In einer Großstadt bricht ein Bus durch die Straßendecke hindurch in einen U-Bahn-Tunnel. Mehrere Menschen sterben. Zwei von ihnen - ein Mann Mitte dreißig und eine junge Frau - können erst nach Wochen geborgen werden. Unter dessen fristen die beiden eine Existenz in einem Reich zwischen Leben und Tod, Träumen und Ahnungen, Tanz und Taumel. Sie finden sich wieder in der dünnen Wand zwischen zwei Wohnungen, einem leeren Raum zwischen zwei fremden Leben, in dem nur sie sich bewegen können. Sie versuchen, den Abschied hinauszuzögern, den Abschied von ihren Irrtümern und sorgsam verborgenen Gefühlen, liebevollen und erschreckenden Erinnerungen. Und wenn sie auch nicht umkehren können, verändert sich auf dem letzten Stück Weg doch noch einmal ihr Leben und das der Menschen zu beiden Seiten der Wand - unbemerkt vom Rest der sie umgebenden Welt.'Ein anderes Blau' erschien 2008 nur in einer Kleinstauflage und ist seit Jahren vergriffen. Für diese Ausgabe hat Benjamin Stein den Text komplett überarbeitet und mit einem neuen Nachwort versehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.07.2015Sieben Personen entdecken ihren Autor
Freigeist der deutschen Literatur: Benjamin Steins Stimmencollage "Ein anderes Blau" in Neuausgabe
Vor sieben Jahren ist Benjamin Steins Buch schon einmal erschienen, damals im Auftaktprogramm eines von ihm mitbegründeten ambitionierten Münchner Kleinverlags namens "edition neue moderne" (unentbehrlich die ambitionierte Kleinschreibweise), dessen erste drei Titel auch die letzten blieben. Als Titelbild wählte Stein seinerzeit das berühmte, 1960 im Rahmen der Performance "Sprung ins Leere" entstandene Bild des aus dem Fenster hechtenden Yves Klein aus. Das war doppelt witzig von Stein, denn einerseits spielt ein entscheidender Teil seiner Geschichte in der Zwischenwand eines Hauses, so dass Kleins Fensterflug wie eine Befreiung aus dieser Lage betrachtet werden kann, zum anderen lautet der Titel des Steinschen Textes "Ein anderes Blau", und an was könnte man bei Yves Klein schon denken außer an seine legendären monochrom blauen Gemälde? Der "Sprung ins Leere" wurde auf diese Weise benutzt zu einer doppelten Alternativsetzung, und das ist Benjamin Steins literarisches Programm von Beginn an: neue Möglichkeiten aufzeigen.
Nun gibt es die Möglichkeit, das längst vergriffene Buch wieder zu lesen, denn ein anderer, etwas größerer Kleinverlag, Verbrecher in Berlin, hat es überarbeitet ins Programm genommen und ihm dafür eine ganz neue Optik verpasst: monochrom (wie bei Verbrecher üblich) reinblau, was schon wieder zu perfekt zum Titel passt. Denn der beruht auf der Äußerung einer der beiden Zwischenwandbewohner: "Was ich Schwarz nenne, ist nur ein anderes Blau für den Himmel." So gesehen, wäre eine schwarze die perfekte Gestaltung des Buchs gewesen.
Auch deshalb, weil im Schwarz alles verschwindet, und im Grunde ist das der Ausgangspunkt für Steins Buch gewesen. Nach seinem Romandebüt "Das Alphabet des Juda Liva", der im vergangenen Jahr gleichfalls neu überarbeitet beim Verbrecher-Verlag erschien, nunmehr aber als "Das Alphabet des Rabbi Löw", war der 1970 in Ost-Berlin geborene Stein nach München umgezogen, wo er einem Brotberuf nachging. In der Nähe seiner Wohnung hatte sich kurz vorher ein Unfall ereignet: Ein Bus war in einen durch U-Bahn-Arbeiten gebildeten Hohlraum gestürzt, drei Insassen starben, zwei davon konnten erst Monate später geborgen werden.
Diese beiden Personen, die wie Schrödingers Katze im Unbestimmten zwischen Leben und Tod verbleiben mussten, wählt Stein zu seinen Protagonisten. Bei ihm heißen sie Nadia und Richard und sind zufällig schon vor dem Einsteigen in den Bus aufeinander aufmerksam geworden. In ihrer Schattenexistenz beziehen sie als Stimmen die Wand zwischen zwei Wohnungen in einem Mietshaus, in deren einer die sechzehnjährige Nina Lang lebt, in der anderen der Lehrer Daniel Klein. Schon diese Nachnamen weisen sie als füreinander ideale Ergänzungen aus, und tatsächlich vermitteln die Stimmen der Toten eine Neugier aufeinander durch die Wand hindurch.
