Die berühmte jüdische Schriftstellerin und Salonière Rahel Varnhagen verkehrte mit den großen Literaten, Künstlern, Philosophen und Politikern ihrer Zeit. Die geistreichste Frau des Universums (Heinrich Heine) war Persönlichkeiten wie Clemens Brentano, Alexander von Humboldt und Friedrich Schleiermacher eine beliebte Gesprächspartnerin.
Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde versammelt Briefe und Aufzeichnungen Varnhagens, die sie vor ihrem Tod eigenhändig für die Veröffentlichung vorbereitete und die schließlich posthum von ihrem Mann herausgegeben wurden. Diese Dokumente zählen zu den wichtigsten Zeugnissen der deutschen Literatur, Philosophie und Geschichte der ausgehenden Romantik.
Nachdruck der dreibändigen Ausgabe von 1834 (Band 2).
Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde versammelt Briefe und Aufzeichnungen Varnhagens, die sie vor ihrem Tod eigenhändig für die Veröffentlichung vorbereitete und die schließlich posthum von ihrem Mann herausgegeben wurden. Diese Dokumente zählen zu den wichtigsten Zeugnissen der deutschen Literatur, Philosophie und Geschichte der ausgehenden Romantik.
Nachdruck der dreibändigen Ausgabe von 1834 (Band 2).
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.07.2011Aus der glänzendsten Epoche der Berliner Geschichte
Rahel Varnhagen war für ihren literarischen Salon berühmt. Ihre reichen Aufzeichnungen sind nun in der bisher unveröffentlichten letzten Fassung erschienen
Der Sommer 1834 brachte dem Wiener Zensurbeamten Johann Baptist Rupprecht angenehme Stunden. In Erfüllung seiner Amtspflicht las er „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ und war hin und weg. Das gehe, sagte er, „über alles!“ Es „belohne ihn für sechs Monate traurigster Lesereien anderer Schriften“. Da auch Zensoren ein Herz haben, schickte er dem Herausgeber, Karl August Varnhagen von Ense, ein begeistertes Gedicht: „Goldblumen pflanzte Sie auf deinen Pfad, / Gold wird, was Sie gedacht, empfand, geschrieben“.
Der Zensor war mit seiner Begeisterung nicht allein. Das Buch Rahel, eine Sammlung von Briefen und Tagebuchblättern, Notizen und Aphorismen der geistreichen, eigenwilligen Frau mit ausgeprägtem Geselligkeitsgenie, wurde ein großer Erfolg und ein Lieblingsbuch des „Jungen Deutschland“. Rasch wurde eine zweite, erweiterte Auflage notwendig. Fürst Metternich, der Ordner Europas, erhielt vom österreichischen Gesandten in Berlin die Auskunft, der Gatte und Herausgeber Varnhagen sei möglicherweise nicht ungefährlich und gehöre „zu einer Genoßenschaft, welche die schon damals aus jenen Briefen hervorleuchtenden unmoralischen Grundsätze zu einem System erheben wollen.“ Man spürt in diesen Zeilen, was die Zeitgenossen an der Rahel, wie sie in diesem Buch erschien, entzückte. Sie konnte als Vorbild einer emanzipierten, einer ästhetischen Existenz gelten, die sich in Selbstauskünften und Freundschaftsbriefen verströmte. Auch literarisch hatte die Publikation Folgen. Die Bücher Bettina von Arnims, beginnend mit „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835), verdanken dem „Buch des Andenkens“ viel.
Varnhagen von Ense, den Rahel 1814 aus Vernunft und Zuneigung, aber wohl ohne verzehrende Leidenschaft geheiratet hatte, bereitete eine dritte, noch einmal erweiterte Ausgabe vor. Dazu klebte er jedes einzelne Blatt des Buches von 1834 in ein Passepartout. Er gewann dadurch Raum für Ergänzungen. Auch schrieb er Briefe seiner Frau ab und legte sie an entsprechender Stelle ein. Dabei nahm er weniger Rücksichten auf die Zensur und Empfindlichkeiten der Zeitgenossen. Neue Materialien, ihm gerade erst zugänglich Gewordenes fand so seinen Platz. Die Ausgabe, dreimal so umfangreich wie die 1834 gedruckte, ist nie erschienen. Sie wird heute in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau aufbewahrt. Die Germanistin und Rahel-Kennerin Barbara Hahn hat Varnhagens Manuskript nun sorgfältig ediert und erschlossen: sechs Bände, weit über dreitausend Seiten. Sie verbindet geschickt die Treue zum Überlieferten mit neuerem philologischem Komfort. Die Namen sind ausgeschrieben, die jeweiligen Aufenthaltsorte vermerkt, Datierungsfehler korrigiert. Die 130 Adressaten, denen Rahel schrieb, und die vier Korrespondenten, deren Briefe an Rahel Aufnahme fanden, werden ausführlich vorgestellt, wozu Barbara Hahn die berühmten biographischen Skizzen Varnhagens und auch Ungedrucktes aus der überwältigend reichhaltigen Sammlung Varnhagen nutzt. Dokumente erhellen Teile der Publikationsgeschichte, wunderbar detailliert ist das Register der Personen, Orte und Werke. So sind die sechs Bände eine Fundgrube zur Kulturgeschichte zwischen dem Tode Friedrichs des Großen und der Pariser Julirevolution.
