Jungen auf einem Fußballplatz. Was hier gespielt wird, ist nicht Fußball, und der Platz ist in Auschwitz. Spaß bei diesem Spiel hat nur die SS: Wer mit dem Kopf die Latte berührt, darf noch etwas weiterleben. Wer zu klein ist, ist groß genug, um gleich zu sterben. Die Überlebenden, Kinder von 13, 14 Jahren, werden bald darauf ins »Zigeunerlager « in Birkenau gesteckt, benannt nach denen, die bis zu ihrer Ermordung im Sommer 1944 hier gefangengehalten wurden. Was tun jüdische Kinder, die wissen, daß sie am nächsten Tag getötet werden? Sie ermessen die Aussichtslosigkeit. Sie reden miteinander. Sie beten das Kaddisch, das jüdische Totengebet, über Stunden. Die Kapos, Helfershelfer der Henker und selbst doch Juden, lassen es zu. Ein Einziger der Eingeschlossenen entflieht aus einer Dachluke, wird erwischt oder nicht. Einer fängt an zu singen, verschiedene Stimmen fallen ein in den ungarischen Kanon. Tomás Radil gehört zu den wenigen Jugendlichen, die Auschwitz überlebten und darüberberichten konnten. Von Selektionen, von Doktor Mengele, von Qualen. Aber wer wollte das hören? Als er nach der Befreiung zum Unglücksboten wird, der ungarischen Juden berichtet, wo ihre Familien geblieben sind, richtet sich deren Verzweiflung gegen ihn. Unter den Displaced Persons erkennt er einen Kapo, Mittäter aus dem KZ, und trifft auf Mitgefangene, die aus Angst vor dem NKWD ihre Identität verschleiern. Er springt aus einem anfahrenden Zug, als ihn Ungarn bedrohen: »Die Juden ins Gas!«. Erfährt, wie auch das Überlebthaben zu einer Last wird. Erlebt, wie sein Vater nach der Ermordung seiner Frau ein gebrochener Mann ist. Er befreit sich - wenn es das gibt - ein Leben lang davon, auch mit diesem Buch. Einem Bericht, in dem die Unmittelbarkeit des damaligen Erlebens sich mit seinen heutigen Reflexionen verbindet. Es ist seine Geschichte davon, »wie mich Zufall, Solidarität und Lebenswille gerettet haben«.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2021Ein Junge in Auschwitz
Singuläres Zeugnis: Tomás Radils Erinnerungen
Die Zeugnisse von Toten oder Überlebenden der Schoa gehören zum Weltkulturerbe des Gedächtnisses. Sie aufzubewahren ist das Wenigste, was die Nachgeborenen tun können, um das Andenken an die Geschundenen, die stumm zugrunde gegangen sind, zu bewahren. Sie berichten künftigen Generationen, was unter Menschen in extremen Lagen möglich ist. Umso wertvoller sind detaillierte Aufzeichnungen, wie sie seit 1945 in großer Zahl überliefert sind und bis heute noch von den wenigen Überlebenden ergänzt oder kommentiert werden.
Ein ungewöhnliches Zeugnis dieser Art ist erst jetzt ans Licht gekommen. Es sind die Erinnerungen des 1930 in der kleinen, 1938 an Ungarn gefallenen Stadt Parkan geborenen Tomás Weiss, der 1956 den Namen seiner Frau, Radil, annahm. Die Erinnerungen sind deshalb ungewöhnlich, weil der inzwischen weltweit bekannte Arzt, Psychologe und Neurophysiologe, der auch über Entstehung von Hass und Gewalt in ethnisch gemischten Gruppen gearbeitet hat, sie nach einem langen Leben in der Rückschau niedergeschrieben hat.
Als der Dreizehnjährige in die Hölle von Auschwitz-Birkenau geriet, schien seine Lage aussichtslos. Aber Radil war mutig, fand immer wieder heimliche Unterstützer, und er hatte unglaublich viel Glück. Die grauenhaften Einzelheiten zu beschreiben ist an dieser Stelle nicht notwendig. Dass er vom Todeslager Birkenau nach Auschwitz I verlegt wurde, empfand er als Erleichterung! Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen die elenden Überlebenden. Radil machte sich allein und zu Fuß auf, um in seine Heimat zurückzukehren. Da war er fünfzehn Jahre alt, aber belastet mit Erinnerungen, an denen viele andere später zerbrochen sind.
