Ein ehemaliger Universitätsdozent in Budapest fällt psychisch und existenziell ins Bodenlose. Ein in Deutschland lebender Kellner entwickelt Schlafstörungen und bringt sich um. Eine ungarische Aristokratin pendelt zwischen ihren Leben als Klempnerin, als Taxifahrerin und als Schutzengel eines der bedeutendsten ungarischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Die Geschehnisse in einem Genfer Restaurant werden rekonstruiertund zeigen eine enge Verbindung mit den blutigen Ereignissen in Bosnien. Momentaufnahmen aus dem ungarischen Alltag nach der Wende ...Die parallele Erzählung der verschiedenen Handlungsstränge weckt die Spannung, dieses literarische Geflecht - wie in einem guten Krimi - zu enträtseln. Ein anderer Tod ist dergroß angelegte schriftstellerische Versuch, die verborgenen Zusammenhänge zwischen persönlichem Schicksal und Zeitgeschichte aufzuzeigen."Ein wunderbarer ungarischer Schriftsteller - noch einer! - ist zu entdecken."(Jörg Plath, Neue Zürcher Zeitung)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2016Die Kunstgalerie als Rückzugs- und Rettungsort
Ferenc Barnás hat mit "Ein anderer Tod" erst seinen vierten Roman geschrieben, doch er gilt in Ungarn schon als einer der wichtigsten Gegenwartsschriftsteller
Der zweite Roman des 1959 geborenen ungarischen Schriftstellers Ferenc Barnás spielt größtenteils in einer "Einrichtung", und lange bleibt unklar, was damit gemeint ist. Irgendwann erweist sich der Ort als Kunstgalerie, es hätte sich aber genauso gut um eine Psychiatrie oder ein Gefängnis handeln können. Von einem bestimmten Blickwinkel aus ähneln sich diese Einrichtungen ja auch. Mehr als zehn Jahre verbringt der Erzähler in einer Budapester Kunstgalerie - zehn Jahre, in denen sich kaum etwas ereignet. "So geschah es von Woche zu Woche", heißt es einmal und durchaus nicht klagend. Denn die Kunstgalerie ist eine Insel der Ruhe und Sicherheit, ein Schutzraum.
In "Ein anderer Tod" erzählt Barnás von einem Willen- und Wehrlosen, der Zuflucht sucht vor einer feindlichen Außenwelt und einer nicht minder bedrängenden Innenwelt. Wie dieser Mann unter die Räder geraten ist, kann er nur andeuten. "Es soll genügen, dass ich verlassen wurde. Es ist uninteressant, von wem, und auch uninteressant, wann genau und unter welchen Umständen, das Wesentliche ist, dass es wegen eines Jüngeren geschah." Es ist gefährlich, das Geschehene präziser zu benennen. Denn immer wieder droht ein "Ganzes", ihn zu überwältigen, zudem gibt es einen schrecklichen "Anderen" in ihm. Rettung scheint nur das Vergessen zu schenken.
Vergessen werden muss nicht nur die Frau, mit der er eine Tochter hat, vergessen werden muss vor allem die ungeheure Kränkung des Verlassenwerdens. Zumal sie sich wiederholt hat: Der Erzähler hatte einen Freund in Deutschland gefunden, der ähnlich wie er empfunden und seine Arbeit an einem ersten Manuskript jahrelang gefördert hatte, jedoch nach dessen Fertigstellung und Publikation Selbstmord beging. Dieser zweite Schock wirft den namenlosen Protagonisten fast aus der Bahn, weshalb es ihn auch unbedingt zu vergessen gilt. Nun tendiert die erwünschte Amnesie schon zur Selbstauslöschung. Zugleich jedoch entsteht ein neues Manuskript, über das nichts zu erfahren ist. Höchstwahrscheinlich ist es der vorliegende Roman.
