Eine Woche Ferien beim Onkel im Gebirge, eine Woche nur mit Witzen, zartem Herzragout und möglichst wenig Bewegung. Eine Woche weg aus der Stadt und von zu Hause, wo es viel zu laut und hektisch und manchmal auch bedrückend still und dunkel ist. Der Bus bringt das Mädchen mit den ausgeliehenen Holzskiern und der viel zu schweren Reisetasche in eine blendend weiße Winterlandschaft. Die Reise beginnt an einem Sonntag und führt in die Vergangenheit. Damals roch es nach gemütlichen Stunden im Bett, und die Sommer waren lang und warm. Damals haben sich die Eltern noch Geschichten erzählt. Dann kam der Tag, an dem sich alles änderte. Schweigen setzte ein, und vor allem, es wurde kalt.
Die Novelle erzählt eine Familiengeschichte. Sie erzählt von einem tief sitzenden Schmerz, und wie sich Tochter und Eltern davor zu schützen versuchen. Sie erzählt von einem Riß, der Berührungen unmöglich macht, aber das Mädchen weiß, wie sich Freude, Hoffnung, Enttäuschung und Leere anfühlen, wie sie auf der Haut liegen, schmecken und plötzlich am ganzen Körper spürbar werden.
Die Novelle erzählt eine Familiengeschichte. Sie erzählt von einem tief sitzenden Schmerz, und wie sich Tochter und Eltern davor zu schützen versuchen. Sie erzählt von einem Riß, der Berührungen unmöglich macht, aber das Mädchen weiß, wie sich Freude, Hoffnung, Enttäuschung und Leere anfühlen, wie sie auf der Haut liegen, schmecken und plötzlich am ganzen Körper spürbar werden.
"Vorsicht, Probleme. Achtung, Innerlichkeit. Wer beides ertragen kann, ist mit Roswitha Harings sprödem Erstling gut aufgehoben. Die Autorin erzählt aus der Perspektive eines Mädchens, das spürt, wie die alljährlichen Besuche beim Onkel in den Bergen von etwas offenbar Unaussprechlichen überschattet werden. Was genau passiert ist, mag der Kleinen keiner sagen, aber die erfährt vage Enttäuschungen, die sie für sich in Geschmack und Gerüche übersetzt. Der Trick funktioniert - und macht die Novelle zu einem originellen Stück Literatur." (Hörzu)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.04.2003Was heißt schon verheiratet?
Jenseits der Ordnung: Roswitha Harings überzeugendes Debüt
Und wieder ist alles viel zu schön, um wahr zu sein. Zweifel an der Beständigkeit des Kindheitsidylls beschleichen einen bereits auf den ersten paar Seiten. Ein familiäres Traumland leuchtet in geisterhaften Farben auf der erzählerischen Leinwand. Ganz geheuer ist es einem nicht dabei: Wir sehen Vater, Mutter, Schwestern und ihr geschäftiges Treiben in Haus und Garten. Die Mutter schwitzt vor der Abwaschschüssel, im Backofen brutzelt die Leibspeise, die Körbe sind voll von Kirschen, die entsteint werden müssen. Der Vater hantiert im Garten geschäftig mit dem Wasserschlauch. Fröhliche Rufe gehen hin und her. Die Schwestern mit den feuerrot lackierten Zehennägeln tragen im Garten Bikini und Holzlatschen. Schleicht sich eine fremde Katze aufs Terrain, flüchten die Fräuleins mit spitzen Schreien, wie wenn ihre Haut von den Katzenpfoten schon zerkratzt worden wäre.
Es ist ein Schnattern und Schwätzen und Lachen in der Luft, daß es eine Freude ist. Am Sonntagmorgen, wenn die älteren Schwestern mit ihrem toupierten Haar noch lange unter der Bettdecke liegen, versteckt sich die kleine Ich-Erzählerin im Bett der Mutter und hört sich die Geschichten über weit Zurückliegendes an, die sich die Eltern um diese Zeit immer erzählen: verlorene Brillen, ledig und schwanger und Selbstmord im Fluß, Witwer und zweite geizige Ehefrau, Grundstück gekauft und dies und das. Am herrlichsten aber ist es, wenn Onkel und Tante aus dem Gebirge zu Besuch sind. Die Cousinen haben aufgetürmte Frisuren und gebogene Wimpern, lächeln dem Mädchen zu und geben ihm einen Kuß. Und der Onkel erzählt Witze.
