen" auf der Short List des Man Booker Prize. Kurze Zeit später erwarb Hollywood die Filmrechte.
Nach der Arbeit geht Eileen ihrem einzigen Hobby nach: Sie stalkt den Gefängniswärter Randy, der die Hauptrolle in ihren Sexträumen spielt und mit dem sie noch nie gesprochen hat. So etwas wie Lust spürt Eileen nur, wenn sie Abführmittel schluckt und sich für Stunden auf der Toilette einschließt. Die ersten Romanseiten mögen hart klingen, voyeuristisch und vulgär. Dass sich die Geschichte nicht wie ein Elendsporno liest, gelingt Moshfegh durch ein einfaches literarisches Verfahren: Sie lässt Eileen den Horror nicht unmittelbar durchleiden, sondern fast 50 Jahre später als Erinnerung erzählen. Aus dem kaputtem Mädchen ist eine glückliche Frau geworden, die auf ihr jüngeres Ich mit Selbstironie zurückblicken kann. Und mit Würde.
Den Gefängnisdirektor, einen stumpfsinnigen und brutalen Mann, beschreibt Eileen so: "Er hatte ein dickes, rotes Gesicht mit einer riesigen Nase und kleinen Schweinsäuglein, aber es war so gepflegt, so militärisch sauber, dass ich ihn seltsamerweise attraktiv fand." Solche Sätze stehen auf jeder Seite. Moshfegh beginnt mit einem Klischee, um in letzter Sekunde das altbekannte Bild doch noch interessant zu machen.
An den entscheidenden Stellen schreibt Moshfegh kalt und prägnant. Wenn es um das kaputte und hasserfüllte Verhältnis zu ihrem Vater geht, erzählt Eileen, wie sie ihn aus seiner Stammkneipe abgeholt hat, damals besuchte sie noch die Highschool: "Er legte mir den Kopf auf die Schulter und lallte, dass ich ein gutes Mädchen sei, dass er mich liebhabe, wie leid es ihm tue, dass er mir kein besserer Vater sein könne. Anfangs war ich gerührt, aber dann ließ er seine Hand auf meinen Busen rutschen. Ich habe das nie jemandem erzählt." Sätze wie Leberhaken.
Die Wende in Eileens Leben hat langes rotes Haar und fängt als neue Psychologin in Moorehead an. Rebecca ist die Femme fatale, die in der zweiten Romanhälfte die Handlung vorantreibt. Eileen sieht in ihr all das, was sie zu sein wünscht, und richtet am Ende für Rebecca einen Revolver auf einen fremden Menschen. Die Ohnmächtige in einer Machtposition zu sehen ist das große Finale. Dass Eileen ihre neue Macht ohne zu überlegen missbraucht, ist einem dann herzlich egal. Nach 300 Seiten steht man auf ihrer Seite.
In einem Kapitel spricht Eileen über ihre Arbeit im Gefängnis. Sie hat Gerüchte gehörte, dass die Wärter die Insassen zu Faustkämpfen anstacheln. Dass die Schwächeren gezwungen werden, in ihre Kopfkissenbezüge zu machen, und dass sich die Ärzte bei den Leibesvisitationen an den Jugendlichen vergehen. Die Gerüchte haben auf Eileen keine Wirkung. Ihr Selbstwahn macht sie blind für das Leid anderer: "Es gab nur einen, dessen Schmerz echt war. Mich."
Der Satz erzählt viel über Eileen, noch mehr über Moshfegh. Die anderen Figuren interessieren die Autorin nämlich auch nicht. Der Roman ist eine One-Girl-Show. Der Vater, die rothaarige Rebecca: So liebevoll sie gezeichnet sind, sie bleiben schablonenhaft. Ihr Schmerz wirkt unecht. Über solche Schönheitsfehler ist man am Ende aber froh. Ansonsten hätte man sich wohl zu sehr geärgert, dass der Man Booker Prize dann doch einem anderen Autor verliehen wurde.