Rahels Name ist eng mit der glänzendste Epoche der Berliner Geschichte verbunden, als vieles von dem entstand und als ein Neues, Unerhörtes erprobt wurde, woran wir bis heute knabbern. 1771 als älteste Tochter des jüdischen Juwelenhändlers und Bankiers Levin Markus geboren, wird die junge Rahel ab 1790 zu einem Zentralgestirn des preußischen Aufbruchs – doch leuchtete es im Abseits. Hannah Arendt hat in ihrer viel kritisierten, aber bis heute nicht ersetzten „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ vermutet, dass die Geselligkeit um Rahel und Henriette Herz eben aufgrund ihrer Exterritorialität eine so große Rolle für die Übergangsgesellschaft um 1800 spielen konnte.
In der Jägerstraße empfing Rahel allerlei zukünftige Prominenz, darunter die Brüder Humboldt und Tieck, den schwedischen Diplomaten Karl Gustav Brinckmann und den größten politischen Kopf der Zeit, Friedrich Gentz. Der außergewöhnlich begabte und noch schönere Prinz Louis Ferdinand ging lieber zu Rahel, um sich dort zu unterhalten und mit Pauline Wiesel zu amüsieren, statt das notwendig langweilige Hofleben länger als nötig zu ertragen.
In diesem, allmählich größer werdenden Kreis stellte jeder sich auf seine Weise den Herausforderungen der Zeit. Der Freiheitsmut der Franzosen wurde mit dem Vernunftmut des alten friderizianischen Preußens aufgenommen und umgewandelt. Zugleich rebellierten die Töchter und Söhne gegen die Aufklärungskultur der Väter, die oft mehr registrierten, inspizierten und regulierten als verstanden und beflügelten. Drei Momente zeichneten diese erste Epoche in Rahels Leben und ihren ersten „Salon“ aus: provozierende erotische Freizügigkeit, unbedingte Verehrung Goethes, die in Berlin als Gott der wahren Bildung und wahrer Lebenskunst installiert wurde, sowie ein nie zurückgenommenes Bekenntnis zur Individualität, zum Ich als irreduziblen Grund.
Das hat sich Rahel über Krisen und Schicksalsschläge hinweg bewahrt: unglücklich ihre zerstörerischen Lieben zu Karl Graf von Finckenstein und Don Rafael d’Urquijo, entsetzlich die Knappheit und Vereinsamung nach der preußischen Niederlage 1806, immer spürbar die Beschränkungen eines Lebens als Frau und Jüdin. Mit der Modernisierung Preußens kehrt der Antisemitismus zurück, die neuen Einrichtungen, allen voran die Universität, erfordern eine andere Kultur der Geselligkeit, die Reaktion nach 1819 erschwert Freisinn, stellt auch ihren Mann, Varnhagen, ins Abseits.
Rahel reagiert darauf mit neuen Projekten, starker Hinwendung zur Familie und unermüdlich schreibend. In ihren Briefen, meinte Gottfried Keller, sehe man, „absolute Natur, Wahrheit, Selbstlosigkeit, Genialität“ und zugleich „fortwährende Pose, Selbstverzehrung, Beschwörungssucht, Überredungslist, höchste Naivität des Selbstlobs“. Alles kreist um die eigene Existenz.