"Ein anderer Tod" ist eine Krankengeschichte der niederschmetterndsten Art. Der Roman macht mit den Verliesen einer beinahe zerstörten Seele bekannt. Barnás' Antiheld marschiert in der Kunstgalerie von Wand zu Wand, um mit solchen "Minusmärschen" ein nicht genauer benanntes, belastendes Plus zu verringern. Jeden Abend verspeist er zu einer Flasche Wein Nudeln mit Tomatensoße. Seine kleine Wohnung ist verdreckt und voll leerer Flaschen. Das Fenster hat er vergittern lassen - nicht aus Angst vor einem Dieb, sondern um sich selbst. Oft treibt es ihn durch ein Budapest voller Tatorte: Hier ermordeten Pfeilkreuzler Juden, dort folterte die Staatssicherheit. Eine Nachbarin erzählt ihm, mit welcher Verachtung sie nach der Rückkehr aus dem KZ empfangen wurde. Obdachlose, Trinker, Kranke, Versehrte und Verworfene drängen in seinen Blick wie einst in den von Rilkes Malte Laurids Brigge. Nur eine ältere Kollegin in der Galerie steht dem Protagonisten nah, eine adlige Esterházy, die Freundin des großen Schriftstellers Géza Ottlik. Dessen berühmtes Hauptwerk "Die Schule an der Grenze" erzählt drei Jahre nach dem ungarischen Aufstand vom alltäglichen Terror gegen Außenseiter.
Barnás hatte schon in seinem ersten auf Deutsch übersetzten Roman (seinem dritten insgesamt) beachtliches, auch klaustrophobisches Talent bewiesen. In "Der Neunte" erzählte das neunte Kind einer bitterarmen Familie von einer Kindheit im Ungarn der sechziger Jahre. Freude empfinden der Junge und seine Geschwister schon, wenn im Winter mal Rauch aus dem Schornstein aufsteigt. Als sie in ein neues Haus umziehen, begeistert die Kinder die Aussicht auf das erste Badezimmer ihres Lebens. Doch der Vater beschlagnahmt es sofort, um dort eine Dunkelkammer einzurichten und Heiligenbilder en masse für die von den Kommunisten bekämpfte Kirche zu produzieren.
Solcher Galgenhumor steht dem Erzähler in "Ein anderer Tod" nicht zu Gebote. Seine verzweifelten Versuche, durchs Vergessen allgegenwärtigen Bedrohungen zu entkommen, lässt Innen- wie Außenwelt schemenhaft werden. Die Beobachtung der Außenwelt wird zunehmend panisch, alles scheint undurchschaubar. Dem zeitweisen Verlust des Selbst korrespondiert einer der Welt. Die Einrichtung ist nicht als Kunstgalerie zu erkennen, der durch sie marschierende Erzähler nicht immer als Aufseher. Ästhetisch führt diese angstgetriebene Verschattung zu einem Erzählen, das über lange Strecken an den Nouveau Roman erinnert.
Die düstere, rätselhafte und zeitlose Atmosphäre wird von Erinnerungsresten durchbrochen. Begegnungen mit früheren Kollegen und Schülern rufen dem Verlassenen ins Gedächtnis, dass er früher Universitätsdozent und Gymnasiallehrer für Literatur und Ästhetik war und in den Sommermonaten in Deutschland, der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern auf der Straße und in Restaurants klassische Musik gespielt hatte. Ferenc Barnás selbst hat tatsächlich alle diese und sogar noch einige weitere Berufe ausgeübt: Er war zudem Postbote, Bergmann, Hilfsarbeiter, Fahrer, Bibliothekar und Erzieher in einem Heim für geistig behinderte Kinder.
In "Ein anderer Tod" erspart Barnás dem Leser keine Not. Die Lektüre vermag, Atemnot auszulösen. Sein zweiter Roman, wieder von Eva Zador in ein drängendes Deutsch übersetzt und 2013 als das beste ungarische Buch des Jahres ausgezeichnet, erzählt mit großem Ernst und ohne avantgardistische Verrenkungen von einer Existenz nahe am Nullpunkt. Die am Ende angedeutete Teilrekonvaleszenz verdankt sich dem Schreiben: Das Manuskript bietet dem Anderen im Protagonisten einen Ort. Das Schreiben entlastet von der gefürchteten, angsterregenden Parallelwelt, und es führt dank eines Stipendiums aus der Galerie hinaus in die Vereinigten Staaten. Es gibt also Anlass zur Hoffnung. Wenn dazu noch Kraft verblieben sein sollte.
JÖRG PLATH.
Ferenc Barnás: "Ein anderer Tod". Roman.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador.