LENNARDT LOSS
Ottessa Moshfegh: "Eileen". Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind, 336 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ottessa Moshfegh wollte nicht ewig warten, bis man sie entdeckt. Da hat sie lieber gleich den Kriminalroman "Eileen" geschrieben
Eine Woche bevor die Halbwaise Eileen im Dezember 1964 spurlos aus Neuengland verschwindet, versteckt sie die Stiefel ihres Vaters im Kofferraum und fährt zur Arbeit nach Moorehead, einem Gefängnis für straffällige Jugendliche. Das Schuheverstecken ist eine stillschweigende Vereinbarung mit ihrem Vater. Seit dem Tod seiner Frau leert der Ex-Cop die erste Flasche Gin des Tages, noch bevor er zum Frühstück ein rohes Ei herunterwürgt. Mittlerweile zittern seine Hände so stark, dass Eileen für ihn die Rechnungen unterschreibt. Stünden seine Stiefel nachmittags im Flur, würde er auf den verschneiten Straßen der Kleinstadt mit gezücktem Revolver Jagd nach dem "Lumpenpack" machen. Eileen fragt ihren Vater schon lange nicht mehr, wer sich hinter dem Lumpenpack verbirgt. Die Antwort ist vermutlich in den Tiefen seines zersoffenen Gehirns zu suchen.
In Moorehead wartet ein Tag im Verwaltungstrakt auf Eileen, den sie so herumkriegt, wie sie die Tage der letzten Jahre herumgekriegt hat: Sie schämt sich am Schreibtisch für ihre dürren Beinchen und die eingefallene Brust, die sie unter den Wollstrumpfhosen und Strickpullovern ihrer verstorbenen Mutter versteckt. Zwischendurch schielt sie zu den beiden anderen Sekretärinnen hinüber und formuliert in ihrem Kopf Hasstiraden: "Widerliche, faule, unkultivierte Schlampen" ist ihr Favorit. Danach stellt sich Eileen meistens vor, wie es die beiden älteren Damen miteinander treiben. "Vielleicht", sagt sie, "kam ich mir im Vergleich dazu fast würdevoll vor." Eileens Sexphantasien und ihre gelebte Prüderie, der Selbsthass, der genauso heftig ist wie ihr Stolz: Das sind die großen Konflikte in Ottessa Moshfeghs herausragendem Romandebüt "Eileen".
Die Autorin ist in Deutschland so gut wie unbekannt. In ihrer Heimat, den Vereinigten Staaten, war das nicht anders. Vor "Eileen" war die 36-jährige Moshfegh das, was man einen "writer's writer" nennt. Ihr erstes Buch "McGlue", eine schmale Erzählung über einen zum Tode verurteilten Seemann, war ein Formexperiment, das von der Kritik hochgelobt wurde. Die amerikanischen Leser ignorierten "McGlue".
Mit "Eileen" wollte Moshfegh einen Bestseller landen. "Ich hatte keine Lust, 30 Jahre zu warten, bis ich entdeckt werde", sagte sie in einem Interview mit dem "Guardian". "Da draußen sind all diese Vollidioten, die Millionen von Dollar scheffeln. Wieso sollte ich nicht dazugehören?" Moshfegh kaufte sich den Schreibratgeber "The 90-Day Novel", versuchte, alle Regeln zu befolgen, und hielt es nach 60 Tagen nicht mehr aus. Ihr Plan ging dennoch auf. Letztes Jahr stand "Eileen" auf der Short List des Man Booker Prize. Kurze Zeit später erwarb Hollywood die Filmrechte.
Nach der Arbeit geht Eileen ihrem einzigen Hobby nach: Sie stalkt den Gefängniswärter Randy, der die Hauptrolle in ihren Sexträumen spielt und mit dem sie noch nie gesprochen hat. So etwas wie Lust spürt Eileen nur, wenn sie Abführmittel schluckt und sich für Stunden auf der Toilette einschließt. Die ersten Romanseiten mögen hart klingen, voyeuristisch und vulgär. Dass sich die Geschichte nicht wie ein Elendsporno liest, gelingt Moshfegh durch ein einfaches literarisches Verfahren: Sie lässt Eileen den Horror nicht unmittelbar durchleiden, sondern fast 50 Jahre später als Erinnerung erzählen. Aus dem kaputtem Mädchen ist eine glückliche Frau geworden, die auf ihr jüngeres Ich mit Selbstironie zurückblicken kann. Und mit Würde.