Es gibt hinreißende Passagen in diesen stets sorgsam kalkulierten Briefen. Im Juli 1815 berichtet sie Varnhagen aus Baden bei Wien von einem Ausflug ins Gebirge: „Ein Moment war unbeschreiblich; als wir von unserer Ruine so ziemlich ins Thal hinabgestiegen waren, wo es nicht groß und nicht klein war, schien die Sonne nicht mehr; nur auf einer uns gegenüberragenden andern Ruine, die durch Optik ganz im Kreise unsers nicht beschienenen Thales eingeringt war: Es war der Abend selbst. Unschuldig, verhältnißlos, unpersönlich, ungekränkt, ohne Forderung, paradiesisch, ohne Unfall ... Könnt’ ich Silbenmaß finden, wie ich einsehe, fühle und Worte finde, so machte ich hieraus ein bleibendes Gedicht“.
Brigitte Kronauer charakterisiert in ihrem einleitenden Essay, verständnisvoll, aber nicht auf den Knien des Herzens, die „schwelende Unzufriedenheit“ Rahels und ihren Verzicht auf poetische Formgebung. Wie Rahel in Briefen ihr Leben und Denken zum Kunstwerk gestalten wollte, wie sie ihre Individualität immer neu schilderte, läßt sich in dieser Ausgabe besser studieren als irgend sonst. Schmerzlich vermisst man aber eine genauere Betrachtung der Eingriffe Varnhagens, was doch auch ohne ausufernden textkritischen Apparat möglich gewesen wäre. Eine der hellsten Einsichten Rahels fehlte in der ersten Ausgabe: „Was aber soll’ ich Ihnen über das Vaterland sagen? Ich meine, ohne große Blutkatastrophe werden wir keine Nation; wenn wir das sind, werden wir wissen, daß wir jetzt nur den Dünkel davon haben, und noch Völker sind.“ Wie hat Varnhagen redigiert? Und wie reagierten die Zeitgenossen auf sein Buch Rahel, das einen Kult begründete? Die Auskünfte dazu sind unnötig knapp gehalten. Am Ende der 3300 Seiten sieht man ein, dass es Zeit wird für einen Sachkommentar und historische Erläuterungen. Es ist verständlich, dass das hier nicht geleistet werden konnte. Aber man sollte damit anfangen, am besten wohl im Netz. Sonst erfüllt sich Heinrich Heines Prophezeiung: „Rahels Briefe werden für die Spätergeborenen doch nur unenträthselbare Hieroglifen seyn -“
JENS BISKY
RAHEL LEVIN VARNHAGEN: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Herausgegeben von Barbara Hahn. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 6 Bände, zusammen 3310 Seiten, 69 Euro.
So beginnt der erste Brief, 1787:
„Meiner Rechnung nach bist
Du mir eine Antwort schuldig“
„Ich meine, ohne
Blutkatastrophe werden
wir keine Nation“
Rahel Varhagen von Ense (1771-1833). Alexander von der Marwitz meinte 1809, sie möge „wohl jetzo das größte Weib sein auf Erden“.
Bleistiftzeichnung von Wilhelm Hensel aus dem Jahr 1822.
Abb.: Bernhard Megele, S.M.
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Rahel Varnhagen war für ihren literarischen Salon berühmt. Ihre reichen Aufzeichnungen sind nun in der bisher unveröffentlichten letzten Fassung erschienen
Der Sommer 1834 brachte dem Wiener Zensurbeamten Johann Baptist Rupprecht angenehme Stunden. In Erfüllung seiner Amtspflicht las er „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ und war hin und weg. Das gehe, sagte er, „über alles!“ Es „belohne ihn für sechs Monate traurigster Lesereien anderer Schriften“. Da auch Zensoren ein Herz haben, schickte er dem Herausgeber, Karl August Varnhagen von Ense, ein begeistertes Gedicht: „Goldblumen pflanzte Sie auf deinen Pfad, / Gold wird, was Sie gedacht, empfand, geschrieben“.
Der Zensor war mit seiner Begeisterung nicht allein. Das Buch Rahel, eine Sammlung von Briefen und Tagebuchblättern, Notizen und Aphorismen der geistreichen, eigenwilligen Frau mit ausgeprägtem Geselligkeitsgenie, wurde ein großer Erfolg und ein Lieblingsbuch des „Jungen Deutschland“. Rasch wurde eine zweite, erweiterte Auflage notwendig. Fürst Metternich, der Ordner Europas, erhielt vom österreichischen Gesandten in Berlin die Auskunft, der Gatte und Herausgeber Varnhagen sei möglicherweise nicht ungefährlich und gehöre „zu einer Genoßenschaft, welche die schon damals aus jenen Briefen hervorleuchtenden unmoralischen Grundsätze zu einem System erheben wollen.“ Man spürt in diesen Zeilen, was die Zeitgenossen an der Rahel, wie sie in diesem Buch erschien, entzückte. Sie konnte als Vorbild einer emanzipierten, einer ästhetischen Existenz gelten, die sich in Selbstauskünften und Freundschaftsbriefen verströmte. Auch literarisch hatte die Publikation Folgen. Die Bücher Bettina von Arnims, beginnend mit „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835), verdanken dem „Buch des Andenkens“ viel.
