Yoko Tawada erzählt von einer "Loreley", die sich im Fluss irrt und an der Elbe landet, in Hamburg in den 80er Jahren. Die Identitäten der Figuren in diesem Text sind fließend, zwischen Mann und Frau, Hetero und Homo, Kindheit und Erwachsene-Sein.Jede Öffnung in der Landschaft entpuppt sich als ein Durchgang zu einer anderen Welt: Der Keller in einer Kneipe führt in die islamische Welt, ein botanischer Garten zum Theater, die Elbe zum Rhein, ein Foto im Zimmer nach Tibet ... Dieser Text ist wie Wasser, fließender und freier als Prosa, aber doch ein erzähltes Werk, keine Lyrik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2016Kommt Vermehrung von Vermeer?
Am kommenden Sonntag erhält die in Deutschland lebende Japanerin Yoko Tawada den Kleist-Preis. Und pünktlich zum Ereignis erscheinen zwei neue charakteristische Bücher der Autorin.
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" - der berühmte Titel eines Aufsatzes von Heinrich von Kleist, zu dessen Ehren die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada am 20. November den nach ihm benannten Preis erhält, lässt sich in Bezug auf die Autorin mit Fug und Recht abwandeln in die Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. Der Sog der Sprache, die Lust an der Wortzertrümmerung und Wortneuerfindung haben Yoko Tawada immer fasziniert. Die Texte entwickeln eine eigene Dynamik und einen suggestiven Rhythmus, der die Schreibende fortträgt. Ihre Phantasie ist dabei ungehemmt und grenzenlos. Sie versteht sich als Wortfetischistin, die sich in Sprachlandschaften verliert, neue Orte aufsucht, die es gibt oder nicht gibt, die in jedem Wort nach einem überraschenden Sinn sucht, und dieser Sinn kann auch Un-Sinn sein.
Zur Buchmesse sind zwei, wie immer schmale Bändchen der Autorin erschienen, jeweils nicht länger als knapp mehr als hundert Seiten. "Akzentfrei" ist eine Sammlung von munter assoziierenden Essays; mit "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" legt sie einen "Roman" vor, in dem die Zeilen gesetzt sind wie in einem endlosen Prosagedicht. Der erste Text des Essaybandes lässt sich wie eine feine Ironie auf den Sprachkünstler Kleist lesen, Titel: "Setzmilch". Zunächst geht es um Joghurt und Milch und ihre historischen Traditionen in Europa, über die sogar die Autorin selbst "entsetzt" ist. Dann wird das "Setzen" immer obsessiver, und der Essay endet mit der Feststellung: "Ich setze die Sätze, es klingt etwas streng, aber es geht nicht um eine Festlegung der flüssigen Ideen. Ich setze die Sätze, wie ein wildes Tier in der Setzzeit seine Nachkommen in die Welt setzt. Aus den gesetzten Sätzen soll kein Gesetz werden. Sie sollen besser wie Setzmilch in einen Gärungsprozess geraten."
Festlegungen, genaue Definitionen sind nie die Absicht bei Yoko Tawada, bei ihr soll alles im Fluss bleiben, sich auflösen, andere Formen annehmen, in ständiger Veränderung die Welt betrachten. Das verwirrt den Leser und die Leserin, aber ob die männlich oder weiblich sind, auch das bleibt offen, so wie ihre literarischen Figuren das Geschlecht ohne besondere Gründe wechseln können. Ihr Roman spielt um eine Ich-Erzählerin, den jungen Mann Chris und eine Elsa mit Kater. Natürlich gibt es keine fortlaufende Handlung, die Geschichten um die Personen spinnen sich fort in einem krausen Muster wie beim folgenden Dialog:
"Weißt du, woher das Wort Familie kommt?
Nein.
Von Vermehren.
Von Vermeer? Er hat fünfzehn Kinder
gezeugt.
Und siebenunddreißig Bilder.
Es gibt so viele Tätigkeiten, bei denen die Frauen schwanger werden: Briefelesen,
Milch aus dem Krug gießen, Gitarre spielen
oder
am Tisch einschlafen.
Ja, ja, viel mehr.
Vermeer!"
