Immer wieder hat sich der Danziger Schriftsteller Stefan Chwin in seinem Werk mit Deutschland und den Deutschen auseinandergesetzt - nicht zuletzt in seinem preisgekrönten Roman Tod in Danzig. Und doch: Ich war nie ein Schriftsteller der polnisch-deutschen Versöhnung, schreibt Chwin in seinen Tagebüchern: Allein die Formulierung polnisch-deutsche Versöhnung ist mir zuwider, weil ich einfach nicht weiß, worin diese Versöhnung zwischen uns und den Deutschen bestehen sollte. Ich habe, versucht antideutsche Stereotypen und Vorurteile zu relativieren. Aber jenseits von Stereotypen schreiben ist doch nicht dasselbe wie nach Versöhnung streben... Chwins Deutsches Tagebuch, hier vorgelegt in der Auswahl von Krystyna Turkowska-Chwin und Marta Kijowska, setzt diesen Weg fort.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als ebenso verdienstvollen wie beeindruckenden Beitrag zum Völkerverständnis zwischen Deutschland und Polen würdigt Rezensentin Sabine Brandt Stefan Chwins "Deutsches Tagebuch". Wie der in Danzig geborene Schriftsteller, dessen Eltern die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs am eigenen Leib erlebten und dem Sohn überlieferten, in klugen Beobachtungen von seiner Sehnsucht nach einer friedlichen Welt berichtet, ringt der Kritikerin größte Anerkennung ab. Angetan liest sie außerdem die Aufzeichnungen des Autors zum deutschen Wesen und zur deutschen Geistesgeschichte. Insbesondere aber bewundert Brandt Chwins vertrauensvolles Porträt von Günter Grass, den er ohne jede Wertung als eigensinnigen, aber doch gewöhnlichen Menschen darstellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2015Vielleicht kann Europa nur durch einen Gedächtnisverlust erlöst werden
Zwischen Alpen und Kattegat, Ärmelkanal und Ural öffnet jedes Berühren der Vergangenheit frische Wunden: Ein "deutsches Tagebuch" des Polen Stefan Chwin
Auf den ersten Blick weckt es Erstaunen, dass ein polnischer Autor eine Arbeit mit dem Titel "Ein deutsches Tagebuch" vorlegt. Der Begriff Tagebuch lässt uns zunächst an sehr persönliche Notizen denken, in denen der Schreiber seine Gedanken und Erinnerungen festhält, Gespräche mit sich selbst führt, Triumphe genießt und Niederlagen beklagt. Aber es wäre falsch, davon auszugehen, dass Tagebücher stets zu hundert Prozent intime Mitteilungen enthalten. Schließlich ist kein Erdenbewohner bloß ein privates Wesen, sondern immer auch in irgendein Weltgeschehen verstrickt, hat als Täter oder Opfer, mindestens aber als Zeuge teil an den historischen Vorkommnissen seiner Sphäre.
Dass dies auf einen Polen zutrifft, dessen Volk eine lange Problemgeschichte mit seinen Nachbarn durchlebte - nicht nur den Deutschen, aber weitgehend mit ihnen -, liegt auf der Hand. Der Schriftsteller Stefan Chwin kennt die schlimmste Phase der polnisch-deutschen Beziehungen nicht aus eigener Erfahrung. Geboren 1949 in Danzig, zu jener Zeit längst Gdansk geheißen, wuchs er auf als Erbe der Fakten, die den Zweiten Weltkrieg prägten; die Eltern erzählten ihm davon. Der Vater, aus Wilna stammend, doch ebenfalls polnischer Herkunft und Absolvent der Warschauer Handelsschule, entkam nach Kriegsende gerade noch der Verfolgung polnischer Intelligenzler durch die sowjetischen Sieger. Die Mutter, eine Sanitäterin, durchlitt die gesamte Kriegshölle im gebeutelten Warschau, blieb dennoch bis zum späten Fluchttag ihren Pflegeaufgaben treu. Während des Warschauer Aufstandes half sie sogar einem verwundeten deutschen Soldaten, obwohl sie zuvor eine Massenerschießung polnischer Zivilisten mit ansehen musste.
