Was an dem Abend, an dem der Junge erschossen wurde, genau passiert ist, kann keiner mehr sagen. War es Notwehr? Wo ist die Waffe des Jungen? Und warum kann sich keiner mehr an etwas erinnern? Fallner muss einfach mal raus aus München. Weg von dem toten Jungen, der ihn permanent in seinen Gedanken verfolgt. Es beginnt eine ziellose Reise durch Deutschland. Franz Dobler schafft es mit einem ihm eigenen Sound, das Porträt eines Polizisten im Zug nach nirgendwo zu zeichnen. Spannend, humorvoll und angenehm unangestrengt.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ein unsympathischer grober Bulle, der einen libanesischen Jungen erschossen hat - ob in Notwehr oder nicht, weiß man nicht - das ist der Ausgangspunkt von Franz Doblers neuem Roman, erzählt Rezensent Thomas Stillbauer. Um sich zu therapieren kauft sich der Bulle eine Bahncard 100, reist durch die Gegend und "mischt sich überall ein", was offenbar seine Art ist, das Geschehene zu verdauen. Ein Krimi ist das nur am Rande, meint der Rezensent. Vor allem spielt Dobler hier mit der Sprache - für Züge und für Geschlechtsverkehr.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2014Betriebsbedingte Verzögerung des Lebens
Scheitern als Beruf: Franz Doblers "Ein Bulle im Zug"
Zuerst den besten Polizistenwitz aus diesem Roman. Wird eine Blondine in ihrem Wagen von einem Polizisten angehalten. "Ihren Führerschein bitte". "Was ist das denn?" "Na, das ist so ein kleines rechteckiges Ding mit Ihrem Bild drin." Die Blondine kramt in ihrer Handtasche und überreicht dem Polizisten strahlend - einen Schminkspiegel. Der Polizist schaut überrascht hinein und lächelt: "Na, das hätten Sie doch gleich sagen können, dass Sie auch bei der Polizei sind."
Ein witziges Buch hat Franz Dobler allerdings nicht geschrieben, dafür eines über Polizisten, in dem nicht sie dumm sind, sondern ihr Leben dumm läuft. Über das, was sie dürfen, was sie auszuhalten haben, was die anderen mit ihnen auszuhalten haben, wie es in ihnen aussehen kann, was es mit einem macht, wenn man im Vorfeld des Rechts selbst an dessen Grenzen arbeitet. Dieser Beruf, sagt das Buch, kann nicht gutgehen.
Dienstunfähig ist Doblers Kommissar, Robert Fallner, aber nur teilsuspendiert; das gibt es. Er hat bei einem Einsatz, der eigentlich mehr etwas für die Streife war, einen jungen kriminellen Libanesen erschossen, bevor der auf ihn feuern konnte, aber man hat die Waffe nicht gefunden, die Zeugen sind so uneins und unklar wie seine eigene Erinnerung. In dieser Krise zwischen Trauma und Fahrlässigkeitsverdacht setzt er, der eine Obsession mit Zügen hat, sich mit einer BahnCard 100, seinem Dienstausweis und einer illegalen Makarow in einen ICE - "der weiße Hai" -, um ein paar Wochen ziellos auf der Schiene zu verbringen. Durchgehend: nachts in Nachtzügen, von denen es ja nur noch beklagenswert wenige gibt, oder ab und an im Hotel, Waschen in der Behindertentoilette, tagsüber quer durchs Land. Wenn er nicht gerade von seiner Verzweiflung verfolgt wird, zeigt sich ihm in Bahnabteilen und Bahnhofsviertel das Land von seiner heruntergekommenen, hoffnungslosen Seite. Passt ihm aber, denn während vor den Abteilfenstern der Film "Deutsche Landschaft" spielt, läuft in seinem Inneren der Film "Mein Leben und der ganze Scheiß" ab. Immer wieder geht er die Sache mit dem Libanesen durch, der ihn in Wachalbträumen ständig anspricht: Erinnerung als Botenbericht, hier auch deshalb, damit es überhaupt eine Handlung gibt, denn in den Zügen selber passiert naturgemäß nicht viel Wichtiges, sondern nur die Welt, wie sie sich im ICE zeigt.
Dobler trifft ihr Personal gut, den Gast im Bistro, der sich nie an einen leeren Tisch setzen würde, weil er ein Ohr braucht, das er jemandem abkauen kann; die Schwätzer, die genau so laut reden, dass der halbe Waggon mithören muss; die zweideutigen Angebote von Nähe im Fernzug. Sein erzählerischer Trick dabei: Der fortlaufende innere Monolog seines Kommissars lässt nichts aus - Sex und Jazz, Psychotherapie und Prostitution, Stadt und Müll, Dropouts und Dropins, die Eltern und die Frau und immer wieder das Leben der Polizisten. Und doch kann er uns auf diese Weise Fallner als einen jener desillusionierten Typen schildern, die nicht viel Worte machen, weil jedes immer schon auf dem Sprung zur Phrase ist, vor der es sie ekelt. Doblers eigene Sprache ist maximal ungemütlich und von der Treffsicherheit des übernächtigten Bewusstseins, sie hartgesotten und nicht jugendfrei zu nennen wäre stark untertrieben.
