Produktdetails
- Balázs, Béla, Ausgewählte literarische Werke in Einzelausgaben 2
- Verlag: Das Arsenal
- Seitenzahl: 160
- Erscheinungstermin: 1. Quartal 2017
- Deutsch
- Abmessung: 205mm x 125mm x 11mm
- Gewicht: 196g
- ISBN-13: 9783931109301
- ISBN-10: 3931109305
- Artikelnr.: 11110855
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.06.2003Man muß sich wundern!
Am Anfang war das Feuilleton: Die Welt, wie Béla Balázs sie sah
Es gehört zum Erfolg des Feuilletons, daß es seine Urform historisch hat werden lassen. Ein Feuilleton begann einmal so: "Ich habe unlängst durch das Mikroskop ein lebendiges Zellenwesen gesehen. Aber das Zellenwesen hat mich nicht gesehen. Dies hat mein Weltbild tief erschüttert." Besser kann man nicht staunen über eine Welt, in der jeder im selben etwas anderes sieht.
Daß man nicht vergißt sich zu wundern, darin liegt das Geheimnis des Feuilletons. Und wenn man bloß damit beginnt, daß man sich wundert, wie man das Sich-Wundern überhaupt je vergessen konnte. Béla Balázs, der ungarische Regisseur, Filmkritiker und Literat, der eigentlich Herbert Bauer hieß, hatte der Dichter Ungarns werden wollen. Statt dessen saß er 1920 in Wien - als deutscher Schriftsteller, Kritiker und Feuilletonist, der er nie hatte sein wollen. Wie sollte er das Sich-Wundern unter solchen Umständen vergessen oder gar verlernen? Er war 1920 vor Admiral Horthy und dem weißen Terror gegen die Anhänger der Räterepublik nach Österreich geflohen, wohin schon viele seiner Bekannten und Freunde ins Exil gegangen waren: Georg Lukács, Karl Mannheim, Julia Láng sowie Balázs' liebste Gesprächspartnerin, Anna Lesznai, eine begnadete Märchenerzählerin und Künstlerin. Märchen waren zu jener Zeit groß in Mode, und auch Balázs wird bald mit nachempfundenen chinesischen Märchen die Aufmerksamkeit der literarischen Szene in Wien wecken. Zwar ist er nach wie vor ein Anhänger der kommunistischen Idee, aber anders als Lukács beteiligt er sich in Wien nicht an der Partei- oder Untergrundarbeit. Balázs will Fuß fassen im Wiener Kulturleben, und es gelingt ihm fast mühelos. Er ist gefragt als Filmkritiker und hat endlich Geld, eine Schreibmaschine zu kaufen. Und er schreibt. Neben Kritiken und Drehbüchern vor allem Feuilletons. Hanno Loewy, dem wir diese schöne und verdienstvolle Sammlung verdanken, hat völlig recht, wenn er in seinem Nachwort feststellt, daß diese Wiener Feuilletons zum Schönsten zählen, was das Genre zu bieten hat.
Locken, auf Glatzen gedreht - das braucht der Leser in dieser Sammlung ebensowenig zu fürchten wie fin-de-siècle-Überflüssigkeiten. Balázs ist ein wacher, aber auch abwartender Beobachter, der den Szenen wie den Gedanken Zeit gibt. Lukács hat ihm später vorgeworfen, Balázs habe in Wien mit seinen Artikeln die "metaphysisch-ästhetische Verklärung der Ruhebedürfnisse der Bourgeoisie" betrieben. Nun, was für eine Bourgeoisie, möchte man heute darauf erwidern. Eine Bourgeoisie, die sich mit Balázcs Gedanken zu machen vermag, was es bedeutet, daß Informationen drahtlos, durch Wellen zu uns gelangen. Eine Bourgeoisie, die sich weiterhin mit der sozialeanthropolgischen Dimension des Grüßens nachdenkt oder über das "Schielen der Sinne". Nicht Ablenkung, sondern Konzentration zeichnen die Feuilletons Béla Balázcs aus. Sie entstehen, wenn aus einer genauen Beobachtung ein tiefer Gedanke entsteht, der so leicht schwebt wie ein Schmetterling. Und Balázs läßt die Schmetterlinge fliegen. Diese Feuilletons sind so frisch wie gerade geschrieben.