Varnhagen von Ense, den Rahel 1814 aus Vernunft und Zuneigung, aber wohl ohne verzehrende Leidenschaft geheiratet hatte, bereitete eine dritte, noch einmal erweiterte Ausgabe vor. Dazu klebte er jedes einzelne Blatt des Buches von 1834 in ein Passepartout. Er gewann dadurch Raum für Ergänzungen. Auch schrieb er Briefe seiner Frau ab und legte sie an entsprechender Stelle ein. Dabei nahm er weniger Rücksichten auf die Zensur und Empfindlichkeiten der Zeitgenossen. Neue Materialien, ihm gerade erst zugänglich Gewordenes fand so seinen Platz. Die Ausgabe, dreimal so umfangreich wie die 1834 gedruckte, ist nie erschienen. Sie wird heute in der Biblioteka Jagiellonska in Krakau aufbewahrt. Die Germanistin und Rahel-Kennerin Barbara Hahn hat Varnhagens Manuskript nun sorgfältig ediert und erschlossen: sechs Bände, weit über dreitausend Seiten. Sie verbindet geschickt die Treue zum Überlieferten mit neuerem philologischem Komfort. Die Namen sind ausgeschrieben, die jeweiligen Aufenthaltsorte vermerkt, Datierungsfehler korrigiert. Die 130 Adressaten, denen Rahel schrieb, und die vier Korrespondenten, deren Briefe an Rahel Aufnahme fanden, werden ausführlich vorgestellt, wozu Barbara Hahn die berühmten biographischen Skizzen Varnhagens und auch Ungedrucktes aus der überwältigend reichhaltigen Sammlung Varnhagen nutzt. Dokumente erhellen Teile der Publikationsgeschichte, wunderbar detailliert ist das Register der Personen, Orte und Werke. So sind die sechs Bände eine Fundgrube zur Kulturgeschichte zwischen dem Tode Friedrichs des Großen und der Pariser Julirevolution.
Rahels Name ist eng mit der glänzendste Epoche der Berliner Geschichte verbunden, als vieles von dem entstand und als ein Neues, Unerhörtes erprobt wurde, woran wir bis heute knabbern. 1771 als älteste Tochter des jüdischen Juwelenhändlers und Bankiers Levin Markus geboren, wird die junge Rahel ab 1790 zu einem Zentralgestirn des preußischen Aufbruchs – doch leuchtete es im Abseits. Hannah Arendt hat in ihrer viel kritisierten, aber bis heute nicht ersetzten „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“ vermutet, dass die Geselligkeit um Rahel und Henriette Herz eben aufgrund ihrer Exterritorialität eine so große Rolle für die Übergangsgesellschaft um 1800 spielen konnte.
In der Jägerstraße empfing Rahel allerlei zukünftige Prominenz, darunter die Brüder Humboldt und Tieck, den schwedischen Diplomaten Karl Gustav Brinckmann und den größten politischen Kopf der Zeit, Friedrich Gentz. Der außergewöhnlich begabte und noch schönere Prinz Louis Ferdinand ging lieber zu Rahel, um sich dort zu unterhalten und mit Pauline Wiesel zu amüsieren, statt das notwendig langweilige Hofleben länger als nötig zu ertragen.
In diesem, allmählich größer werdenden Kreis stellte jeder sich auf seine Weise den Herausforderungen der Zeit. Der Freiheitsmut der Franzosen wurde mit dem Vernunftmut des alten friderizianischen Preußens aufgenommen und umgewandelt. Zugleich rebellierten die Töchter und Söhne gegen die Aufklärungskultur der Väter, die oft mehr registrierten, inspizierten und regulierten als verstanden und beflügelten. Drei Momente zeichneten diese erste Epoche in Rahels Leben und ihren ersten „Salon“ aus: provozierende erotische Freizügigkeit, unbedingte Verehrung Goethes, die in Berlin als Gott der wahren Bildung und wahrer Lebenskunst installiert wurde, sowie ein nie zurückgenommenes Bekenntnis zur Individualität, zum Ich als irreduziblen Grund.