Den Gefängnisdirektor, einen stumpfsinnigen und brutalen Mann, beschreibt Eileen so: "Er hatte ein dickes, rotes Gesicht mit einer riesigen Nase und kleinen Schweinsäuglein, aber es war so gepflegt, so militärisch sauber, dass ich ihn seltsamerweise attraktiv fand." Solche Sätze stehen auf jeder Seite. Moshfegh beginnt mit einem Klischee, um in letzter Sekunde das altbekannte Bild doch noch interessant zu machen.
An den entscheidenden Stellen schreibt Moshfegh kalt und prägnant. Wenn es um das kaputte und hasserfüllte Verhältnis zu ihrem Vater geht, erzählt Eileen, wie sie ihn aus seiner Stammkneipe abgeholt hat, damals besuchte sie noch die Highschool: "Er legte mir den Kopf auf die Schulter und lallte, dass ich ein gutes Mädchen sei, dass er mich liebhabe, wie leid es ihm tue, dass er mir kein besserer Vater sein könne. Anfangs war ich gerührt, aber dann ließ er seine Hand auf meinen Busen rutschen. Ich habe das nie jemandem erzählt." Sätze wie Leberhaken.
Die Wende in Eileens Leben hat langes rotes Haar und fängt als neue Psychologin in Moorehead an. Rebecca ist die Femme fatale, die in der zweiten Romanhälfte die Handlung vorantreibt. Eileen sieht in ihr all das, was sie zu sein wünscht, und richtet am Ende für Rebecca einen Revolver auf einen fremden Menschen. Die Ohnmächtige in einer Machtposition zu sehen ist das große Finale. Dass Eileen ihre neue Macht ohne zu überlegen missbraucht, ist einem dann herzlich egal. Nach 300 Seiten steht man auf ihrer Seite.
In einem Kapitel spricht Eileen über ihre Arbeit im Gefängnis. Sie hat Gerüchte gehörte, dass die Wärter die Insassen zu Faustkämpfen anstacheln. Dass die Schwächeren gezwungen werden, in ihre Kopfkissenbezüge zu machen, und dass sich die Ärzte bei den Leibesvisitationen an den Jugendlichen vergehen. Die Gerüchte haben auf Eileen keine Wirkung. Ihr Selbstwahn macht sie blind für das Leid anderer: "Es gab nur einen, dessen Schmerz echt war. Mich."
Der Satz erzählt viel über Eileen, noch mehr über Moshfegh. Die anderen Figuren interessieren die Autorin nämlich auch nicht. Der Roman ist eine One-Girl-Show. Der Vater, die rothaarige Rebecca: So liebevoll sie gezeichnet sind, sie bleiben schablonenhaft. Ihr Schmerz wirkt unecht. Über solche Schönheitsfehler ist man am Ende aber froh. Ansonsten hätte man sich wohl zu sehr geärgert, dass der Man Booker Prize dann doch einem anderen Autor verliehen wurde.
LENNARDT LOSS
Ottessa Moshfegh: "Eileen". Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind, 336 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2017Tote Maus im
Handschuhfach
Ottessa Moshfegh und ihre
frustrierte Heldin „Eileen“
Auf die Frage, welche der Figuren in Ottessa Moshfeghs Roman „Eileen“ die sympathischste ist, würde man sich nach einigem Nachdenken wohl für Lee Polk entscheiden, einen Jungen, der im Gefängnis sitzt, weil er seinem Vater, der ihn missbraucht hatte, die Kehle durchgeschnitten hat. Allerdings ist Lee Polk eine Randfigur, und daran mag es also liegen, dass man ihn im Gegensatz zum restlichen Romanpersonal noch ganz erträglich findet. „Eileen“, es dürfte bereits deutlich geworden sein, ist ein ziemlich deprimierender Roman. Und ein äußerst lesenswerter.