So um Seite 100 herum kommen dann auch Morde. Ist es eine Serie? Fährt der Täter ebenfalls mit dem ICE durch die Gegend? Oder ist der Auftrag, dem nachzugehen, nur ein Ablenkungsmanöver, der Ermittler nur ein Spielstein? Für Fallners eigenen Fall gibt es am Ende eine Art Lösung und einen Showdown, aber darauf kommt es in diesem Roman gar nicht an. Fälle, teilt er mit, werden niemals aufgeklärt, bestenfalls abgeklärt.
JÜRGEN KAUBE
Franz Dobler: "Der Bulle im Zug". Roman.
Tropen Verlag, Stuttgart 2014, 347 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Scheitern als Beruf: Franz Doblers "Ein Bulle im Zug"
Zuerst den besten Polizistenwitz aus diesem Roman. Wird eine Blondine in ihrem Wagen von einem Polizisten angehalten. "Ihren Führerschein bitte". "Was ist das denn?" "Na, das ist so ein kleines rechteckiges Ding mit Ihrem Bild drin." Die Blondine kramt in ihrer Handtasche und überreicht dem Polizisten strahlend - einen Schminkspiegel. Der Polizist schaut überrascht hinein und lächelt: "Na, das hätten Sie doch gleich sagen können, dass Sie auch bei der Polizei sind."
Ein witziges Buch hat Franz Dobler allerdings nicht geschrieben, dafür eines über Polizisten, in dem nicht sie dumm sind, sondern ihr Leben dumm läuft. Über das, was sie dürfen, was sie auszuhalten haben, was die anderen mit ihnen auszuhalten haben, wie es in ihnen aussehen kann, was es mit einem macht, wenn man im Vorfeld des Rechts selbst an dessen Grenzen arbeitet. Dieser Beruf, sagt das Buch, kann nicht gutgehen.
Dienstunfähig ist Doblers Kommissar, Robert Fallner, aber nur teilsuspendiert; das gibt es. Er hat bei einem Einsatz, der eigentlich mehr etwas für die Streife war, einen jungen kriminellen Libanesen erschossen, bevor der auf ihn feuern konnte, aber man hat die Waffe nicht gefunden, die Zeugen sind so uneins und unklar wie seine eigene Erinnerung. In dieser Krise zwischen Trauma und Fahrlässigkeitsverdacht setzt er, der eine Obsession mit Zügen hat, sich mit einer BahnCard 100, seinem Dienstausweis und einer illegalen Makarow in einen ICE - "der weiße Hai" -, um ein paar Wochen ziellos auf der Schiene zu verbringen. Durchgehend: nachts in Nachtzügen, von denen es ja nur noch beklagenswert wenige gibt, oder ab und an im Hotel, Waschen in der Behindertentoilette, tagsüber quer durchs Land. Wenn er nicht gerade von seiner Verzweiflung verfolgt wird, zeigt sich ihm in Bahnabteilen und Bahnhofsviertel das Land von seiner heruntergekommenen, hoffnungslosen Seite. Passt ihm aber, denn während vor den Abteilfenstern der Film "Deutsche Landschaft" spielt, läuft in seinem Inneren der Film "Mein Leben und der ganze Scheiß" ab. Immer wieder geht er die Sache mit dem Libanesen durch, der ihn in Wachalbträumen ständig anspricht: Erinnerung als Botenbericht, hier auch deshalb, damit es überhaupt eine Handlung gibt, denn in den Zügen selber passiert naturgemäß nicht viel Wichtiges, sondern nur die Welt, wie sie sich im ICE zeigt.
Dobler trifft ihr Personal gut, den Gast im Bistro, der sich nie an einen leeren Tisch setzen würde, weil er ein Ohr braucht, das er jemandem abkauen kann; die Schwätzer, die genau so laut reden, dass der halbe Waggon mithören muss; die zweideutigen Angebote von Nähe im Fernzug. Sein erzählerischer Trick dabei: Der fortlaufende innere Monolog seines Kommissars lässt nichts aus - Sex und Jazz, Psychotherapie und Prostitution, Stadt und Müll, Dropouts und Dropins, die Eltern und die Frau und immer wieder das Leben der Polizisten. Und doch kann er uns auf diese Weise Fallner als einen jener desillusionierten Typen schildern, die nicht viel Worte machen, weil jedes immer schon auf dem Sprung zur Phrase ist, vor der es sie ekelt. Doblers eigene Sprache ist maximal ungemütlich und von der Treffsicherheit des übernächtigten Bewusstseins, sie hartgesotten und nicht jugendfrei zu nennen wäre stark untertrieben.