Nur die Gesetze der Erzähllogik flüstern uns schon an dieser Stelle zu, daß dieses Szenario auf die Länge keineswegs zur Novelle taugt. Zu sentimental. Zu pläsierlich. Das hat Roswitha Haring mit ihrem Erstling "Ein Bett aus Schnee" aber auch gar nicht vor. Im Gegenteil. Die harmlose Welt, die sie aufbaut, scheint mit dem Unheimlichen merkwürdig verklebt zu sein. Am Anfang sind es nur winzige Ungereimtheiten, die verstören. Ab und zu ein paar Dissonanzen. Der eine oder andere schrille Ton. Je länger die unheilvolle Ruhe währt, desto herrischer beginnen feine Unstimmigkeiten das zauberische Mutter- und Vaterland zu dominieren. Jetzt konstatiert man plötzlich: Das Traute und Treuherzige hat Methode. Es ist die perfekt geschminkte Maske über den Narben des Verdrängten.
Rekapituliert man die Geschichte vom Ende her, sieht man plötzlich glasklar, was einen mißtrauisch gemacht hat: Die Brüche sind von der ersten Zeile an systematisch in den Text eingebaut. Das Iglu zum Beispiel, das der Vater des Nachbarmädchens vor dem Hause baut. Immer mächtiger, immer größer wird das Schneehaus, immer gewaltigere Eisblöcke schichtet der Vater auf. Dabei lächeln sich Vater und Tochter zu, wie wenn sie ein Geheimnis miteinander hätten.
Zugeworfene Türen
Ein andermal fährt die Ich-Erzählerin in die Ferien zu Onkel und Tante. Als sie aus dem Bus aussteigt, findet sie sich in einer fremden Welt wieder. Keiner da, sie abzuholen. Jemand zeigt dem Kind achtlos den weiten Weg den Berg hinauf, es hat sich verlaufen. Dann wieder verändern sich die Geräusche im Haus. Das Kind hört, wie die Mutter in der Küche viel lauter als sonst hantiert. Es ist, wie wenn sie absichtlich Türen zuwerfen, mit den Pfannen zuschlagen würde. Der Abgrund öffnet sich vollends, als das Mädchen eines Morgens die Mutter hinter der Türe weinen hört. Warum ihr Bruder das getan habe, stammelt sie. Und daß sie jetzt ihr eigenes Kind verteidigen müsse.
Das ist, für ein Debüt, doch sehr raffiniert angelegt: diese Gleichzeitigkeit zweier völlig konträrer Kraftfelder. Die 1960 in Leipzig geborene, heute in Köln lebende Autorin leistet noch mehr. Sie hält die Kräfte der Gegenbewegungen - Vereisung und Verflüssigung, Erstarrung und Lebendigsein -, welche das Kind hin- und herreißen, erzählerisch in Schach. Literarisch löst Roswitha Haring das Problem mit einer doppelten Strategie von Sprechen und Sprachlosigkeit, von Reden und Verschweigen. Es spricht für die erzählerische Agilität der Debütantin, daß ihr dieses Verfahren mühelos gelingt. Die beunruhigendsten Vorgänge werden in "Ein Bett aus Schnee" nicht unmittelbar erzählt, sondern ausschließlich in ihrer Wirkung auf das Kind dargestellt.
Radikalität einer Sanftmütigen
Ein weiteres kommt hinzu: Einerseits konstruiert die Autorin eine heile Welt, die übrigens konsequent auf Augenhöhe des Mädchens geschildert wird. Nie ertappt man Roswitha Haring, daß sie ihrer Ich-Erzählerin besserwisserisch über die Schultern schauen oder das Unbegreifliche altklug kommentieren würde. Andererseits treibt sie eine zarte Destruktion der schönen Bilder voran, bis die Risse offen klaffen. Bevor der letzte Vorhang vor der Bühne der Kinderwelt weggerissen ist, gibt sie keine Ruhe.
Es ist die Radikalität einer Sanftmütigen, die hier agiert; und die Methode - das belegt dieses Debüt - wird dabei literarisch erstaunlich produktiv. So gelingt es, das Unsägliche und Unsagbare gleichzeitig zur Sprache zu bringen und dabei immer die Balance zu halten. Wir sehen also zu, wie das Eis wächst und das warme Kinderglück allmählich zum Erstarren zwingt. Wir sehen gleichzeitig, wie das überwache Kind mit allen Kräften gegen das Eis trommelt und es zum Zersplittern bringt.