Er spielt im Jahr 1964 an der Ostküste der USA. Die Protagonistin Eileen ist eine unscheinbare junge Frau, deren Leben von Selbsthass, unterdrückter Aggression und Empathielosigkeit geprägt ist. Sie arbeitet als Sekretärin in einem Jungengefängnis, wo Missbrauch und Demütigung die pädagogischen Leitlinien bilden. Ihre Freizeit verbringt sie damit, ihren Schwarm, den Gefängniswärter Randy, zu stalken oder zu lesen. Ihr liebster Besitz ist eine tote Maus, die sie im Handschuhfach aufbewahrt.
Der Vater wiederum, ein paranoider Alkoholiker, bezieht seinen Lebenssinn aus Trinken und daraus, Eileen zu quälen. Zusammen leben die beiden in einem völlig verwahrlosten Haus. In dieses triste Leben bricht eines Tages Rebecca ein, eine junge Frau, die das genaue Gegenteil von Eileen zu sein scheint. Weltgewandt und selbstbewusst schickt sie sich an, das Gefängnis zu reformieren. Doch statt zu helfen, verführt sie Eileen zu einem Verbrechen.
„Eileen“ ist nach einer Reihe von Kurzgeschichten und dem Debütroman „McGlue“ der zweite Roman von Ottessa Moshfegh. 2016 schaffte die Amerikanerin mit kroatisch-persischen Wurzeln es damit auf die Shortlist des Man Booker Preises. Im Guardian verkündete die 36-Jährige kurz nach der Nominierung, sie habe „Eileen“ mit dem Ziel geschrieben, bekannt zu werden. „Es gibt all diese Idioten, die Millionen mit Büchern scheffeln“, habe sie gedacht, „warum also nicht ich?“ Also habe sie sich das Handbuch „The 90-Day Novel“ gekauft und sei dessen Bestseller-Bastelanleitung gefolgt. Aus diesem Experiment sei das Grundgerüst zu „Eileen“ entstanden.
Man könnte diese Geschichte als klug inszenierte Abfuhr an den originalitätsfixierten Literaturbetrieb abtun. Das wäre aber recht kurz gegriffen, denn man merkt „Eileen“ durchaus den Versuch an, gängige Genres aufzugreifen und zugleich zu unterwandern. Auf den ersten Blick kommt der Roman als psychologischer Thriller daher. Die Frau, die einmal Eileen war, bevor sie aus ihrem Leben ausbrach und untertauchte, erzählt aus der Rückschau vieler Jahrzehnte ihre Geschichte. Von Anfang an stimmt sie ihre Leser darauf ein, dass etwas Furchtbares vorfallen wird. Doch anstatt dass sich ein Plot entwickelt, wiederholen sich in einer Art Dauerschleife die Erniedrigungserlebnisse der jungen Eileen. Das Verbrechen, das sie schließlich begeht, ist sehr schnell erzählt und ohne Spannung. Es scheint, als hätte Moshfegh mit „Eileen“ ausprobieren wollen, wie lange sie ihre Leser warten lassen kann.
Diese Redundanz macht Sinn, immerhin erzählt hier eine alte Frau von ihrer Jugend, solche Erinnerungen verlaufen selten linear. Aber so interessant diese erzählerische Hinhaltetaktik aus formaler Sicht sein mag, so anstrengend ist sie zu rezipieren. Die frustrierte und trostlose Stimmung, die Eileen verspürt, lässt sich so im Lektüreprozess wirklich nachempfinden. Dieser Effekt wird noch verstärkt durch den Ton der Erzählerin, die keinerlei Mitleid mit ihrem jüngeren Ich zu haben scheint: „Mein Gesicht“, heißt es zu Beginn, „war mit Aknenarben bedeckt, und ob sich Freude oder Wahnsinn unter meiner tödlich kalten neuenglischen Fassade verbargen, blieb unklar. Hätte ich eine Brille getragen, wäre ich vielleicht als Intellektuelle durchgegangen, aber ich war zu ungeduldig, um wirklich schlau zu sein.“
Eileen ist eine Figur, die einen gleichzeitig abstößt und anzieht. Sie ist Opfer und Täterin, gleichermaßen mitleid- wie ekelerregend. In diesem Sinn kann man „Eileen“ durchaus als feministischen Roman begreifen. Schließlich ist es längst nicht selbstverständlich, dass einer weiblichen Romanfigur so viel Ambivalenz und Abgründigkeit zugestanden wird, wie Moshfegh es tut. Dazu gehört auch, dass die Autorin ihrer Protagonistin einen Körper gibt, der schwitzt und stinkt. Eileen wäscht sich nur sporadisch, sie tut alles, um davon abzulenken, dass sie ein sexuelles Wesen ist, und ihre größte körperliche Befriedigung sind die Abführmittel, mit denen sie ihre Verdauungsprobleme behandelt. Sie ist eine echte Außenseiterin, keine romantisierte Anti-Heldin, bei der am Ende alles gut wird. Eileen ist sensibel und grausam, fantasievoll und egozentrisch. Nein, sympathisch ist sie nicht, aber dafür sehr lebendig.