Auch Nina und Daniel vernehmen wir nur als Stimmen, wie der ganze Text unterteilt ist in jeweils individuelle kurze Sprachpassagen, die als "Prosa für 7 Stimmen" ausgewiesen sind und damit bewusst eine gesangliche Reminiszenz wählen. Das Buch ist zudem in drei Teile gegliedert, womit Stein an die Sonatenform anknüpft. Seine sieben Stimmen versammeln neben den vier schon genannten Figuren noch Ninas Mutter Eva, die mit einem neuen Partner zusammengezogen ist, was die Tochter zum weitgehenden Rückzug in ihr neues Zimmer provoziert, und eine nur dreimal erklingende anonyme Stimme, die als lyrisches Ich inszeniert ist. Als siebte Stimme wählt Stein schließlich Daniels zweites, nämlich zukünftiges Ich, das nach einem Suizidversuch neu in die Welt finden muss.
So wird aus der scheinbar hoffnungsvollen Geschichte der von Toten zum Leben animierten Wohnungnachbarn eine bei genauer Lektüre doch tiefschwarze Erzählung. Die aber mit einem literarischen Geschick geschrieben ist, die für einen Mittzwanziger kaum weniger gespenstisch ist als sein Thema. Wie reif war Stein damals schon! Doch er kam damit zu früh: Mehr als zehn Jahre lang, so berichtet er in seinem neuen Nachwort, lag "Ein anderes Blau" unpubliziert herum, und hätte er's schließlich nicht selbst verlegt, wäre es wohl nie herausgekommen. In diesem Jahrzehnt des Wartens schrieb er auch nichts anderes - was für ein Verlust für die deutsche Literatur.
Mittlerweile gilt Stein als eine von deren bestimmenden Größen, und so ist es wunderbar, dass bei Verbrecher die alten Texte neu erscheinen, während der Autor sonst mit Beck einen großen Publikumsverlag für seine Arbeiten gefunden hat. Dass Stein die früheren Publikationen in neue Fassungen kleidet, ist nur konsequent angesichts seines strengen Formwillens. Dass bei "Ein anderes Blau" der Zugewinn gegenüber der Erstausgabe vor allem im umfangreichen Nachwort liegt, hat seinen Grund darin, dass schon die ursprüngliche Fassung jenen Sog entwickelte, den Texte vermitteln, die ihr Publikum zu Mitautoren machen. Niemand wird "Ein anderes Blau" so lesen wie jemand weiterer, denn Stein erzählt ins Offene hinaus. Das beherrscht derzeit keiner wie er. Und wie "Ein anderes Blau" beweist, stand er damit auch schon vorher einsam da.
ANDREAS PLATTHAUS
Benjamin Stein: "Ein anderes Blau". Prosa für 7 Stimmen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015. 107 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Freigeist der deutschen Literatur: Benjamin Steins Stimmencollage "Ein anderes Blau" in Neuausgabe
Vor sieben Jahren ist Benjamin Steins Buch schon einmal erschienen, damals im Auftaktprogramm eines von ihm mitbegründeten ambitionierten Münchner Kleinverlags namens "edition neue moderne" (unentbehrlich die ambitionierte Kleinschreibweise), dessen erste drei Titel auch die letzten blieben. Als Titelbild wählte Stein seinerzeit das berühmte, 1960 im Rahmen der Performance "Sprung ins Leere" entstandene Bild des aus dem Fenster hechtenden Yves Klein aus. Das war doppelt witzig von Stein, denn einerseits spielt ein entscheidender Teil seiner Geschichte in der Zwischenwand eines Hauses, so dass Kleins Fensterflug wie eine Befreiung aus dieser Lage betrachtet werden kann, zum anderen lautet der Titel des Steinschen Textes "Ein anderes Blau", und an was könnte man bei Yves Klein schon denken außer an seine legendären monochrom blauen Gemälde? Der "Sprung ins Leere" wurde auf diese Weise benutzt zu einer doppelten Alternativsetzung, und das ist Benjamin Steins literarisches Programm von Beginn an: neue Möglichkeiten aufzeigen.
Nun gibt es die Möglichkeit, das längst vergriffene Buch wieder zu lesen, denn ein anderer, etwas größerer Kleinverlag, Verbrecher in Berlin, hat es überarbeitet ins Programm genommen und ihm dafür eine ganz neue Optik verpasst: monochrom (wie bei Verbrecher üblich) reinblau, was schon wieder zu perfekt zum Titel passt. Denn der beruht auf der Äußerung einer der beiden Zwischenwandbewohner: "Was ich Schwarz nenne, ist nur ein anderes Blau für den Himmel." So gesehen, wäre eine schwarze die perfekte Gestaltung des Buchs gewesen.