Das hat sich Rahel über Krisen und Schicksalsschläge hinweg bewahrt: unglücklich ihre zerstörerischen Lieben zu Karl Graf von Finckenstein und Don Rafael d’Urquijo, entsetzlich die Knappheit und Vereinsamung nach der preußischen Niederlage 1806, immer spürbar die Beschränkungen eines Lebens als Frau und Jüdin. Mit der Modernisierung Preußens kehrt der Antisemitismus zurück, die neuen Einrichtungen, allen voran die Universität, erfordern eine andere Kultur der Geselligkeit, die Reaktion nach 1819 erschwert Freisinn, stellt auch ihren Mann, Varnhagen, ins Abseits.
Rahel reagiert darauf mit neuen Projekten, starker Hinwendung zur Familie und unermüdlich schreibend. In ihren Briefen, meinte Gottfried Keller, sehe man, „absolute Natur, Wahrheit, Selbstlosigkeit, Genialität“ und zugleich „fortwährende Pose, Selbstverzehrung, Beschwörungssucht, Überredungslist, höchste Naivität des Selbstlobs“. Alles kreist um die eigene Existenz.
Es gibt hinreißende Passagen in diesen stets sorgsam kalkulierten Briefen. Im Juli 1815 berichtet sie Varnhagen aus Baden bei Wien von einem Ausflug ins Gebirge: „Ein Moment war unbeschreiblich; als wir von unserer Ruine so ziemlich ins Thal hinabgestiegen waren, wo es nicht groß und nicht klein war, schien die Sonne nicht mehr; nur auf einer uns gegenüberragenden andern Ruine, die durch Optik ganz im Kreise unsers nicht beschienenen Thales eingeringt war: Es war der Abend selbst. Unschuldig, verhältnißlos, unpersönlich, ungekränkt, ohne Forderung, paradiesisch, ohne Unfall ... Könnt’ ich Silbenmaß finden, wie ich einsehe, fühle und Worte finde, so machte ich hieraus ein bleibendes Gedicht“.
Brigitte Kronauer charakterisiert in ihrem einleitenden Essay, verständnisvoll, aber nicht auf den Knien des Herzens, die „schwelende Unzufriedenheit“ Rahels und ihren Verzicht auf poetische Formgebung. Wie Rahel in Briefen ihr Leben und Denken zum Kunstwerk gestalten wollte, wie sie ihre Individualität immer neu schilderte, läßt sich in dieser Ausgabe besser studieren als irgend sonst. Schmerzlich vermisst man aber eine genauere Betrachtung der Eingriffe Varnhagens, was doch auch ohne ausufernden textkritischen Apparat möglich gewesen wäre. Eine der hellsten Einsichten Rahels fehlte in der ersten Ausgabe: „Was aber soll’ ich Ihnen über das Vaterland sagen? Ich meine, ohne große Blutkatastrophe werden wir keine Nation; wenn wir das sind, werden wir wissen, daß wir jetzt nur den Dünkel davon haben, und noch Völker sind.“ Wie hat Varnhagen redigiert? Und wie reagierten die Zeitgenossen auf sein Buch Rahel, das einen Kult begründete? Die Auskünfte dazu sind unnötig knapp gehalten. Am Ende der 3300 Seiten sieht man ein, dass es Zeit wird für einen Sachkommentar und historische Erläuterungen. Es ist verständlich, dass das hier nicht geleistet werden konnte. Aber man sollte damit anfangen, am besten wohl im Netz. Sonst erfüllt sich Heinrich Heines Prophezeiung: „Rahels Briefe werden für die Spätergeborenen doch nur unenträthselbare Hieroglifen seyn -“
JENS BISKY
RAHEL LEVIN VARNHAGEN: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Herausgegeben von Barbara Hahn. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 6 Bände, zusammen 3310 Seiten, 69 Euro.
So beginnt der erste Brief, 1787:
„Meiner Rechnung nach bist
Du mir eine Antwort schuldig“
„Ich meine, ohne
Blutkatastrophe werden
wir keine Nation“
Rahel Varhagen von Ense (1771-1833). Alexander von der Marwitz meinte 1809, sie möge „wohl jetzo das größte Weib sein auf Erden“.
Bleistiftzeichnung von Wilhelm Hensel aus dem Jahr 1822.
Abb.: Bernhard Megele, S.M.
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