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Nach langen Jahren ist Hex Raitliffe wieder nach Hause zurückgekehrt. Dort lebt nur noch seine Mutter; sein Vater ist schon längst tot, sein Stiefvater hat sich aus dem Staub gemacht. Die späte Wiederbegegnung mit seiner Mutter und seinem früheren Zuhause läßt in Hex Erinnerungen aufsteigen - seine Kindheit und Jugend, sein von außen gesehen ganz "normales" Leben in der Vorstadt ziehen noch einmal vorüber. Rick Moody gelingt es auf meisterhafte und einfühlsame Weise, den Kampf seiner Protagonisten zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Erinnerung und Verdrängung zu schildern und ein…mehr

Produktbeschreibung
Nach langen Jahren ist Hex Raitliffe wieder nach Hause zurückgekehrt. Dort lebt nur noch seine Mutter; sein Vater ist schon längst tot, sein Stiefvater hat sich aus dem Staub gemacht. Die späte Wiederbegegnung mit seiner Mutter und seinem früheren Zuhause läßt in Hex Erinnerungen aufsteigen - seine Kindheit und Jugend, sein von außen gesehen ganz "normales" Leben in der Vorstadt ziehen noch einmal vorüber. Rick Moody gelingt es auf meisterhafte und einfühlsame Weise, den Kampf seiner Protagonisten zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Erinnerung und Verdrängung zu schildern und ein gleichzeitig lakonisches und melancholisches Bild unserer Gegenwart zu entwickeln. Und so entsteht vor den Augen des Lesers ein Bild, das mit ironischer Distanz und subtilem Witz die amerikanischste aller Institutionen, die Familie, vorführt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.1998

Verzeihung war sein erstes Wort
Der Störfall als Normalfall: Rick Moody beschreibt ein amerikanisches Wochenende · Von Eberhard Rathgeb

Eine Mutter braucht ihren Sohn, ihr einziges Kind. Sie ist an einen Rollstuhl gefesselt, kann sich kaum noch bewegen, kaum noch sprechen. Sie leidet an einer unheilbaren Nervenkrankheit, die sie auf die Hilfe anderer angewiesen sein läßt. Früher war sie eine schöne und tatkräftige Frau, jetzt ist sie nur noch ein Wrack aus Haut, Knochen, zuckenden Nerven und Wundstellen, in dem nur ab und an der Wille wieder aufflackert, weiterzuleben, durchzuhalten. Ihr erster Mann ist tot, gestorben mit neununddreißig Jahren, und man weiß nicht, ob er ein Opfer von nuklearer Verseuchung wurde, der er während seiner Arbeit ausgesetzt war. Ihr zweiter Mann, der sie schon seit Jahren pflegt, hat sie von heute auf morgen, ohne Vorwarnung verlassen, weil ihre Schwäche ihn, wie er ihr in seinem Abschiedsbrief schreibt, erschöpft habe. In dieser Beistandsnot wird der Sohn gerufen, und er kommt, seine Mutter zu pflegen. Doch der da in das Haus seiner Kindertage zurückkehrt, ist ein Mensch, der selbst keinen Halt im Leben gefunden hat.

Der junge amerikanische Schriftsteller Rick Moody legt mit diesem Roman sein drittes Buch vor. Sein letztes, "Der Eissturm", war erfolgreich von Ang Lee verfilmt worden; der Film erhielt in Cannes die Goldene Palme für das beste Drehbuch. "Ein amerikanisches Wochenende" (der Titel der Originalausgabe lautet "Purple America") ist ein glänzend geschriebenes, klug durchdachtes Buch, das mehr ist als die Erzählung der Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn.

Hoch empfindsam, so beschreibt die Mutter einmal ihren Sohn, verbrachte er seine Jahre in dem schlechten Gewissen eines Menschen, der glaubt, sich immer zuerst und vor allem für alles entschuldigen zu müssen, für das, was er macht, denkt und fühlt. "Verzeihung", daran kann er sich noch erinnern, war vor "Mutter", vor "Vater" das erste Wort, das er aussprechen konnte. Diese konstitutionelle Unsicherheit besitzt ihre Sprache, ein Stottern, das ihm oft mitten im Gespräch den Mund verbietet, das ihn quält und seine Beziehungen zu anderen Menschen prägt. Er ist ein junger Mann, der die Betäubung des Rausches mag, weil er ihn aus dem Gefängnis seiner Biographie ein wenig zu befreien vermag. Doch gram ist er keinem, keinem schiebt er die Schuld für sein Versagen zu, dafür ist er zu weich, seinen Irritationen, den Anwürfen der Wirklichkeit, zu stark unterworfen.