Die nun vorgelegten Erinnerungen sind gewiss sprachlich gestaltet. Das ist nicht anders denkbar. Es ist der aus der Rückschau imaginierte Sprachstil eines Jugendlichen, niedergeschrieben von einem Intellektuellen, der sein Leben lang darüber nachgedacht hat, "wie es eigentlich gewesen" ist. Die von damals erinnerten Dialoge mit Schicksalsgenossen werden nun vom Wissen dessen, der alles Erreichbare über die Schoa gelesen hat, vor allem aber von seiner Lebensklugheit überblendet. Das führt zwar zu gewissen Längen, mindert aber keineswegs die Authentizität des Berichts. Vielmehr gewinnt das Buch gerade durch diese Reflexionen aus jahrzehntelanger Distanz etwas, das die Schrecken der Lagerwirklichkeit transzendiert.
Radil reflektiert vor allem die Frage nach dem in Menschen schlummernden Gewaltpotential, das unter der Wirkung von Propaganda, Gruppendruck, Verführung durch Vorteile, Ausstattung mit Waffen und Wehrlosigkeit der Opfer aktiviert werden kann. Seine Frage ähnelt der von Hannah Arendt nach der "Banalität des Bösen", der von Christopher R. Browning in "Ganz normale Männer" und anderen. Aber Radil geht weiter, indem er die unmittelbare Authentizität seines Erlebens einbringt und so eine nahezu singuläre doppelte Perspektive einnehmen kann. Insofern ist der große Abstand zwischen Erleben und Erinnern eher hilfreich. Ob die Dialoge des noch halben Kindes im Lager wörtlich so gesprochen wurden wie hier aufgezeichnet, spielt keine Rolle. Romanhaft sind sie definitiv nicht.
Insgesamt ergeben die Erinnerungen an die selbst für Nachgeborene kaum erträglichen Details, verbunden mit den Reflexionen des Überlebenden, den psychologisches Wissen, aber vor allem Klugheit und Weisheit auszeichnen, ein singuläres Buch. Es ist zunächst auf Tschechisch erschienen, wurde nun aber mit Hilfe der Eugene Garfield Foundation und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds übersetzt, rechtzeitig zum neunzigsten Geburtstag des Autors vor wenigen Wochen. Ein Glücksfall reflektierten Erinnerns.
MICHAEL STOLLEIS
Tomás Radil: "Ein
bisschen Leben vor diesem Sterben".
Aus dem Tschechischen von Hubert Laitko.
Arco Verlag,
Wuppertal 2020.
696 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Singuläres Zeugnis: Tomás Radils Erinnerungen
Die Zeugnisse von Toten oder Überlebenden der Schoa gehören zum Weltkulturerbe des Gedächtnisses. Sie aufzubewahren ist das Wenigste, was die Nachgeborenen tun können, um das Andenken an die Geschundenen, die stumm zugrunde gegangen sind, zu bewahren. Sie berichten künftigen Generationen, was unter Menschen in extremen Lagen möglich ist. Umso wertvoller sind detaillierte Aufzeichnungen, wie sie seit 1945 in großer Zahl überliefert sind und bis heute noch von den wenigen Überlebenden ergänzt oder kommentiert werden.
Ein ungewöhnliches Zeugnis dieser Art ist erst jetzt ans Licht gekommen. Es sind die Erinnerungen des 1930 in der kleinen, 1938 an Ungarn gefallenen Stadt Parkan geborenen Tomás Weiss, der 1956 den Namen seiner Frau, Radil, annahm. Die Erinnerungen sind deshalb ungewöhnlich, weil der inzwischen weltweit bekannte Arzt, Psychologe und Neurophysiologe, der auch über Entstehung von Hass und Gewalt in ethnisch gemischten Gruppen gearbeitet hat, sie nach einem langen Leben in der Rückschau niedergeschrieben hat.
