"Ich will keine Geschichte erzählen." So läßt Bove die Lebensnotizen seines Helden Jean-Marie Thely beginnen: uneheliche Geburt, unruhige Kindheit, mangelhafte Schulbildung, lebenslange Unbehaustheit. Einen Platz unter den Menschen zu finden, wünscht Thely sich, aber das unerhörte Ereignis, auf das er wie auf eine Erlösung wartet, bleibt aus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.1996Glücklicher Pessimist
Emmanuel Bove beschreibt das Leben eines Sonderlings
Einer englischen Weisheit zufolge besteht jeder Mensch eigentlich aus dreien: dem Menschen, der er zu sein glaubt, demjenigen, den die anderen sich ausdenken, schließlich aus dem Reflex dieser Meinung auf ihn selbst (what he thinks the others think he is). Im Lauf des Lebens werden die drei Typen einander angenähert. Wer schwach ist, paßt sich an, wer stark ist, zwingt sein Eigenbild der Umwelt auf.
Nicht so der Außenseiter in Emmanuel Boves gleichnamigem Roman. Tag für Tag, und oft auch nachts, versucht er zu ergründen, was die anderen von ihm halten. Dabei sind die Äußerungen der anderen, ihre Worte, Gesten und Handlungen, nur das Spielmaterial seiner Deutungen, die immer wieder neu in Gang gebracht werden können. Die Frage, wer er sei, könnte er nicht beantworten, weil er in einem ewigen Findeprozeß begriffen, in einen Irrgarten der Meinungen verstrickt ist. So stößt er den Seufzer aus, der oft als tiefste Sehnsucht auch des Autors gelesen worden ist: Vom Leben habe er nichts Außergewöhnliches erwartet, nicht Geld, nicht Ruhm, nicht Freundschaft: "Es ist ein Platz unter den Menschen, ein Platz für mich, ein Platz, der mir ohne Neid zugestanden würde, weil er gar nichts Beneidenswertes hätte. Er wäre einfach respektabel."
Das hört sich bescheiden an und ist doch viel verlangt, zu viel offenbar für Jean-Marie Thély, den Sohn eines Feldwebels und eines Dienstmädchens, sein Vater ist dazu noch offiziell "unbekannt", er hat keinen Beruf und keine besondere Neigung, außer der, ein gutes Leben ohne besondere eigene Anstrengung zu führen. Meistens hat er gerade so viel Geld, woher, bleibt offen, daß er in einem bescheidenen Hotel wohnen und in einem billigen Restaurant essen kann.
So quält er sich, verzehrt sich in Vermutungen, wie er diese Bemerkung und jenes Lächeln ausdeuten könnte, während ihm schon das pure Glück in Gestalt einer reichen Heirat in den Schoß fällt. Denise, das Mädchen aus gutem Hause, heiratet ihn allen Widerständen der Familie zum Trotz.
Der jugendliche Kopfschüttler hat, so ist dem Roman, aber nicht seinem Gedankenkarussell zu entnehmen, Glück bei den Frauen. Aber er ist so gebaut, daß er die Zeit vor der Hochzeit am liebsten damit ausfüllt, zu beobachten, ob die vom Schwiegervater schließlich gespendete Freundlichkeit vorgespiegelt ist oder echt. Es könnte ja sein, daß er als brauchbarer Partner auch fürs Geschäft entdeckt würde. Über Denises Liebe sinniert er nicht. Daß sie ihn mag, ist ein fait accompli, an dessen Ablauf er keinen Gedanken verliert. Liebes- und Eheszenen werden ausgespart, Denise bleibt schattenhaft. Nach kurzer Zeit stirbt sie, die Krankheit bleibt ungenannt, der Ehemann ist verzweifelt und achtet doch in der erprobten Arbeitsweise auf die falschen Leidensmienen der Verwandten. Er flieht das Begräbnis und schleicht sich unbemerkt zum Grab.
Bove macht es sich leicht, zum Schluß zu kommen. Jean-Marie trifft zufällig Denises Freundin Solange und nimmt wieder seine Lieblingsrolle an, die des unaufdringlichen Werbers: "Ich freue mich, so dicht neben ihr zu laufen, als wäre sie eine enge Freundin, eine Schwester. Wir sind gleichwertig, Denise und ich sind es nie gewesen . . . Gleichheit ist das Ideal meines Lebens. Es nieselt. Für den Augenblick ist alles vollkommen."