Die Welt der Bilder hat immer eine besondere Anziehungskraft auf Tawada ausgeübt. Sie stolpern durch ihre Texte, mischen sich vorwitzig ein. So, wenn Suzanne Valadon die Ich-Erzählerin im Jahr 1923 in einer Wanne hockend porträtiert oder wenn eine Tänzerin aus einem Bild von Degas heraussteigt und ein Stück Käse vom Teppich aufhebt oder wenn das Rhinozeros von Albrecht Dürer sich aus dem Kupferstich löst und in Dialog mit den Romanfiguren tritt. Jeanne Mammen, Godfried Schalcken, William Kentridge sind Inspirationsquellen, und sei es nur in schmalen Andeutungen für den Kenner. Alle spielen irgendwie mit im Panoptikum einer surrealen Welt der Sinneswahrnehmungen.
Wie immer bei dieser Autorin sind die Bücher durch Fotos, Schriftzeichen, Ausschnitte aus Kunstwerken ergänzt, um noch eine weitere Ebene des Verstehens einzuziehen. Im Essayband "Akzentfrei" sind es Detailaufnahmen aus den antiken Fresken Pompejis; im Roman "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" begegnet der Leser unter anderem schemenhaften Fotografien, die die Hafenanlagen von Hamburg und die Elbe aufscheinen lassen. Hamburg ist auch der Ort des Geschehens. Hier schlug Yoko Tawada ihre Zelte auf, als sie 1982 nach Deutschland kam. Sie zog ein in eines der alten Kapitänshäuser, direkt am Deich mit Blick auf die Elbe und die vorüberziehenden Schiffe. Damals war sie 22 Jahre alt, 23 Jahre später siedelte sie 2006 nach Berlin über. Hamburg blieb eine elementare Erfahrung, denn hier erfuhr sie erstmals, was es heißt, in und mit und zwischen zwei Kulturen zu leben und nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern auch auf Deutsch zu schreiben.
Bereits im Alter von neunzehn Jahren unternahm Yoko Tawada ihre erste Fahrt gen Westen nach Europa mit der Transsibirischen Eisenbahn. Eine unvergessene Erfahrung, wie sie später erzählt: "Ich habe geschrieben, dass der Mensch zu 80 Prozent aus Wasser besteht, das heißt, wenn ich während dieser Fahrt immer fremdes Wasser trinke, ein europäisches Wasser oder ein Wasser, das jeden Tag europäischer wird, dann werde ich ja selber anders, wenn ich ankomme. Nicht so, dass ich Ich bleibe und die Fremde nur mit Augen beobachte, sondern dass diese langsame Veränderung in mir selbst stattfindet."
Metamorphosen, Verwandlungen führen zu überraschenden Sprüngen. Die Ich-Erzählerin kann einen Raum verlassen und landet mit dem nächsten Schritt im Amsterdamer Rijksmuseum. Und wieder einen Schritt weiter ist sie in Nepal und in Tibet. Nichts hat einen festen Platz. Mit luftiger Leichtigkeit hebelt die Autorin alle Gesetze der Logik und der Schwerkraft aus. Wenn sie etwas nicht interessiert, dann ist es Folgerichtigkeit. Eine unendliche Freiheit strömt aus ihren Texten, seien es Gedichte, Essays, Theaterstücke oder Romane.
Immer wieder hat Tawada betont, in einer anderen Sprache zu schreiben sei ein Abenteuer, ein Seiltanz zwischen den Kulturen, wer nur der Muttersprache verhaftet bleibe, werde feige und einfallslos. Dennoch hat sie immer zweisprachig geschrieben. Ihre Veröffentlichungsliste auf Japanisch ist beeindruckend. Wie im Deutschen hat sie Lyrik, Erzählungen und Romane veröffentlicht - allerdings nie ihre eigenen Werke übersetzt. In Japan hat sie alle großen Literaturpreise erhalten, die das Land zu vergeben hat. Ehrungen in diesem Ausmaße sind ihr in Deutschland nicht widerfahren. Wer ihr folgt, muss sich auf eine literarische Achterbahn begeben und gut festhalten: Yoko Tawadas Sprachkunst enthüllt Sprachverwandtschaften, die dem deutschen Leser oft verschlossen bleiben, weil er blind ist für die Absurditäten, die in manchem Wort stecken. Das Konkrete wird bei ihr plötzlich ganz abstrakt und bleibt doch real. Die menschlichen Beziehungen sind immer hinterfragt, fragwürdig und merkwürdig. Mal mit Humor und Ironie, mal mit erschreckendem Ernst dreht sich die condition humaine. Yoko Tawada ziseliert an der Sprache wie an einem fragilen Kunstwerk, sie ist eine überaus würdige Preisträgerin im Namen von Heinrich von Kleist.