Auch vor seiner kranken Mutter fehlt ihm die Kraft, auf seinen helfenden Anweisungen zu beharren, fehlt ihm das Zutrauen, das eine Pflege der Gelähmten erfordert. Doch erst mal, gerade angekommen, gibt er nicht klein bei, möchte er sich seiner Mutter und ihrer Hilflosigkeit gewachsen zeigen. Er entkleidet sie also, wäscht sie, trocknet sie ab, setzt ihr einen Katheter an, trägt sie aus dem Bett in den Rollstuhl, redet ihr zu, beruhigt sie, füttert sie und hilft ihr, die Notdurft zu verrichten.

"Wer immer die Falten und Feinheiten des Körpers seiner Mutter kennt, der wird nie sterben." Das ist der erste Satz des Buches, und ihm läßt Rick Moody eine Beschreibung des Helfens folgen, die in ihrem beschwörenden, die Kreatürlichkeit beklagenden Ton ihresgleichen sucht. Es verdankt sich der erzählerischen Kunstfertigkeit dieses jungen Schriftstellers, daß er die Anstrengung, die diese Pflicht gegenüber dem anderen bedeutet, als Anrufung wiederzugeben vermag, als einen langgezogenen Aufruf, der von einer Kreatur an die andere ergeht, eine Klage, die kein Mitleid erheischt, sondern nur Auskunft gibt über eine Not. Nur ein Wochenende braucht der Sohn, um vor der Aufgabe zu kapitulieren, seine Mutter bis an das Ende ihrer Tage zu begleiten. Die Selbstaufgabe der Mutter, die ihren Sohn um die letzte Hilfeleistung, um die tödliche Handreichung bittet, wenn es soweit sei, daß der Lebenswillen in ihr erloschen ist, raubt ihm den Mut, seiner Mutter beistehen zu können. Denn eine solche letzte Handlung übersteigt seine Kräfte.

An jenem Wochenende, im selben Ort, kommt es in einer nuklearen Stromversorgungseinrichtung zu einem bedrohlichen Zwischenfall. Verseuchtes Kühlwasser tritt aus, und zwar in solchen Mengen, daß das Versorgungswerk abgeschaltet werden muß und Militär auffährt. Materialfehler sind die Ursache sowie der Unwillen der Betreibergesellschaft, diese Mängel, die seit Jahren vorhersehbar sind, in den Griff zu kriegen. Man hätte es wissen können, doch man folgt anderen Interessen als der Sicherheit. Am Tag des Unglücks ist der flüchtende Ehemann dort noch einmal unter seinen ehemaligen Kollegen und feiert seinen Abschied. Mittendrin wird der Alarm ausgelöst, und alles wird erst einmal vertuscht, der Unfall heruntergespielt, das Risiko klein geredet, bis offen zutage tritt, daß hier mehr passiert ist als ein unbedeutendes Malheur.

Da quält sich daheim auf der einen Seite ein Mensch in den Tod hinein, und dieser Mensch weiß nicht, wie lange er noch dahinsiechen soll, und er möchte sich selbst in diesem Zustand keinen Tag länger ertragen; und da steht auf der anderen Seite ein Mensch am Krankenbett und kann seine nutzlosen Hände nur noch vor sein Gesicht schlagen, weil er nicht mehr weiß, wie er zu helfen vermöchte. In dieser Beziehung zwischen Mutter und Sohn gibt es keine Option mehr darauf, gar nicht zu handeln, auch wenn der Sohn sich durch Nichthandeln am besten aus der Not ziehen könnte. Aber diese Möglichkeit existiert nicht. Es gibt Kreisläufe, in denen man handeln muß, denen man sich nicht entwinden kann, und alle, die in einen solchen Zirkel geraten, ahnen, daß sie im Grunde genommen für nichts mehr die Verantwortung übernehmen können, im Sinne von Schuld und Sühne.