Wenn man mit solchen Überlieferungen aufwächst, liegt es eigentlich nicht sehr nahe, sich Gedanken um eine mögliche Versöhnung mit dem einstigen Feind zu machen. Aber Stefan Chwin ist nicht der Typ, der sich hinter alten Mauern einschließt und jeden Blick nach draußen verweigert. Er hat sich gründlich auf unserer Erde umgesehen und festgestellt, dass es kein Stückchen Lebensraum gibt, dessen Bewohner nicht fähig sind, andere Menschen zu unterdrücken. Im Tagebuch-Abschnitt "Die moralische Ordnung der Welt" schreibt er: "Dann hörte ich von den Roten Khmer", "Dann erfuhr ich von Hutu und Tutsi" und Ähnliches mehr. Und er zählt Mordorte auf: "Katyn, Srebrenica, Kambodscha, Ruanda oder Tschetschenien". Im Abschnitt "Die Vertriebenen" berichtet er von einer Lesung in Görlitz und vom Auftritt eines deutschen Zuhörers, der erregt reagierte, als der Autor die Vertreibung der Deutschen aus Danzig erwähnte. "Er nennt die Polen ,echte Teufel'", notiert Chwin. Und im folgenden Absatz konstatiert er: "Ich denke immer öfter, dass Europa nur durch einen vollkommenen Gedächtnisverlust erlöst werden könnte. Denn hier, auf den Ebenen zwischen Alpen und Kattegat, dem Ärmelkanal und dem Ural, öffnet jedes Berühren der Vergangenheit eine immer noch frische Wunde. Vielleicht sind also diese jungen Polen und Deutschen in T-Shirts, die, sobald sie im Fernsehen eine Sendung über die Kriegszeit sehen, blitzschnell den Kanal wechseln, gar nicht so dumm?"
Der Schriftsteller Chwin ist zu klug, um wirklich zu meinen, dass Abschalten eine Lösung aller Probleme sei. Aus derlei Sätzen spricht eine in Spott verkleidete Sehnsucht, es möge im menschlichen Tun und Lassen auch Märchenwunder geben, da ohne Wunder offensichtlich keine friedliche Menschenwelt möglich ist. In einem früheren Buch, dem Roman "Tod in Danzig", hatte Chwin eine Szene eingebaut, deren reales Vorbild eine einstige Tat seines Vaters war: Die entsprechende Romanfigur hilft nach Kriegsende im eroberten Danzig einem deutschen Medizinprofessor, der von plündernden Rotarmisten bedroht wird. Der junge Stefan Chwin, dem solche Geschichten überliefert wurden, hat also zwei lobenswerte Eltern, den tapferen Vater, der einen alten deutschen Herrn rettete, und die barmherzige Mutter, die in Warschau den schwerverletzten deutschen Soldaten versorgte. Der erwachsene Chwin kommt im "Deutschen Tagebuch" ausführlich darauf zu sprechen und bekennt, dass ihm jahrelang solche Altarbilder braven Polentums eher zuwider waren. Ob das alles "nur aus unserer verdammten polnischen Schwäche geboren" sei, fragt er sich eingedenk seiner einstigen Gefühle. "Also wären wir womöglich ganz anders, vielleicht sogar exakt wie die Deutschen, wenn Polen dem Klub der starken Nationen angehörte?"
Stefan Chwin möchte das nicht etwa wirklich. Das Sehnsuchtsbild seiner reifen Jahre gilt einer friedlichen Welt, deren Aufbau dort beginnen muss, wo man zu Hause ist. Und die Nachbarn müssen ebenso am Frieden interessiert sein und an der Vernunft, gegen die sie einst so barbarisch verstießen. Große Teile seines "Deutschen Tagebuchs" sind der Erforschung des deutschen Wesens gewidmet, der Geistesgeschichte, den politischen Vorkommnissen, den Berühmtheiten, die das alles zu verantworten hatten und haben. In diesem Zusammenhang findet sich im Buch auch ein sehr interessantes Persönlichkeitsbild von Günter Grass, das sich von den meisten bekannten Schilderungen unterscheidet: weder Lobhudelei noch Verdammung, stattdessen die Darstellung eines Menschen, der unser Bruder sein könnte, nur in manchem eben ein bisschen eigen und anders.