LUISE CHECCHIN
Ob sich Freude oder Wahnsinn
unter ihrer tödlich neuenglischen
Fassade verbarg, bleibt unklar
Ottessa Moshfegh: Eileen.
Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind Verlag, München 2017. 336 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Handschuhfach
Ottessa Moshfegh und ihre
frustrierte Heldin „Eileen“
Auf die Frage, welche der Figuren in Ottessa Moshfeghs Roman „Eileen“ die sympathischste ist, würde man sich nach einigem Nachdenken wohl für Lee Polk entscheiden, einen Jungen, der im Gefängnis sitzt, weil er seinem Vater, der ihn missbraucht hatte, die Kehle durchgeschnitten hat. Allerdings ist Lee Polk eine Randfigur, und daran mag es also liegen, dass man ihn im Gegensatz zum restlichen Romanpersonal noch ganz erträglich findet. „Eileen“, es dürfte bereits deutlich geworden sein, ist ein ziemlich deprimierender Roman. Und ein äußerst lesenswerter.
Er spielt im Jahr 1964 an der Ostküste der USA. Die Protagonistin Eileen ist eine unscheinbare junge Frau, deren Leben von Selbsthass, unterdrückter Aggression und Empathielosigkeit geprägt ist. Sie arbeitet als Sekretärin in einem Jungengefängnis, wo Missbrauch und Demütigung die pädagogischen Leitlinien bilden. Ihre Freizeit verbringt sie damit, ihren Schwarm, den Gefängniswärter Randy, zu stalken oder zu lesen. Ihr liebster Besitz ist eine tote Maus, die sie im Handschuhfach aufbewahrt.
Der Vater wiederum, ein paranoider Alkoholiker, bezieht seinen Lebenssinn aus Trinken und daraus, Eileen zu quälen. Zusammen leben die beiden in einem völlig verwahrlosten Haus. In dieses triste Leben bricht eines Tages Rebecca ein, eine junge Frau, die das genaue Gegenteil von Eileen zu sein scheint. Weltgewandt und selbstbewusst schickt sie sich an, das Gefängnis zu reformieren. Doch statt zu helfen, verführt sie Eileen zu einem Verbrechen.
„Eileen“ ist nach einer Reihe von Kurzgeschichten und dem Debütroman „McGlue“ der zweite Roman von Ottessa Moshfegh. 2016 schaffte die Amerikanerin mit kroatisch-persischen Wurzeln es damit auf die Shortlist des Man Booker Preises. Im Guardian verkündete die 36-Jährige kurz nach der Nominierung, sie habe „Eileen“ mit dem Ziel geschrieben, bekannt zu werden. „Es gibt all diese Idioten, die Millionen mit Büchern scheffeln“, habe sie gedacht, „warum also nicht ich?“ Also habe sie sich das Handbuch „The 90-Day Novel“ gekauft und sei dessen Bestseller-Bastelanleitung gefolgt. Aus diesem Experiment sei das Grundgerüst zu „Eileen“ entstanden.