Die Katastrophe ereignet sich stumm und heftig, eine Form von Implosion. Die Tante erklärt dem Kind, warum die Mutter geweint hat, und entlarvt mit einem Ruck das heuchlerische Verleugnen, Verdrängen und Verschweigen. Der Onkel, sagt sie, hat mit deiner Schwester getan, was nur Verheiratete tun dürfen. So weit, so ungut. Aber das reicht noch nicht. Noch ist keine Klarheit hergestellt. Es gibt jetzt plötzlich kein System mehr, an dem sich das Kind orientieren könnte. Keinen Himmel, keine Hölle, nur den zermürbenden Zwischenzustand des Fegefeuers.
Schlimmer noch: Es wird Gesetz und Ordnung nie mehr geben. Denn jetzt setzt die familiäre Strategie von Entlarven, Vernebeln und Beschönigen ein und setzt die letzte Eindeutigkeit außer Kraft. Dabei bleibt kein Stein auf dem andern. Vielleicht war es so, wie die Tante sagt und wie es die Mutter wahrnimmt, sagt nämlich jetzt der Onkel, vielleicht aber auch nicht: Was heißt denn schon verheiratet, verteidigt er seinen Bruder, deine Tante und ich waren auch nicht verheiratet, als wir das getan haben, sagt er dem Kind. Und er lacht dabei ein bißchen. Und wer sagt schon, daß deine Schwester die Wahrheit sagt. Es könnte doch sein, daß sie ein bißchen lügt.
Das also ist der dramatische Höhepunkt in Roswitha Harings Novelle. Der Familienkahn ist leckgeschlagen und schlingert von jetzt an havariert auf dem Fluß. Der Einbruch der Sexualität in die geordnete Miniaturwelt, in der jedes Ding sein Plätzchen hatte, läßt sich nicht mehr aufhalten. Gegen das libidinöse Chaos helfen keine Butterschnitten auf dem Teller, keine Buletten und keine Beefsteaks. Genau da aber zeigt sich die Stärke der Autorin: Sie beläßt es am Ende dabei. Sie hält es aus. Sie unternimmt auch nicht den winzigsten Versuch, die neue Unordnung durch die Installierung der alten scheinheiligen Ordnung zu korrigieren. Gewiß, kein neues Thema, das Roswitha Haring ins Zentrum ihres Erstlings "Ein Bett aus Schnee" stellt. Und kein Zweifel: Als Debütantin agiert sie dabei wie die meisten anderen auch auf dem längst bekannten Feld von Autobiographie und Familie. Aber es ist beachtlich, wie sie darin zu konsequenten Lösungen findet.
Roswitha Haring: "Ein Bett aus Schnee". Novelle. Ammann Verlag, Zürich 2003. 180 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jenseits der Ordnung: Roswitha Harings überzeugendes Debüt
Und wieder ist alles viel zu schön, um wahr zu sein. Zweifel an der Beständigkeit des Kindheitsidylls beschleichen einen bereits auf den ersten paar Seiten. Ein familiäres Traumland leuchtet in geisterhaften Farben auf der erzählerischen Leinwand. Ganz geheuer ist es einem nicht dabei: Wir sehen Vater, Mutter, Schwestern und ihr geschäftiges Treiben in Haus und Garten. Die Mutter schwitzt vor der Abwaschschüssel, im Backofen brutzelt die Leibspeise, die Körbe sind voll von Kirschen, die entsteint werden müssen. Der Vater hantiert im Garten geschäftig mit dem Wasserschlauch. Fröhliche Rufe gehen hin und her. Die Schwestern mit den feuerrot lackierten Zehennägeln tragen im Garten Bikini und Holzlatschen. Schleicht sich eine fremde Katze aufs Terrain, flüchten die Fräuleins mit spitzen Schreien, wie wenn ihre Haut von den Katzenpfoten schon zerkratzt worden wäre.