Wir können von Stefan Chwin, dem polnischen Betrachter deutscher Wirklichkeit, eine Menge über uns, unsere Geschichte, unsere Rolle im gegenwärtigen Leben lernen. Gleichzeitig öffnet er seinen Lesern die Tür zum polnischen Volk und lehrt sie, dessen Eigenheiten wahrzunehmen und zu akzeptieren. Einen eindrucksvolleren Beitrag zum Völkerverständnis kann man von niemandem erwarten, der sich an dieses schwierige Thema wagt.
SABINE BRANDT
Stefan Chwin:
"Ein deutsches Tagebuch".
Herausgegeben von Krystyna Turkowska-Chwin und Marta Kijowska. Aus dem Polnischen von Marta Kijowska. edition fototapeta, Berlin 2015. 256 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Alpen und Kattegat, Ärmelkanal und Ural öffnet jedes Berühren der Vergangenheit frische Wunden: Ein "deutsches Tagebuch" des Polen Stefan Chwin
Auf den ersten Blick weckt es Erstaunen, dass ein polnischer Autor eine Arbeit mit dem Titel "Ein deutsches Tagebuch" vorlegt. Der Begriff Tagebuch lässt uns zunächst an sehr persönliche Notizen denken, in denen der Schreiber seine Gedanken und Erinnerungen festhält, Gespräche mit sich selbst führt, Triumphe genießt und Niederlagen beklagt. Aber es wäre falsch, davon auszugehen, dass Tagebücher stets zu hundert Prozent intime Mitteilungen enthalten. Schließlich ist kein Erdenbewohner bloß ein privates Wesen, sondern immer auch in irgendein Weltgeschehen verstrickt, hat als Täter oder Opfer, mindestens aber als Zeuge teil an den historischen Vorkommnissen seiner Sphäre.
Dass dies auf einen Polen zutrifft, dessen Volk eine lange Problemgeschichte mit seinen Nachbarn durchlebte - nicht nur den Deutschen, aber weitgehend mit ihnen -, liegt auf der Hand. Der Schriftsteller Stefan Chwin kennt die schlimmste Phase der polnisch-deutschen Beziehungen nicht aus eigener Erfahrung. Geboren 1949 in Danzig, zu jener Zeit längst Gdansk geheißen, wuchs er auf als Erbe der Fakten, die den Zweiten Weltkrieg prägten; die Eltern erzählten ihm davon. Der Vater, aus Wilna stammend, doch ebenfalls polnischer Herkunft und Absolvent der Warschauer Handelsschule, entkam nach Kriegsende gerade noch der Verfolgung polnischer Intelligenzler durch die sowjetischen Sieger. Die Mutter, eine Sanitäterin, durchlitt die gesamte Kriegshölle im gebeutelten Warschau, blieb dennoch bis zum späten Fluchttag ihren Pflegeaufgaben treu. Während des Warschauer Aufstandes half sie sogar einem verwundeten deutschen Soldaten, obwohl sie zuvor eine Massenerschießung polnischer Zivilisten mit ansehen musste.
Wenn man mit solchen Überlieferungen aufwächst, liegt es eigentlich nicht sehr nahe, sich Gedanken um eine mögliche Versöhnung mit dem einstigen Feind zu machen. Aber Stefan Chwin ist nicht der Typ, der sich hinter alten Mauern einschließt und jeden Blick nach draußen verweigert. Er hat sich gründlich auf unserer Erde umgesehen und festgestellt, dass es kein Stückchen Lebensraum gibt, dessen Bewohner nicht fähig sind, andere Menschen zu unterdrücken. Im Tagebuch-Abschnitt "Die moralische Ordnung der Welt" schreibt er: "Dann hörte ich von den Roten Khmer", "Dann erfuhr ich von Hutu und Tutsi" und Ähnliches mehr. Und er zählt Mordorte auf: "Katyn, Srebrenica, Kambodscha, Ruanda oder Tschetschenien". Im Abschnitt "Die Vertriebenen" berichtet er von einer Lesung in Görlitz und vom Auftritt eines deutschen Zuhörers, der erregt reagierte, als der Autor die Vertreibung der Deutschen aus Danzig erwähnte. "Er nennt die Polen ,echte Teufel'", notiert Chwin. Und im folgenden Absatz konstatiert er: "Ich denke immer öfter, dass Europa nur durch einen vollkommenen Gedächtnisverlust erlöst werden könnte. Denn hier, auf den Ebenen zwischen Alpen und Kattegat, dem Ärmelkanal und dem Ural, öffnet jedes Berühren der Vergangenheit eine immer noch frische Wunde. Vielleicht sind also diese jungen Polen und Deutschen in T-Shirts, die, sobald sie im Fernsehen eine Sendung über die Kriegszeit sehen, blitzschnell den Kanal wechseln, gar nicht so dumm?"