Auch bei dem Unglück im Werk konnte man nicht einfach dem Vorfall den Rücken kehren und untätig bleiben. Es gab nur Handlungsalternativen, aber keine Möglichkeiten der Unterlassung. Zu groß war die Macht der freigesetzten Kräfte, als daß man sie ignorieren konnte. Was auch immer die im Werk versammelten Beteiligten unternahmen, es war nur eine Bestandsaufnahme und Reaktion auf das, was sich nicht ändern ließ. Sie mußten handeln, aber sie konnten keine Verantwortung dafür übernehmen, weder für die nukleare Kraft noch für die Verseuchung. Es blieb keine Lücke mehr, nicht einmal das Warten, nur die Routine der Handlungen vor dem Unglück.

Rick Moody zeigt die Störfälle als den Normalfall, aber er zwingt beide nicht zusammen. Ihm gelingt dank seiner erzählerischen Kraft, die sogenannten Ausnahmen so zusammenzurücken, daß ihr Gemeinsames, das Leben in der Katastrophe, schlagend sichtbar wird. Das Katastrophische ist die Unmöglichkeit, nicht zu handeln und für die Handlung ebendeshalb keine Verantwortung übernehmen zu können. Die Moral ist in eine katastrophale Lage geraten, aus der sie nicht mehr herauskommen kann.

Der Philosoph Günther Anders wies darauf hin, daß der Mensch sich in die Fluchtlinien von Ereignissen gestellt findet, die neu definieren, was ein Mensch sei. Diesen Befund nannte Anders die "Antiquiertheit des Menschen". Mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima sei blitzartig deutlich geworden, daß die technischen Mächte und Möglichkeiten den Menschen seiner traditionellen Moral beraubten, nach der die Folgen eines Vergehens das Bewußtsein vom Maß der Schuld und der Sühne nicht übersteigen.

Seit Anders kann man wissen, was es heißt, in einer Welt zu leben, die den Menschen von der Verantwortung für sein Handeln dann dispensiert, wenn die Katastrophe die Möglichkeitsform der Wirklichkeit geworden ist. Von einer Handlung zu erzählen, die nicht mehr in den Kategorien von Ursache und Wirkung, von Absicht und Schuld ausgespannt werden kann, ist deswegen eine Herausforderung, den katastrophischen Gehalt des Materials sprachlich zu gewinnen und zu formen. Rick Moody zeigt schon mit dem ersten Satz seines neuen Romans, daß er dieser Herausforderung gewachsen ist. Die Eröffnung schafft ein Klima der moralischen Ausnahme als Regelfall, den Einbruch des Unverhofften als lang Erwartetes. Ein großes erzählerisches Talent findet eine Sprache für den Sog des Katastrophalen. Das hebt Rick Moody weit aus einer Literatur heraus, die mit der Katastrophe nur ein Kalkül treibt, aber sie sprachlich nicht zu fassen bekommt.

Helfen und das Leben verlängern oder flüchten und töten: mehr gibt es manchmal nicht, und was man auch tut, man wird mit leeren Händen dastehen, nackt, so wie der Sohn am Ende der Geschichte, der, ein Häuflein aus Vorstellungen, Fähigkeiten und Wünschen, ins offene Meer hinausschwimmend, zu schwach ist, an Land zurückzugehen, festen Boden unter den Füßen zu gewinnen und noch einmal aufrecht ein Stück des Weges zu gehen, der Verantwortung für die Taten gewachsen.

Als das Wochenende sich seinem Ende zuneigt, steht der Sohn vor dem Bett der Mutter, der er die tödlichen Pillen zerkleinerte, und wartet auf ihren Tod. Da er ihn einmal wollte und er nun nicht sofort und sicher eintritt, holt er sein Gewehr und richtet es auf den Kopf der noch Atmenden, um ein für allemal ein Ende zu machen. In dieser todesbringenden Verwirrung finden ihn sein Stiefvater und die Polizei. Er kann vor ihnen davonlaufen, aber er kann sich nicht mehr in ein sogenanntes normales Leben hineinstehlen.

Rick Moody: "Ein amerikanisches Wochenende". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Piper Verlag, München 1998. 408 S., geb., 44,- DM.

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