Es ist ein Schnattern und Schwätzen und Lachen in der Luft, daß es eine Freude ist. Am Sonntagmorgen, wenn die älteren Schwestern mit ihrem toupierten Haar noch lange unter der Bettdecke liegen, versteckt sich die kleine Ich-Erzählerin im Bett der Mutter und hört sich die Geschichten über weit Zurückliegendes an, die sich die Eltern um diese Zeit immer erzählen: verlorene Brillen, ledig und schwanger und Selbstmord im Fluß, Witwer und zweite geizige Ehefrau, Grundstück gekauft und dies und das. Am herrlichsten aber ist es, wenn Onkel und Tante aus dem Gebirge zu Besuch sind. Die Cousinen haben aufgetürmte Frisuren und gebogene Wimpern, lächeln dem Mädchen zu und geben ihm einen Kuß. Und der Onkel erzählt Witze.
Nur die Gesetze der Erzähllogik flüstern uns schon an dieser Stelle zu, daß dieses Szenario auf die Länge keineswegs zur Novelle taugt. Zu sentimental. Zu pläsierlich. Das hat Roswitha Haring mit ihrem Erstling "Ein Bett aus Schnee" aber auch gar nicht vor. Im Gegenteil. Die harmlose Welt, die sie aufbaut, scheint mit dem Unheimlichen merkwürdig verklebt zu sein. Am Anfang sind es nur winzige Ungereimtheiten, die verstören. Ab und zu ein paar Dissonanzen. Der eine oder andere schrille Ton. Je länger die unheilvolle Ruhe währt, desto herrischer beginnen feine Unstimmigkeiten das zauberische Mutter- und Vaterland zu dominieren. Jetzt konstatiert man plötzlich: Das Traute und Treuherzige hat Methode. Es ist die perfekt geschminkte Maske über den Narben des Verdrängten.
Rekapituliert man die Geschichte vom Ende her, sieht man plötzlich glasklar, was einen mißtrauisch gemacht hat: Die Brüche sind von der ersten Zeile an systematisch in den Text eingebaut. Das Iglu zum Beispiel, das der Vater des Nachbarmädchens vor dem Hause baut. Immer mächtiger, immer größer wird das Schneehaus, immer gewaltigere Eisblöcke schichtet der Vater auf. Dabei lächeln sich Vater und Tochter zu, wie wenn sie ein Geheimnis miteinander hätten.
Zugeworfene Türen
Ein andermal fährt die Ich-Erzählerin in die Ferien zu Onkel und Tante. Als sie aus dem Bus aussteigt, findet sie sich in einer fremden Welt wieder. Keiner da, sie abzuholen. Jemand zeigt dem Kind achtlos den weiten Weg den Berg hinauf, es hat sich verlaufen. Dann wieder verändern sich die Geräusche im Haus. Das Kind hört, wie die Mutter in der Küche viel lauter als sonst hantiert. Es ist, wie wenn sie absichtlich Türen zuwerfen, mit den Pfannen zuschlagen würde. Der Abgrund öffnet sich vollends, als das Mädchen eines Morgens die Mutter hinter der Türe weinen hört. Warum ihr Bruder das getan habe, stammelt sie. Und daß sie jetzt ihr eigenes Kind verteidigen müsse.
Das ist, für ein Debüt, doch sehr raffiniert angelegt: diese Gleichzeitigkeit zweier völlig konträrer Kraftfelder. Die 1960 in Leipzig geborene, heute in Köln lebende Autorin leistet noch mehr. Sie hält die Kräfte der Gegenbewegungen - Vereisung und Verflüssigung, Erstarrung und Lebendigsein -, welche das Kind hin- und herreißen, erzählerisch in Schach. Literarisch löst Roswitha Haring das Problem mit einer doppelten Strategie von Sprechen und Sprachlosigkeit, von Reden und Verschweigen. Es spricht für die erzählerische Agilität der Debütantin, daß ihr dieses Verfahren mühelos gelingt. Die beunruhigendsten Vorgänge werden in "Ein Bett aus Schnee" nicht unmittelbar erzählt, sondern ausschließlich in ihrer Wirkung auf das Kind dargestellt.
Radikalität einer Sanftmütigen
Ein weiteres kommt hinzu: Einerseits konstruiert die Autorin eine heile Welt, die übrigens konsequent auf Augenhöhe des Mädchens geschildert wird. Nie ertappt man Roswitha Haring, daß sie ihrer Ich-Erzählerin besserwisserisch über die Schultern schauen oder das Unbegreifliche altklug kommentieren würde. Andererseits treibt sie eine zarte Destruktion der schönen Bilder voran, bis die Risse offen klaffen. Bevor der letzte Vorhang vor der Bühne der Kinderwelt weggerissen ist, gibt sie keine Ruhe.