Der Schriftsteller Chwin ist zu klug, um wirklich zu meinen, dass Abschalten eine Lösung aller Probleme sei. Aus derlei Sätzen spricht eine in Spott verkleidete Sehnsucht, es möge im menschlichen Tun und Lassen auch Märchenwunder geben, da ohne Wunder offensichtlich keine friedliche Menschenwelt möglich ist. In einem früheren Buch, dem Roman "Tod in Danzig", hatte Chwin eine Szene eingebaut, deren reales Vorbild eine einstige Tat seines Vaters war: Die entsprechende Romanfigur hilft nach Kriegsende im eroberten Danzig einem deutschen Medizinprofessor, der von plündernden Rotarmisten bedroht wird. Der junge Stefan Chwin, dem solche Geschichten überliefert wurden, hat also zwei lobenswerte Eltern, den tapferen Vater, der einen alten deutschen Herrn rettete, und die barmherzige Mutter, die in Warschau den schwerverletzten deutschen Soldaten versorgte. Der erwachsene Chwin kommt im "Deutschen Tagebuch" ausführlich darauf zu sprechen und bekennt, dass ihm jahrelang solche Altarbilder braven Polentums eher zuwider waren. Ob das alles "nur aus unserer verdammten polnischen Schwäche geboren" sei, fragt er sich eingedenk seiner einstigen Gefühle. "Also wären wir womöglich ganz anders, vielleicht sogar exakt wie die Deutschen, wenn Polen dem Klub der starken Nationen angehörte?"
Stefan Chwin möchte das nicht etwa wirklich. Das Sehnsuchtsbild seiner reifen Jahre gilt einer friedlichen Welt, deren Aufbau dort beginnen muss, wo man zu Hause ist. Und die Nachbarn müssen ebenso am Frieden interessiert sein und an der Vernunft, gegen die sie einst so barbarisch verstießen. Große Teile seines "Deutschen Tagebuchs" sind der Erforschung des deutschen Wesens gewidmet, der Geistesgeschichte, den politischen Vorkommnissen, den Berühmtheiten, die das alles zu verantworten hatten und haben. In diesem Zusammenhang findet sich im Buch auch ein sehr interessantes Persönlichkeitsbild von Günter Grass, das sich von den meisten bekannten Schilderungen unterscheidet: weder Lobhudelei noch Verdammung, stattdessen die Darstellung eines Menschen, der unser Bruder sein könnte, nur in manchem eben ein bisschen eigen und anders.
Wir können von Stefan Chwin, dem polnischen Betrachter deutscher Wirklichkeit, eine Menge über uns, unsere Geschichte, unsere Rolle im gegenwärtigen Leben lernen. Gleichzeitig öffnet er seinen Lesern die Tür zum polnischen Volk und lehrt sie, dessen Eigenheiten wahrzunehmen und zu akzeptieren. Einen eindrucksvolleren Beitrag zum Völkerverständnis kann man von niemandem erwarten, der sich an dieses schwierige Thema wagt.
SABINE BRANDT
Stefan Chwin:
"Ein deutsches Tagebuch".
Herausgegeben von Krystyna Turkowska-Chwin und Marta Kijowska. Aus dem Polnischen von Marta Kijowska. edition fototapeta, Berlin 2015. 256 S., geb., 19,80 [Euro].
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