In diesen Zeilen steckt er ganz, der glückliche Schwarzseher, dem das Nieseln nicht entgeht. Mitten im Glück fällt dem sonderbaren Hans im Glück ein, daß dieses Zusammentreffen nur eine Minute seines Lebens ausmacht. Er bewundert sich nicht, sondern er wundert sich: "Sie akzeptiert, daß ich sie reizend finde. Sie akzeptiert sogar, daß ein Mann wie ich ihr das sagt. Ich denke an die, die wissen, wer ich bin." Der Minderwertigkeitskomplex tritt so unfehlbar ein wie unversehens das stolze Bewußtsein, jemand Besonderes zu sein.
Man erfährt nicht, wie es mit Solange weitergeht, wohl aber, was Jean-Marie sich für den nächsten Lebensabschnitt vornimmt. Wird es Krieg geben, so will er diesmal fallen oder sich als Held bewähren. Auf jeden Fall sieht er nun etwas Außergewöhnliches und Unvorhersehbares auf sich zukommen. Dann wird er auch die Fortsetzung dieser seiner Memoiren schreiben und kann schon jetzt versprechen, daß die Leser nicht werden glauben können, daß sie von demselben Mann geschrieben worden sind.
Emmanuel Bove kam nicht mehr dazu, diese Dur-Fortsetzung seines Sonderlinglebens zu schreiben. Er hatte Glück wie sein Jean-Marie und heiratete 1930 nicht gerade Denise, aber Louise, eine reiche Erbin aus dem Elsaß, Jüdin und Kommunistin, das klang 1930 noch gut zusammen. Im Jahr 1938 arbeitete er an seinem Außenseiter-Roman, und 1939 kam der Krieg mit der außergewöhnlichen Wendung, daß es ihn mit seiner Louise noch Algier verschlug. Da war die Elite der französischen Literatur versammelt, aber es half ihm nichts, er erkrankte an Malaria und starb kurz nach dem Ende des Kriegs, am 13. Juli 1945, in Paris.
Emmanuel Bove wurde in der Familiengruft Louises beigesetzt. Alle seine Romane sind in den siebziger und achtziger Jahren wiederauferstanden, die meisten von ihnen sind auch in einer Übersetzung ins Deutsche zu haben. WERNER ROSS
Emmanuel Bove: "Ein Außenseiter". Aus dem Französischen übersetzt von Dirk Hemjeoltmanns. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bettina Augustin. Manholt Verlag, Bremen 1995. 208 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emmanuel Bove beschreibt das Leben eines Sonderlings
Einer englischen Weisheit zufolge besteht jeder Mensch eigentlich aus dreien: dem Menschen, der er zu sein glaubt, demjenigen, den die anderen sich ausdenken, schließlich aus dem Reflex dieser Meinung auf ihn selbst (what he thinks the others think he is). Im Lauf des Lebens werden die drei Typen einander angenähert. Wer schwach ist, paßt sich an, wer stark ist, zwingt sein Eigenbild der Umwelt auf.
Nicht so der Außenseiter in Emmanuel Boves gleichnamigem Roman. Tag für Tag, und oft auch nachts, versucht er zu ergründen, was die anderen von ihm halten. Dabei sind die Äußerungen der anderen, ihre Worte, Gesten und Handlungen, nur das Spielmaterial seiner Deutungen, die immer wieder neu in Gang gebracht werden können. Die Frage, wer er sei, könnte er nicht beantworten, weil er in einem ewigen Findeprozeß begriffen, in einen Irrgarten der Meinungen verstrickt ist. So stößt er den Seufzer aus, der oft als tiefste Sehnsucht auch des Autors gelesen worden ist: Vom Leben habe er nichts Außergewöhnliches erwartet, nicht Geld, nicht Ruhm, nicht Freundschaft: "Es ist ein Platz unter den Menschen, ein Platz für mich, ein Platz, der mir ohne Neid zugestanden würde, weil er gar nichts Beneidenswertes hätte. Er wäre einfach respektabel."
Das hört sich bescheiden an und ist doch viel verlangt, zu viel offenbar für Jean-Marie Thély, den Sohn eines Feldwebels und eines Dienstmädchens, sein Vater ist dazu noch offiziell "unbekannt", er hat keinen Beruf und keine besondere Neigung, außer der, ein gutes Leben ohne besondere eigene Anstrengung zu führen. Meistens hat er gerade so viel Geld, woher, bleibt offen, daß er in einem bescheidenen Hotel wohnen und in einem billigen Restaurant essen kann.