Nischen Verlag, Wien 2016. 338 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ferenc Barnás hat mit "Ein anderer Tod" erst seinen vierten Roman geschrieben, doch er gilt in Ungarn schon als einer der wichtigsten Gegenwartsschriftsteller
Der zweite Roman des 1959 geborenen ungarischen Schriftstellers Ferenc Barnás spielt größtenteils in einer "Einrichtung", und lange bleibt unklar, was damit gemeint ist. Irgendwann erweist sich der Ort als Kunstgalerie, es hätte sich aber genauso gut um eine Psychiatrie oder ein Gefängnis handeln können. Von einem bestimmten Blickwinkel aus ähneln sich diese Einrichtungen ja auch. Mehr als zehn Jahre verbringt der Erzähler in einer Budapester Kunstgalerie - zehn Jahre, in denen sich kaum etwas ereignet. "So geschah es von Woche zu Woche", heißt es einmal und durchaus nicht klagend. Denn die Kunstgalerie ist eine Insel der Ruhe und Sicherheit, ein Schutzraum.
In "Ein anderer Tod" erzählt Barnás von einem Willen- und Wehrlosen, der Zuflucht sucht vor einer feindlichen Außenwelt und einer nicht minder bedrängenden Innenwelt. Wie dieser Mann unter die Räder geraten ist, kann er nur andeuten. "Es soll genügen, dass ich verlassen wurde. Es ist uninteressant, von wem, und auch uninteressant, wann genau und unter welchen Umständen, das Wesentliche ist, dass es wegen eines Jüngeren geschah." Es ist gefährlich, das Geschehene präziser zu benennen. Denn immer wieder droht ein "Ganzes", ihn zu überwältigen, zudem gibt es einen schrecklichen "Anderen" in ihm. Rettung scheint nur das Vergessen zu schenken.
Vergessen werden muss nicht nur die Frau, mit der er eine Tochter hat, vergessen werden muss vor allem die ungeheure Kränkung des Verlassenwerdens. Zumal sie sich wiederholt hat: Der Erzähler hatte einen Freund in Deutschland gefunden, der ähnlich wie er empfunden und seine Arbeit an einem ersten Manuskript jahrelang gefördert hatte, jedoch nach dessen Fertigstellung und Publikation Selbstmord beging. Dieser zweite Schock wirft den namenlosen Protagonisten fast aus der Bahn, weshalb es ihn auch unbedingt zu vergessen gilt. Nun tendiert die erwünschte Amnesie schon zur Selbstauslöschung. Zugleich jedoch entsteht ein neues Manuskript, über das nichts zu erfahren ist. Höchstwahrscheinlich ist es der vorliegende Roman.
"Ein anderer Tod" ist eine Krankengeschichte der niederschmetterndsten Art. Der Roman macht mit den Verliesen einer beinahe zerstörten Seele bekannt. Barnás' Antiheld marschiert in der Kunstgalerie von Wand zu Wand, um mit solchen "Minusmärschen" ein nicht genauer benanntes, belastendes Plus zu verringern. Jeden Abend verspeist er zu einer Flasche Wein Nudeln mit Tomatensoße. Seine kleine Wohnung ist verdreckt und voll leerer Flaschen. Das Fenster hat er vergittern lassen - nicht aus Angst vor einem Dieb, sondern um sich selbst. Oft treibt es ihn durch ein Budapest voller Tatorte: Hier ermordeten Pfeilkreuzler Juden, dort folterte die Staatssicherheit. Eine Nachbarin erzählt ihm, mit welcher Verachtung sie nach der Rückkehr aus dem KZ empfangen wurde. Obdachlose, Trinker, Kranke, Versehrte und Verworfene drängen in seinen Blick wie einst in den von Rilkes Malte Laurids Brigge. Nur eine ältere Kollegin in der Galerie steht dem Protagonisten nah, eine adlige Esterházy, die Freundin des großen Schriftstellers Géza Ottlik. Dessen berühmtes Hauptwerk "Die Schule an der Grenze" erzählt drei Jahre nach dem ungarischen Aufstand vom alltäglichen Terror gegen Außenseiter.