Als der Dreizehnjährige in die Hölle von Auschwitz-Birkenau geriet, schien seine Lage aussichtslos. Aber Radil war mutig, fand immer wieder heimliche Unterstützer, und er hatte unglaublich viel Glück. Die grauenhaften Einzelheiten zu beschreiben ist an dieser Stelle nicht notwendig. Dass er vom Todeslager Birkenau nach Auschwitz I verlegt wurde, empfand er als Erleichterung! Am 27. Januar 1945 befreiten sowjetische Truppen die elenden Überlebenden. Radil machte sich allein und zu Fuß auf, um in seine Heimat zurückzukehren. Da war er fünfzehn Jahre alt, aber belastet mit Erinnerungen, an denen viele andere später zerbrochen sind.
Die nun vorgelegten Erinnerungen sind gewiss sprachlich gestaltet. Das ist nicht anders denkbar. Es ist der aus der Rückschau imaginierte Sprachstil eines Jugendlichen, niedergeschrieben von einem Intellektuellen, der sein Leben lang darüber nachgedacht hat, "wie es eigentlich gewesen" ist. Die von damals erinnerten Dialoge mit Schicksalsgenossen werden nun vom Wissen dessen, der alles Erreichbare über die Schoa gelesen hat, vor allem aber von seiner Lebensklugheit überblendet. Das führt zwar zu gewissen Längen, mindert aber keineswegs die Authentizität des Berichts. Vielmehr gewinnt das Buch gerade durch diese Reflexionen aus jahrzehntelanger Distanz etwas, das die Schrecken der Lagerwirklichkeit transzendiert.
Radil reflektiert vor allem die Frage nach dem in Menschen schlummernden Gewaltpotential, das unter der Wirkung von Propaganda, Gruppendruck, Verführung durch Vorteile, Ausstattung mit Waffen und Wehrlosigkeit der Opfer aktiviert werden kann. Seine Frage ähnelt der von Hannah Arendt nach der "Banalität des Bösen", der von Christopher R. Browning in "Ganz normale Männer" und anderen. Aber Radil geht weiter, indem er die unmittelbare Authentizität seines Erlebens einbringt und so eine nahezu singuläre doppelte Perspektive einnehmen kann. Insofern ist der große Abstand zwischen Erleben und Erinnern eher hilfreich. Ob die Dialoge des noch halben Kindes im Lager wörtlich so gesprochen wurden wie hier aufgezeichnet, spielt keine Rolle. Romanhaft sind sie definitiv nicht.
Insgesamt ergeben die Erinnerungen an die selbst für Nachgeborene kaum erträglichen Details, verbunden mit den Reflexionen des Überlebenden, den psychologisches Wissen, aber vor allem Klugheit und Weisheit auszeichnen, ein singuläres Buch. Es ist zunächst auf Tschechisch erschienen, wurde nun aber mit Hilfe der Eugene Garfield Foundation und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds übersetzt, rechtzeitig zum neunzigsten Geburtstag des Autors vor wenigen Wochen. Ein Glücksfall reflektierten Erinnerns.
MICHAEL STOLLEIS
Tomás Radil: "Ein
bisschen Leben vor diesem Sterben".
Aus dem Tschechischen von Hubert Laitko.
Arco Verlag,
Wuppertal 2020.
696 S., geb., 32,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensentin Alena Wagnerova hält Tomas Radils Erinnerungen an seine Lagerhaft in Auschwitz für vollendet. Dass der Autor ein ganzes Leben mit der Niederschrift wartete, zahlt sich laut Rezensentin für den Leser aus. Radil beschreibt die Geschichte des 13-Jährigen, der er war, als er zusammen mit seinen Freunden deportiert wurde, laut Wagnerova authentisch und ohne zu interpretieren. Die Einfühlungsleistung findet die Rezensentin enorm, etwa wenn der Autor die Tricks beschreibt, die das Lagerleben erträglicher machten, oder wenn er die Scham des Überlebenden erkundet. Dem Schrecken des Holocaust setzt der Autor mit diesem Buch etwas Bedeutendes entgegen, findet Wagnerova.
© Perlentaucher Medien GmbH
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