LERKE VON SAALFELD
Yoko Tawada: "Akzentfrei".
Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 140 S., br., 12,- [Euro].
Yoko Tawada: "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende".
Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 125 S., br., 12,- [Euro].
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Am kommenden Sonntag erhält die in Deutschland lebende Japanerin Yoko Tawada den Kleist-Preis. Und pünktlich zum Ereignis erscheinen zwei neue charakteristische Bücher der Autorin.
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" - der berühmte Titel eines Aufsatzes von Heinrich von Kleist, zu dessen Ehren die japanisch-deutsche Schriftstellerin Yoko Tawada am 20. November den nach ihm benannten Preis erhält, lässt sich in Bezug auf die Autorin mit Fug und Recht abwandeln in die Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. Der Sog der Sprache, die Lust an der Wortzertrümmerung und Wortneuerfindung haben Yoko Tawada immer fasziniert. Die Texte entwickeln eine eigene Dynamik und einen suggestiven Rhythmus, der die Schreibende fortträgt. Ihre Phantasie ist dabei ungehemmt und grenzenlos. Sie versteht sich als Wortfetischistin, die sich in Sprachlandschaften verliert, neue Orte aufsucht, die es gibt oder nicht gibt, die in jedem Wort nach einem überraschenden Sinn sucht, und dieser Sinn kann auch Un-Sinn sein.
Zur Buchmesse sind zwei, wie immer schmale Bändchen der Autorin erschienen, jeweils nicht länger als knapp mehr als hundert Seiten. "Akzentfrei" ist eine Sammlung von munter assoziierenden Essays; mit "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" legt sie einen "Roman" vor, in dem die Zeilen gesetzt sind wie in einem endlosen Prosagedicht. Der erste Text des Essaybandes lässt sich wie eine feine Ironie auf den Sprachkünstler Kleist lesen, Titel: "Setzmilch". Zunächst geht es um Joghurt und Milch und ihre historischen Traditionen in Europa, über die sogar die Autorin selbst "entsetzt" ist. Dann wird das "Setzen" immer obsessiver, und der Essay endet mit der Feststellung: "Ich setze die Sätze, es klingt etwas streng, aber es geht nicht um eine Festlegung der flüssigen Ideen. Ich setze die Sätze, wie ein wildes Tier in der Setzzeit seine Nachkommen in die Welt setzt. Aus den gesetzten Sätzen soll kein Gesetz werden. Sie sollen besser wie Setzmilch in einen Gärungsprozess geraten."
Festlegungen, genaue Definitionen sind nie die Absicht bei Yoko Tawada, bei ihr soll alles im Fluss bleiben, sich auflösen, andere Formen annehmen, in ständiger Veränderung die Welt betrachten. Das verwirrt den Leser und die Leserin, aber ob die männlich oder weiblich sind, auch das bleibt offen, so wie ihre literarischen Figuren das Geschlecht ohne besondere Gründe wechseln können. Ihr Roman spielt um eine Ich-Erzählerin, den jungen Mann Chris und eine Elsa mit Kater. Natürlich gibt es keine fortlaufende Handlung, die Geschichten um die Personen spinnen sich fort in einem krausen Muster wie beim folgenden Dialog:
"Weißt du, woher das Wort Familie kommt?
Nein.
Von Vermehren.
Von Vermeer? Er hat fünfzehn Kinder
gezeugt.
Und siebenunddreißig Bilder.
Es gibt so viele Tätigkeiten, bei denen die Frauen schwanger werden: Briefelesen,
Milch aus dem Krug gießen, Gitarre spielen
oder
am Tisch einschlafen.
Ja, ja, viel mehr.
Vermeer!"
Die Welt der Bilder hat immer eine besondere Anziehungskraft auf Tawada ausgeübt. Sie stolpern durch ihre Texte, mischen sich vorwitzig ein. So, wenn Suzanne Valadon die Ich-Erzählerin im Jahr 1923 in einer Wanne hockend porträtiert oder wenn eine Tänzerin aus einem Bild von Degas heraussteigt und ein Stück Käse vom Teppich aufhebt oder wenn das Rhinozeros von Albrecht Dürer sich aus dem Kupferstich löst und in Dialog mit den Romanfiguren tritt. Jeanne Mammen, Godfried Schalcken, William Kentridge sind Inspirationsquellen, und sei es nur in schmalen Andeutungen für den Kenner. Alle spielen irgendwie mit im Panoptikum einer surrealen Welt der Sinneswahrnehmungen.