Auch deshalb, weil im Schwarz alles verschwindet, und im Grunde ist das der Ausgangspunkt für Steins Buch gewesen. Nach seinem Romandebüt "Das Alphabet des Juda Liva", der im vergangenen Jahr gleichfalls neu überarbeitet beim Verbrecher-Verlag erschien, nunmehr aber als "Das Alphabet des Rabbi Löw", war der 1970 in Ost-Berlin geborene Stein nach München umgezogen, wo er einem Brotberuf nachging. In der Nähe seiner Wohnung hatte sich kurz vorher ein Unfall ereignet: Ein Bus war in einen durch U-Bahn-Arbeiten gebildeten Hohlraum gestürzt, drei Insassen starben, zwei davon konnten erst Monate später geborgen werden.
Diese beiden Personen, die wie Schrödingers Katze im Unbestimmten zwischen Leben und Tod verbleiben mussten, wählt Stein zu seinen Protagonisten. Bei ihm heißen sie Nadia und Richard und sind zufällig schon vor dem Einsteigen in den Bus aufeinander aufmerksam geworden. In ihrer Schattenexistenz beziehen sie als Stimmen die Wand zwischen zwei Wohnungen in einem Mietshaus, in deren einer die sechzehnjährige Nina Lang lebt, in der anderen der Lehrer Daniel Klein. Schon diese Nachnamen weisen sie als füreinander ideale Ergänzungen aus, und tatsächlich vermitteln die Stimmen der Toten eine Neugier aufeinander durch die Wand hindurch.
Auch Nina und Daniel vernehmen wir nur als Stimmen, wie der ganze Text unterteilt ist in jeweils individuelle kurze Sprachpassagen, die als "Prosa für 7 Stimmen" ausgewiesen sind und damit bewusst eine gesangliche Reminiszenz wählen. Das Buch ist zudem in drei Teile gegliedert, womit Stein an die Sonatenform anknüpft. Seine sieben Stimmen versammeln neben den vier schon genannten Figuren noch Ninas Mutter Eva, die mit einem neuen Partner zusammengezogen ist, was die Tochter zum weitgehenden Rückzug in ihr neues Zimmer provoziert, und eine nur dreimal erklingende anonyme Stimme, die als lyrisches Ich inszeniert ist. Als siebte Stimme wählt Stein schließlich Daniels zweites, nämlich zukünftiges Ich, das nach einem Suizidversuch neu in die Welt finden muss.
So wird aus der scheinbar hoffnungsvollen Geschichte der von Toten zum Leben animierten Wohnungnachbarn eine bei genauer Lektüre doch tiefschwarze Erzählung. Die aber mit einem literarischen Geschick geschrieben ist, die für einen Mittzwanziger kaum weniger gespenstisch ist als sein Thema. Wie reif war Stein damals schon! Doch er kam damit zu früh: Mehr als zehn Jahre lang, so berichtet er in seinem neuen Nachwort, lag "Ein anderes Blau" unpubliziert herum, und hätte er's schließlich nicht selbst verlegt, wäre es wohl nie herausgekommen. In diesem Jahrzehnt des Wartens schrieb er auch nichts anderes - was für ein Verlust für die deutsche Literatur.
Mittlerweile gilt Stein als eine von deren bestimmenden Größen, und so ist es wunderbar, dass bei Verbrecher die alten Texte neu erscheinen, während der Autor sonst mit Beck einen großen Publikumsverlag für seine Arbeiten gefunden hat. Dass Stein die früheren Publikationen in neue Fassungen kleidet, ist nur konsequent angesichts seines strengen Formwillens. Dass bei "Ein anderes Blau" der Zugewinn gegenüber der Erstausgabe vor allem im umfangreichen Nachwort liegt, hat seinen Grund darin, dass schon die ursprüngliche Fassung jenen Sog entwickelte, den Texte vermitteln, die ihr Publikum zu Mitautoren machen. Niemand wird "Ein anderes Blau" so lesen wie jemand weiterer, denn Stein erzählt ins Offene hinaus. Das beherrscht derzeit keiner wie er. Und wie "Ein anderes Blau" beweist, stand er damit auch schon vorher einsam da.
ANDREAS PLATTHAUS
Benjamin Stein: "Ein anderes Blau". Prosa für 7 Stimmen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015. 107 S., geb., 19,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Platthaus freut sich, dass mit "Ein anderes Blau" eines der Frühwerke Benjamin Steins nun in neuer Edition wiederentdeckt werden kann. Denn schon in dieser großartigen "Stimmencollage" offenbart der Autor eine Einzigartigkeit und Bannkraft, die noch heute ihresgleichen sucht, schwärmt der Kritiker. Er lauscht hier sieben Stimmen, einige davon bereits tot, aber doch noch gefangen zwischen zwei Wohnungswänden; die Erzählung ist in Sonatenform gehalten, aber "ins Offene hinaus" erzählt, berichtet Platthaus. Nicht zuletzt dank des ausgiebigen Nachworts lohnt die Lektüre dieses meisterlichen Frühwerks, urteilt der hingerissene Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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