Nehmen wir zum Beispiel die Türkei. Balázs reist, so schreibt er, nach Konstantinopel - obwohl die Stadt seit 1453 Istanbul heißt - und engagiert einen Führer. Der soll ihm irgendwelche türkische Spezialitäten zeigen, woraufhin der Führer verständnisvoll nickt und fragt: "Wollen Sie eine Türkin, eine Armenierin oder eine Jüdin haben?" Es dauert eine Weile, bis Balázs das Mißverständnis aufklären kann: "Ich will türkische Musik hören und türkische Tänze, die man in Europa nicht hören und sehen kann." Da versteht sein Begleiter endlich und sagt: "Ah, Sie wollen zu den Zigeunern gehen!" In dem Moment hat auch Balázs verstanden. Er ist ganz naiv und vorab einer Exotisierung nationaler Lebenswelten erlegen. Die Lebenswelt, die türkische in diesem Fall, hat dafür nur Verwunderung, weil sie noch voller Selbstverständlichkeit ist. Weil sie selbst gar kein Bewußtsein davon hat, daß sie selbst fremd sein könnte. Von dem Moment an, in dem sie das Fremde an sich selbst entdeckt, wird sie touristisch. Der Tourismus sucht und findet so lange das Fremde, das sich selbst fremd zu finden bereit ist, bis nichts mehr übrig ist und das Fremde künstlich produziert und dann inszeniert werden muß.
Balázs merkt, wie die jungen Türken das spezifisch Türkische als überkommen ablehnen und sich als Europäer fühlen wollen: "Unser besonderer Nationalcharakter soll aber sein, keinen zu haben. Wir wollen Europäer sein. Das ist unsere nationale Idee." Eine Haltung, die noch heute verbreitet ist. Es würde Balázs inspirieren, daß das türkische Bad heute in Deutschland beliebter als in der Türkei ist, jedenfalls so lange, bis die Türken entdecken werden, daß sie immer schon "Wellness" hatten. Da liegt dann die Frage nahe, woher man weiß, daß man weit weg ist. Balázs hat eine Antwort darauf, die nicht nur witzig, sondern wahrscheinlich auch richtig ist. Aber über sie darf der Leser sich nun selber wundern.
MICHAEL JEISMANN
Béla Balázs: "Ein Baedeker der Seele". Und andere Feuilletons aus den Jahren 1920 - 1926. Herausgegeben von Hanno Loewy. Verlag Das Arsenal, Berlin 2002. 160 S., br., 13,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Am Anfang war das Feuilleton: Die Welt, wie Béla Balázs sie sah
Es gehört zum Erfolg des Feuilletons, daß es seine Urform historisch hat werden lassen. Ein Feuilleton begann einmal so: "Ich habe unlängst durch das Mikroskop ein lebendiges Zellenwesen gesehen. Aber das Zellenwesen hat mich nicht gesehen. Dies hat mein Weltbild tief erschüttert." Besser kann man nicht staunen über eine Welt, in der jeder im selben etwas anderes sieht.
Daß man nicht vergißt sich zu wundern, darin liegt das Geheimnis des Feuilletons. Und wenn man bloß damit beginnt, daß man sich wundert, wie man das Sich-Wundern überhaupt je vergessen konnte. Béla Balázs, der ungarische Regisseur, Filmkritiker und Literat, der eigentlich Herbert Bauer hieß, hatte der Dichter Ungarns werden wollen. Statt dessen saß er 1920 in Wien - als deutscher Schriftsteller, Kritiker und Feuilletonist, der er nie hatte sein wollen. Wie sollte er das Sich-Wundern unter solchen Umständen vergessen oder gar verlernen? Er war 1920 vor Admiral Horthy und dem weißen Terror gegen die Anhänger der Räterepublik nach Österreich geflohen, wohin schon viele seiner Bekannten und Freunde ins Exil gegangen waren: Georg Lukács, Karl Mannheim, Julia Láng sowie Balázs' liebste Gesprächspartnerin, Anna Lesznai, eine begnadete Märchenerzählerin und Künstlerin. Märchen waren zu jener Zeit groß in Mode, und auch Balázs wird bald mit nachempfundenen chinesischen Märchen die Aufmerksamkeit der literarischen Szene in Wien wecken. Zwar ist er nach wie vor ein Anhänger der kommunistischen Idee, aber anders als Lukács beteiligt er sich in Wien nicht an der Partei- oder Untergrundarbeit. Balázs will Fuß fassen im Wiener Kulturleben, und es gelingt ihm fast mühelos. Er ist gefragt als Filmkritiker und hat endlich Geld, eine Schreibmaschine zu kaufen. Und er schreibt. Neben Kritiken und Drehbüchern vor allem Feuilletons. Hanno Loewy, dem wir diese schöne und verdienstvolle Sammlung verdanken, hat völlig recht, wenn er in seinem Nachwort feststellt, daß diese Wiener Feuilletons zum Schönsten zählen, was das Genre zu bieten hat.