Es ist die Radikalität einer Sanftmütigen, die hier agiert; und die Methode - das belegt dieses Debüt - wird dabei literarisch erstaunlich produktiv. So gelingt es, das Unsägliche und Unsagbare gleichzeitig zur Sprache zu bringen und dabei immer die Balance zu halten. Wir sehen also zu, wie das Eis wächst und das warme Kinderglück allmählich zum Erstarren zwingt. Wir sehen gleichzeitig, wie das überwache Kind mit allen Kräften gegen das Eis trommelt und es zum Zersplittern bringt.
Die Katastrophe ereignet sich stumm und heftig, eine Form von Implosion. Die Tante erklärt dem Kind, warum die Mutter geweint hat, und entlarvt mit einem Ruck das heuchlerische Verleugnen, Verdrängen und Verschweigen. Der Onkel, sagt sie, hat mit deiner Schwester getan, was nur Verheiratete tun dürfen. So weit, so ungut. Aber das reicht noch nicht. Noch ist keine Klarheit hergestellt. Es gibt jetzt plötzlich kein System mehr, an dem sich das Kind orientieren könnte. Keinen Himmel, keine Hölle, nur den zermürbenden Zwischenzustand des Fegefeuers.
Schlimmer noch: Es wird Gesetz und Ordnung nie mehr geben. Denn jetzt setzt die familiäre Strategie von Entlarven, Vernebeln und Beschönigen ein und setzt die letzte Eindeutigkeit außer Kraft. Dabei bleibt kein Stein auf dem andern. Vielleicht war es so, wie die Tante sagt und wie es die Mutter wahrnimmt, sagt nämlich jetzt der Onkel, vielleicht aber auch nicht: Was heißt denn schon verheiratet, verteidigt er seinen Bruder, deine Tante und ich waren auch nicht verheiratet, als wir das getan haben, sagt er dem Kind. Und er lacht dabei ein bißchen. Und wer sagt schon, daß deine Schwester die Wahrheit sagt. Es könnte doch sein, daß sie ein bißchen lügt.
Das also ist der dramatische Höhepunkt in Roswitha Harings Novelle. Der Familienkahn ist leckgeschlagen und schlingert von jetzt an havariert auf dem Fluß. Der Einbruch der Sexualität in die geordnete Miniaturwelt, in der jedes Ding sein Plätzchen hatte, läßt sich nicht mehr aufhalten. Gegen das libidinöse Chaos helfen keine Butterschnitten auf dem Teller, keine Buletten und keine Beefsteaks. Genau da aber zeigt sich die Stärke der Autorin: Sie beläßt es am Ende dabei. Sie hält es aus. Sie unternimmt auch nicht den winzigsten Versuch, die neue Unordnung durch die Installierung der alten scheinheiligen Ordnung zu korrigieren. Gewiß, kein neues Thema, das Roswitha Haring ins Zentrum ihres Erstlings "Ein Bett aus Schnee" stellt. Und kein Zweifel: Als Debütantin agiert sie dabei wie die meisten anderen auch auf dem längst bekannten Feld von Autobiographie und Familie. Aber es ist beachtlich, wie sie darin zu konsequenten Lösungen findet.
Roswitha Haring: "Ein Bett aus Schnee". Novelle. Ammann Verlag, Zürich 2003. 180 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Für den Rezensenten mit dem Kürzel "nen" ist diese Novelle über ein Kind, das versucht, sein aus den Fugen geratenen Umfeld zu verstehen, ebenso authentisch wie stimmig: das Buch "zwingt den Leser auf Augenhöhe mit dem verzweifelten Ernst kindlicher Warums". Ein Onkel der Familie scheint die ältere Schwester missbraucht zu haben. Doch wirklich transparent wird für das Kind nicht, was geschehen ist - es muss lediglich die familiendynamischen Folgen ins Lot mit seinem Weltbild bringen. Die Familie ist in den Augen des Rezensenten jedenfalls sehr glaubwürdig geschildert: "Kleine Leute in einer Operettenwelt, fixiert auf Hausmannskost (?), keineswegs lieblos, aber ohne Begriff von sich" - und natürlich auch nicht von dem seelischen Zustand ihres Kindes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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