Man könnte diese Geschichte als klug inszenierte Abfuhr an den originalitätsfixierten Literaturbetrieb abtun. Das wäre aber recht kurz gegriffen, denn man merkt „Eileen“ durchaus den Versuch an, gängige Genres aufzugreifen und zugleich zu unterwandern. Auf den ersten Blick kommt der Roman als psychologischer Thriller daher. Die Frau, die einmal Eileen war, bevor sie aus ihrem Leben ausbrach und untertauchte, erzählt aus der Rückschau vieler Jahrzehnte ihre Geschichte. Von Anfang an stimmt sie ihre Leser darauf ein, dass etwas Furchtbares vorfallen wird. Doch anstatt dass sich ein Plot entwickelt, wiederholen sich in einer Art Dauerschleife die Erniedrigungserlebnisse der jungen Eileen. Das Verbrechen, das sie schließlich begeht, ist sehr schnell erzählt und ohne Spannung. Es scheint, als hätte Moshfegh mit „Eileen“ ausprobieren wollen, wie lange sie ihre Leser warten lassen kann.
Diese Redundanz macht Sinn, immerhin erzählt hier eine alte Frau von ihrer Jugend, solche Erinnerungen verlaufen selten linear. Aber so interessant diese erzählerische Hinhaltetaktik aus formaler Sicht sein mag, so anstrengend ist sie zu rezipieren. Die frustrierte und trostlose Stimmung, die Eileen verspürt, lässt sich so im Lektüreprozess wirklich nachempfinden. Dieser Effekt wird noch verstärkt durch den Ton der Erzählerin, die keinerlei Mitleid mit ihrem jüngeren Ich zu haben scheint: „Mein Gesicht“, heißt es zu Beginn, „war mit Aknenarben bedeckt, und ob sich Freude oder Wahnsinn unter meiner tödlich kalten neuenglischen Fassade verbargen, blieb unklar. Hätte ich eine Brille getragen, wäre ich vielleicht als Intellektuelle durchgegangen, aber ich war zu ungeduldig, um wirklich schlau zu sein.“
Eileen ist eine Figur, die einen gleichzeitig abstößt und anzieht. Sie ist Opfer und Täterin, gleichermaßen mitleid- wie ekelerregend. In diesem Sinn kann man „Eileen“ durchaus als feministischen Roman begreifen. Schließlich ist es längst nicht selbstverständlich, dass einer weiblichen Romanfigur so viel Ambivalenz und Abgründigkeit zugestanden wird, wie Moshfegh es tut. Dazu gehört auch, dass die Autorin ihrer Protagonistin einen Körper gibt, der schwitzt und stinkt. Eileen wäscht sich nur sporadisch, sie tut alles, um davon abzulenken, dass sie ein sexuelles Wesen ist, und ihre größte körperliche Befriedigung sind die Abführmittel, mit denen sie ihre Verdauungsprobleme behandelt. Sie ist eine echte Außenseiterin, keine romantisierte Anti-Heldin, bei der am Ende alles gut wird. Eileen ist sensibel und grausam, fantasievoll und egozentrisch. Nein, sympathisch ist sie nicht, aber dafür sehr lebendig.
LUISE CHECCHIN
Ob sich Freude oder Wahnsinn
unter ihrer tödlich neuenglischen
Fassade verbarg, bleibt unklar
Ottessa Moshfegh: Eileen.
Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind Verlag, München 2017. 336 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Ottessa Moshfeghs Roman "Eileen" hat Rezensent Elmar Krekeler aus den Socken gehauen. Denn die in den Sechzigern spielende Geschichte um die vielfach missbrauchte Eileen, die auf einem Dachboden haust und bei ihrer Arbeit im Jugendknast auf Menschen trifft, denen Ähnliches widerfahren ist, ist so abgründig und "finster", dass selbst Hitchcock den Hut gezogen hätte, meint der Kritiker. Mehr noch: Wie Moshfegh in diesem Noir vom "White trash avant la lettre" erzählt, ebenso ernsthafte, zugleich spielerische und lange nachhallende Sätze in die Welt wirft und mit Klugheit und atemberaubender Genauigkeit "erzmännliche Erzählmuster durch alle Genresäurebäder jagt", ringt dem Rezensenten größte Anerkennung ab. Von Moshfegh wird man noch einiges hören, glaubt Krekeler.
© Perlentaucher Medien GmbH
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