Barnás hatte schon in seinem ersten auf Deutsch übersetzten Roman (seinem dritten insgesamt) beachtliches, auch klaustrophobisches Talent bewiesen. In "Der Neunte" erzählte das neunte Kind einer bitterarmen Familie von einer Kindheit im Ungarn der sechziger Jahre. Freude empfinden der Junge und seine Geschwister schon, wenn im Winter mal Rauch aus dem Schornstein aufsteigt. Als sie in ein neues Haus umziehen, begeistert die Kinder die Aussicht auf das erste Badezimmer ihres Lebens. Doch der Vater beschlagnahmt es sofort, um dort eine Dunkelkammer einzurichten und Heiligenbilder en masse für die von den Kommunisten bekämpfte Kirche zu produzieren.
Solcher Galgenhumor steht dem Erzähler in "Ein anderer Tod" nicht zu Gebote. Seine verzweifelten Versuche, durchs Vergessen allgegenwärtigen Bedrohungen zu entkommen, lässt Innen- wie Außenwelt schemenhaft werden. Die Beobachtung der Außenwelt wird zunehmend panisch, alles scheint undurchschaubar. Dem zeitweisen Verlust des Selbst korrespondiert einer der Welt. Die Einrichtung ist nicht als Kunstgalerie zu erkennen, der durch sie marschierende Erzähler nicht immer als Aufseher. Ästhetisch führt diese angstgetriebene Verschattung zu einem Erzählen, das über lange Strecken an den Nouveau Roman erinnert.
Die düstere, rätselhafte und zeitlose Atmosphäre wird von Erinnerungsresten durchbrochen. Begegnungen mit früheren Kollegen und Schülern rufen dem Verlassenen ins Gedächtnis, dass er früher Universitätsdozent und Gymnasiallehrer für Literatur und Ästhetik war und in den Sommermonaten in Deutschland, der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern auf der Straße und in Restaurants klassische Musik gespielt hatte. Ferenc Barnás selbst hat tatsächlich alle diese und sogar noch einige weitere Berufe ausgeübt: Er war zudem Postbote, Bergmann, Hilfsarbeiter, Fahrer, Bibliothekar und Erzieher in einem Heim für geistig behinderte Kinder.
In "Ein anderer Tod" erspart Barnás dem Leser keine Not. Die Lektüre vermag, Atemnot auszulösen. Sein zweiter Roman, wieder von Eva Zador in ein drängendes Deutsch übersetzt und 2013 als das beste ungarische Buch des Jahres ausgezeichnet, erzählt mit großem Ernst und ohne avantgardistische Verrenkungen von einer Existenz nahe am Nullpunkt. Die am Ende angedeutete Teilrekonvaleszenz verdankt sich dem Schreiben: Das Manuskript bietet dem Anderen im Protagonisten einen Ort. Das Schreiben entlastet von der gefürchteten, angsterregenden Parallelwelt, und es führt dank eines Stipendiums aus der Galerie hinaus in die Vereinigten Staaten. Es gibt also Anlass zur Hoffnung. Wenn dazu noch Kraft verblieben sein sollte.
JÖRG PLATH.
Ferenc Barnás: "Ein anderer Tod". Roman.
Aus dem Ungarischen von Eva Zador.
Nischen Verlag, Wien 2016. 338 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Jörg Plath hat Ferenc Barnas' zweiten von Eva Zador brillant ins Deutsche übersetzten Roman "Ein anderer Tod" geradezu mit "Atemnot" gelesen. Direkt in die dunkelsten "Verliese einer beinahe zerstörten Seele" führte den Kritiker die Geschichte um einen ehemaligen Dozenten für Literatur und Ästhetik, der derart an der Kränkung des Verlassenwerdens leidet, dass er nicht nur seine Wohnungsfenster zum Selbstschutz vergittern lässt und sich meist in einer Psychiatrie-ähnlichen Kunstgalerie vor der Außenwelt verschanzt, sondern bei seinen Streifzügen durch Budapest mit selektivem Blick nur noch Obdachlose, Trinker, Kranke und Verworfene wahrnimmt. Gelegentlich fühlt sich Plath nicht nur an Rilkes "Malte Laurids Brigge", sondern auch an den Nouveau Roman erinnert: Insbesondere bewundert er, wie der Autor durch den panischen Blick Innen- und Außenwelt verschwimmen lässt und die mysteriös-finstere Atmosphäre immer wieder durch Erinnerungsfetzen zerreißt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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