Wie immer bei dieser Autorin sind die Bücher durch Fotos, Schriftzeichen, Ausschnitte aus Kunstwerken ergänzt, um noch eine weitere Ebene des Verstehens einzuziehen. Im Essayband "Akzentfrei" sind es Detailaufnahmen aus den antiken Fresken Pompejis; im Roman "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende" begegnet der Leser unter anderem schemenhaften Fotografien, die die Hafenanlagen von Hamburg und die Elbe aufscheinen lassen. Hamburg ist auch der Ort des Geschehens. Hier schlug Yoko Tawada ihre Zelte auf, als sie 1982 nach Deutschland kam. Sie zog ein in eines der alten Kapitänshäuser, direkt am Deich mit Blick auf die Elbe und die vorüberziehenden Schiffe. Damals war sie 22 Jahre alt, 23 Jahre später siedelte sie 2006 nach Berlin über. Hamburg blieb eine elementare Erfahrung, denn hier erfuhr sie erstmals, was es heißt, in und mit und zwischen zwei Kulturen zu leben und nicht nur in ihrer Muttersprache, sondern auch auf Deutsch zu schreiben.
Bereits im Alter von neunzehn Jahren unternahm Yoko Tawada ihre erste Fahrt gen Westen nach Europa mit der Transsibirischen Eisenbahn. Eine unvergessene Erfahrung, wie sie später erzählt: "Ich habe geschrieben, dass der Mensch zu 80 Prozent aus Wasser besteht, das heißt, wenn ich während dieser Fahrt immer fremdes Wasser trinke, ein europäisches Wasser oder ein Wasser, das jeden Tag europäischer wird, dann werde ich ja selber anders, wenn ich ankomme. Nicht so, dass ich Ich bleibe und die Fremde nur mit Augen beobachte, sondern dass diese langsame Veränderung in mir selbst stattfindet."
Metamorphosen, Verwandlungen führen zu überraschenden Sprüngen. Die Ich-Erzählerin kann einen Raum verlassen und landet mit dem nächsten Schritt im Amsterdamer Rijksmuseum. Und wieder einen Schritt weiter ist sie in Nepal und in Tibet. Nichts hat einen festen Platz. Mit luftiger Leichtigkeit hebelt die Autorin alle Gesetze der Logik und der Schwerkraft aus. Wenn sie etwas nicht interessiert, dann ist es Folgerichtigkeit. Eine unendliche Freiheit strömt aus ihren Texten, seien es Gedichte, Essays, Theaterstücke oder Romane.
Immer wieder hat Tawada betont, in einer anderen Sprache zu schreiben sei ein Abenteuer, ein Seiltanz zwischen den Kulturen, wer nur der Muttersprache verhaftet bleibe, werde feige und einfallslos. Dennoch hat sie immer zweisprachig geschrieben. Ihre Veröffentlichungsliste auf Japanisch ist beeindruckend. Wie im Deutschen hat sie Lyrik, Erzählungen und Romane veröffentlicht - allerdings nie ihre eigenen Werke übersetzt. In Japan hat sie alle großen Literaturpreise erhalten, die das Land zu vergeben hat. Ehrungen in diesem Ausmaße sind ihr in Deutschland nicht widerfahren. Wer ihr folgt, muss sich auf eine literarische Achterbahn begeben und gut festhalten: Yoko Tawadas Sprachkunst enthüllt Sprachverwandtschaften, die dem deutschen Leser oft verschlossen bleiben, weil er blind ist für die Absurditäten, die in manchem Wort stecken. Das Konkrete wird bei ihr plötzlich ganz abstrakt und bleibt doch real. Die menschlichen Beziehungen sind immer hinterfragt, fragwürdig und merkwürdig. Mal mit Humor und Ironie, mal mit erschreckendem Ernst dreht sich die condition humaine. Yoko Tawada ziseliert an der Sprache wie an einem fragilen Kunstwerk, sie ist eine überaus würdige Preisträgerin im Namen von Heinrich von Kleist.
LERKE VON SAALFELD
Yoko Tawada: "Akzentfrei".
Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 140 S., br., 12,- [Euro].
Yoko Tawada: "Ein Balkonplatz für flüchtige Abende".
Konkursbuch Verlag, Tübingen 2016. 125 S., br., 12,- [Euro].
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