So quält er sich, verzehrt sich in Vermutungen, wie er diese Bemerkung und jenes Lächeln ausdeuten könnte, während ihm schon das pure Glück in Gestalt einer reichen Heirat in den Schoß fällt. Denise, das Mädchen aus gutem Hause, heiratet ihn allen Widerständen der Familie zum Trotz.
Der jugendliche Kopfschüttler hat, so ist dem Roman, aber nicht seinem Gedankenkarussell zu entnehmen, Glück bei den Frauen. Aber er ist so gebaut, daß er die Zeit vor der Hochzeit am liebsten damit ausfüllt, zu beobachten, ob die vom Schwiegervater schließlich gespendete Freundlichkeit vorgespiegelt ist oder echt. Es könnte ja sein, daß er als brauchbarer Partner auch fürs Geschäft entdeckt würde. Über Denises Liebe sinniert er nicht. Daß sie ihn mag, ist ein fait accompli, an dessen Ablauf er keinen Gedanken verliert. Liebes- und Eheszenen werden ausgespart, Denise bleibt schattenhaft. Nach kurzer Zeit stirbt sie, die Krankheit bleibt ungenannt, der Ehemann ist verzweifelt und achtet doch in der erprobten Arbeitsweise auf die falschen Leidensmienen der Verwandten. Er flieht das Begräbnis und schleicht sich unbemerkt zum Grab.
Bove macht es sich leicht, zum Schluß zu kommen. Jean-Marie trifft zufällig Denises Freundin Solange und nimmt wieder seine Lieblingsrolle an, die des unaufdringlichen Werbers: "Ich freue mich, so dicht neben ihr zu laufen, als wäre sie eine enge Freundin, eine Schwester. Wir sind gleichwertig, Denise und ich sind es nie gewesen . . . Gleichheit ist das Ideal meines Lebens. Es nieselt. Für den Augenblick ist alles vollkommen."
In diesen Zeilen steckt er ganz, der glückliche Schwarzseher, dem das Nieseln nicht entgeht. Mitten im Glück fällt dem sonderbaren Hans im Glück ein, daß dieses Zusammentreffen nur eine Minute seines Lebens ausmacht. Er bewundert sich nicht, sondern er wundert sich: "Sie akzeptiert, daß ich sie reizend finde. Sie akzeptiert sogar, daß ein Mann wie ich ihr das sagt. Ich denke an die, die wissen, wer ich bin." Der Minderwertigkeitskomplex tritt so unfehlbar ein wie unversehens das stolze Bewußtsein, jemand Besonderes zu sein.
Man erfährt nicht, wie es mit Solange weitergeht, wohl aber, was Jean-Marie sich für den nächsten Lebensabschnitt vornimmt. Wird es Krieg geben, so will er diesmal fallen oder sich als Held bewähren. Auf jeden Fall sieht er nun etwas Außergewöhnliches und Unvorhersehbares auf sich zukommen. Dann wird er auch die Fortsetzung dieser seiner Memoiren schreiben und kann schon jetzt versprechen, daß die Leser nicht werden glauben können, daß sie von demselben Mann geschrieben worden sind.
Emmanuel Bove kam nicht mehr dazu, diese Dur-Fortsetzung seines Sonderlinglebens zu schreiben. Er hatte Glück wie sein Jean-Marie und heiratete 1930 nicht gerade Denise, aber Louise, eine reiche Erbin aus dem Elsaß, Jüdin und Kommunistin, das klang 1930 noch gut zusammen. Im Jahr 1938 arbeitete er an seinem Außenseiter-Roman, und 1939 kam der Krieg mit der außergewöhnlichen Wendung, daß es ihn mit seiner Louise noch Algier verschlug. Da war die Elite der französischen Literatur versammelt, aber es half ihm nichts, er erkrankte an Malaria und starb kurz nach dem Ende des Kriegs, am 13. Juli 1945, in Paris.
Emmanuel Bove wurde in der Familiengruft Louises beigesetzt. Alle seine Romane sind in den siebziger und achtziger Jahren wiederauferstanden, die meisten von ihnen sind auch in einer Übersetzung ins Deutsche zu haben. WERNER ROSS
Emmanuel Bove: "Ein Außenseiter". Aus dem Französischen übersetzt von Dirk Hemjeoltmanns. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Bettina Augustin. Manholt Verlag, Bremen 1995. 208 S., geb., 39,80 DM.
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