So um Seite 100 herum kommen dann auch Morde. Ist es eine Serie? Fährt der Täter ebenfalls mit dem ICE durch die Gegend? Oder ist der Auftrag, dem nachzugehen, nur ein Ablenkungsmanöver, der Ermittler nur ein Spielstein? Für Fallners eigenen Fall gibt es am Ende eine Art Lösung und einen Showdown, aber darauf kommt es in diesem Roman gar nicht an. Fälle, teilt er mit, werden niemals aufgeklärt, bestenfalls abgeklärt.
JÜRGEN KAUBE
Franz Dobler: "Der Bulle im Zug". Roman.
Tropen Verlag, Stuttgart 2014, 347 S., geb., 21,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Ein verdammt lässiges Stück Kunst. Denn Fallners lange Fahrt zu sich selbst führt über Szenen und Stationen, die ein Panorama deutscher Gegenwart ergeben - von Dobler dem wahren Leben abgelauscht und in allerhöchster Präzision sprachlich glänzend imitiert, in vulgären, knalligen Dialogen und Fallnes manischem Dauerselbstgespräch. So gut wie hier wurden der Münchner und Berliner Hauptbahnhof mit all ihren irren, aggressiven Gestalten noch nicht beschrieben.« Alexander Cammann, Die Zeit, 6.11.2014 »"Ein Bulle im Zug" ist etwas für Menschen mit einem erweiterten Thrillerbegriff. Ein literarisches Kunststück. Ein Buch wie ein Traum. Ein grandioser Traum, ein feines Buch.« Elmar Krekeler, Die Welt, 29.11.2014 »Zug um Zug fügt sich aus messerscharfen Beobachtungen, unnachahmlichen Sprachbildern, derben Sprüchen und Witzen und einem vielleicht nur herbeifantasierten Showdown ein literarisches Gesellschaftspanorama zusammen, das es in sich hat.« Philipp Haibach, Die Welt kompakt, 10.12.2014 »In seinem großartigen Roman noir "Ein Bulle im Zug" wühlt Franz Dobler die Seele eines unschuldig-schuldigen Polizisten auf. ... ein vielschichtiges, alle Genregrenzen sprengendes Meisterwerk.« Gunter Blank, Stuttgarter Zeitung, 24.10.2014 »Franz Doblers Kriminalroman (und das ist "Ein Bulle im Zug" durchaus!) ist so derbe wie James Joyce, so poetisch wie ein Song der Dead Kennedys und so welthaltig wie tausend "Tatorts" nicht. Große Literatur eben.« Marcus Müntefering, krimi-welt.de, 9.11.2014 »Franz Dobler legt mit "Ein Bulle im Zug" einen äußerst feinfühligen, klug beobachteten und noch besser geschriebenen Roman vor. Ein modernes Road-Movie auf Schienen.« Florian Flicke, KURS, 30.10.2014 »Ein klassischer Roman noir, der einen tiefen Einblick in die Seele des unschuldig schuldigen Kommissars vermittelt. ... ein vielschichtiges, alle Genregrenzen sprengendes Meisterwerk.« Gunter Blank, Sonntagszeitung Schweiz, 19.10.2014 »Franz Dobler hat Rhythmus, er hat Stil, er hat Witz. Er nimmt den Leser vom grotesken Intro mit einem über das Sein und die Welt philosophierenden ICE mit in die Welt des vom Dienst suspendierten Fallner und verzichtet dabei auf eine Gut-oder-Böse-Dramaturgie.« Jürgen Kannler, a3Kultur, 13.9.2014 »Dobler hat das bestechend klar und prosaisch aufgeschrieben. Mit einem siebten Sinn für Ekel, Eskalation und Humor. In seiner berühmten völlig eigenen Dobler-Sprache.« Christof Meueler, Junge Welt, 8.10.2014 »Dobler gelingt eine lesenswerte und sehr persönliche Auseinandersetzung mit Schuld und deren Folgen. Ungeschminkt, frei von erhobenen Zeigefingern und allwissenden Antworten.« Irmengard Gnau, Augsburger Allgemeine, 10.9.2014 »... Doblers Beobachtungen von messerscharfer Präzision. Selten liest man derart geschliffene Sätze, die einem, trotz ihrer Dichte, wie Öl runtergehen.« Benedikt Maria Kramer, Der Freitag, 23.8.2014 »Dobler gelingt in einem sehr abgenutzten Genre eine bravuröse Tat: Ein Krimi, ein Gesellschaftsroman der Gegenwart abbildet, der Realismus und Traumsequenz, Normalität und Störung so gut ineinander flicht, dass am Ende keine Wahrheit, geschweige denn Erlösung winkt ... unbedingte Leseempfehlung für alle, die zwar an Gerechtigkeit glauben, aber ahnen, dass es sie nicht gibt.« Kathrin Dittmer, Literaturhaus Hannover, September 2016