Locken, auf Glatzen gedreht - das braucht der Leser in dieser Sammlung ebensowenig zu fürchten wie fin-de-siècle-Überflüssigkeiten. Balázs ist ein wacher, aber auch abwartender Beobachter, der den Szenen wie den Gedanken Zeit gibt. Lukács hat ihm später vorgeworfen, Balázs habe in Wien mit seinen Artikeln die "metaphysisch-ästhetische Verklärung der Ruhebedürfnisse der Bourgeoisie" betrieben. Nun, was für eine Bourgeoisie, möchte man heute darauf erwidern. Eine Bourgeoisie, die sich mit Balázcs Gedanken zu machen vermag, was es bedeutet, daß Informationen drahtlos, durch Wellen zu uns gelangen. Eine Bourgeoisie, die sich weiterhin mit der sozialeanthropolgischen Dimension des Grüßens nachdenkt oder über das "Schielen der Sinne". Nicht Ablenkung, sondern Konzentration zeichnen die Feuilletons Béla Balázcs aus. Sie entstehen, wenn aus einer genauen Beobachtung ein tiefer Gedanke entsteht, der so leicht schwebt wie ein Schmetterling. Und Balázs läßt die Schmetterlinge fliegen. Diese Feuilletons sind so frisch wie gerade geschrieben.
Nehmen wir zum Beispiel die Türkei. Balázs reist, so schreibt er, nach Konstantinopel - obwohl die Stadt seit 1453 Istanbul heißt - und engagiert einen Führer. Der soll ihm irgendwelche türkische Spezialitäten zeigen, woraufhin der Führer verständnisvoll nickt und fragt: "Wollen Sie eine Türkin, eine Armenierin oder eine Jüdin haben?" Es dauert eine Weile, bis Balázs das Mißverständnis aufklären kann: "Ich will türkische Musik hören und türkische Tänze, die man in Europa nicht hören und sehen kann." Da versteht sein Begleiter endlich und sagt: "Ah, Sie wollen zu den Zigeunern gehen!" In dem Moment hat auch Balázs verstanden. Er ist ganz naiv und vorab einer Exotisierung nationaler Lebenswelten erlegen. Die Lebenswelt, die türkische in diesem Fall, hat dafür nur Verwunderung, weil sie noch voller Selbstverständlichkeit ist. Weil sie selbst gar kein Bewußtsein davon hat, daß sie selbst fremd sein könnte. Von dem Moment an, in dem sie das Fremde an sich selbst entdeckt, wird sie touristisch. Der Tourismus sucht und findet so lange das Fremde, das sich selbst fremd zu finden bereit ist, bis nichts mehr übrig ist und das Fremde künstlich produziert und dann inszeniert werden muß.
Balázs merkt, wie die jungen Türken das spezifisch Türkische als überkommen ablehnen und sich als Europäer fühlen wollen: "Unser besonderer Nationalcharakter soll aber sein, keinen zu haben. Wir wollen Europäer sein. Das ist unsere nationale Idee." Eine Haltung, die noch heute verbreitet ist. Es würde Balázs inspirieren, daß das türkische Bad heute in Deutschland beliebter als in der Türkei ist, jedenfalls so lange, bis die Türken entdecken werden, daß sie immer schon "Wellness" hatten. Da liegt dann die Frage nahe, woher man weiß, daß man weit weg ist. Balázs hat eine Antwort darauf, die nicht nur witzig, sondern wahrscheinlich auch richtig ist. Aber über sie darf der Leser sich nun selber wundern.
MICHAEL JEISMANN
Béla Balázs: "Ein Baedeker der Seele". Und andere Feuilletons aus den Jahren 1920 - 1926. Herausgegeben von Hanno Loewy. Verlag Das Arsenal, Berlin 2002. 160 S., br., 13,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
"lmue" bietet uns verschiedene Definitionen des Feuilletons an: es besitze die "List der kleinen Form, sich die letzten Worte zu sichern". Eine andere Formel "lmues" lautet, das Feuilleton verkleinere wie die im 19. Jahrhundert so beliebten optischen Geräte die großen Worte und wirbele die Welt durcheinander wie ein Kaleidoskop. Siehe da, der Übergang zu dem ungarischen Filmtheoretiker, Essayisten und Feuilletonisten Bela Balazs ist geschafft. Der hat nämlich eine Zeit lang in Wien für die neugegründete Tageszeitung "Der Tag" geschrieben; und für "lmue" erweist er sich als Meister der kleinen Form. Mit deutlichem Wiener Einschlag, jener typischen Mischung aus "Sentimentalität und Ironie". So versucht Balazs die Geheimnisse des Weihnachtsbaums zu ergründen, philosophiert über seine Bibliothek der nicht gelesenen Bücher oder begeistert sich für Radiodramen und andere neue Medien, in dieser Euphorie vielen Feuilletonisten seiner Zeit sehr ähnlich, stellt "lmue" fest. Ein großes Lob, heißt es in der Rezension, dem Berliner Arsenal Verlag, der diese verdienstvolle Werkausgabe Balazs' hiermit fortsetze.
© Perlentaucher Medien GmbH
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