Zeit, Geschichte und Evolution - das sind die Themen, die den Zoologen und Paläontologen Stephen Jay Gould von Jugend an faszinierten und auf denen auch in seinem neuesten Buch wieder der Blick ruht. Gould schafft es wie immer, seine Streifzüge durch die Naturgeschichte spannend wie Detektivgeschichten zu präsentieren, egal ob er erläutert, warum Schnecken in wissenschaftlichen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts immer spiegelverkehrt dargestellt wurden, oder darüber sinniert, warum Schulkindern fälschlicherweise beigebracht wird, dass die Menschen im Mittelalter glaubten, die Erde sei eine Scheibe, oder...
Mit seinem neuen Buch erweist sich der Evolutionsbiologe und Paläontologe Stephen Jay Gould abermals als virtuoser Essayist. Ganz in der Tradition Montaignes vermag Gould seine Leser zu bannen, indem er Literatur, Wissenschaft und persönliche Ansichten zusammenführt. Ob er über die Sonnenfinsternis in New York, Mary Shelleys "Frankenstein" oder die Trugschlüsse der Eugenik berichtet, stets entwickelt er einen undogmatischen, umfassenden Blick auf die Welt.
Seine großen Themen - Zeit, Geschichte und Evolution - verliert der Autor nie aus den Augen. Anders als viele Wissenschaftler geht er davon aus, dass die Evolution kein langsamer, stetiger Prozess ist, sondern von plötzlichen Ereignissen vorangetrieben wird. Lehrreich und unterhaltsam erläutert er seine Theorie anhand vieler überraschender Fragen, deren Antworten sich spannend wie Detektivgeschichten lesen:
- Warum wird unseren Schulkindern fälschlicherweise beigebracht, dass die Menschen im Mittelalter glaubten, die Erde seiein e Scheibe?
- Wie kann eine 1842 ausgestellte Quittung über den Kauf von Bier und Wurst die Herkunft einer ausgestorbenen Antilopenart belegen?
- Was hat ein Riesenpilz mit dem Wesen der Individualität und der Triebkraft der Evolution zu tun?
- Warum wurden Schnecken in wissenschaftlichen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts spiegelverkehrt dargestellt?
Mit seinem neuen Buch erweist sich der Evolutionsbiologe und Paläontologe Stephen Jay Gould abermals als virtuoser Essayist. Ganz in der Tradition Montaignes vermag Gould seine Leser zu bannen, indem er Literatur, Wissenschaft und persönliche Ansichten zusammenführt. Ob er über die Sonnenfinsternis in New York, Mary Shelleys "Frankenstein" oder die Trugschlüsse der Eugenik berichtet, stets entwickelt er einen undogmatischen, umfassenden Blick auf die Welt.
Seine großen Themen - Zeit, Geschichte und Evolution - verliert der Autor nie aus den Augen. Anders als viele Wissenschaftler geht er davon aus, dass die Evolution kein langsamer, stetiger Prozess ist, sondern von plötzlichen Ereignissen vorangetrieben wird. Lehrreich und unterhaltsam erläutert er seine Theorie anhand vieler überraschender Fragen, deren Antworten sich spannend wie Detektivgeschichten lesen:
- Warum wird unseren Schulkindern fälschlicherweise beigebracht, dass die Menschen im Mittelalter glaubten, die Erde seiein e Scheibe?
- Wie kann eine 1842 ausgestellte Quittung über den Kauf von Bier und Wurst die Herkunft einer ausgestorbenen Antilopenart belegen?
- Was hat ein Riesenpilz mit dem Wesen der Individualität und der Triebkraft der Evolution zu tun?
- Warum wurden Schnecken in wissenschaftlichen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts spiegelverkehrt dargestellt?
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2000Sinn für Sonnenfinsternisse
„Der Dinosaurier im Heuhaufen” – Stephen Jay Gould versöhnt Evolutionsbiologie, Geisteswissenschaft und Literatur
Große Bereiche des technologischen Gehäuses, in dem wir nun alle wohnen, sind von Literaten erdacht worden, lange bevor Wissenschaftler sie (er)fanden. Auf dem Grat zwischen Natur und Geist zu schreiben, das ist die „dritte Kultur”. Leider gelingt sie uns Deutschen nicht oft. Highlights sind selten – wenn Ernst Jünger über Käfer schreibt oder Botho Strauß über Flecke. Naturtalente wie der frühere Leiter der Bochumer Sternwarte, Professor Kaminski, oder Hoimar von Ditfurth erschöpften sich weitgehend im Erklären dessen, was die Naturwissenschaftler ausgeheckt haben. Nur Peter Sloterdijk denkt weiter, schreibt über Imagination und Realität von Blasen und Klonen, aber in einer Sprache, die für die breite Mehrheit unzugänglich ist. Wir sind eben immer noch eine Nation, die sich Mitte des 20. Jahrhunderts in unangenehmer Weise mit Schreibweisen konfrontiert hat, die zwischen Wissenschaft, Literatur und Spinnerei stehen.
Das läuft anders in den USA, ganz anders, und darum ist es verdienstvoll, wenn der Verlag S. Fischer Stephen Jay Goulds Ein Dinosaurier im Heuhaufen ins Deutsche übersetzen ließ. Gould hat seine Karriere in den naturhistorischen Museen gemacht, wo die altmodische klassifizierende Forschung an echten Tieren und Pflanzen weitergeführt wird, an den Phänotypen, während in Deutschland die Forschung an den Genotypen diese Form der Wissenschaft manchmal fast zu erdrücken scheint. Zugleich sind Museen auch Orte der Popularisierung.
Gould ist es gelungen, die Tendenz zur literarischen Veranschaulichung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Gebieten der Paläontologie, Erdgeschichte und Evolutionsbiologie umzukehren. Seine seit 1974 monatlich im Natural History Magazine erscheinenden Essays zielen auf ein breites Publikum, das sich über die Fortschritte der Naturwissenschaften in unterhaltsamer Weise informieren möchte, zugleich spiegeln diese Arbeiten tief in die betroffenen Wissenschaften zurück. Das kann man an den teilweise heftigen Reaktionen erkennen, die bereits Goulds Bücher über die Entwicklung von Theorien der Erdentwicklung und der Evolution bei Naturwissenschaftlern hervorgerufen haben. Viele Essays dieses Bandes erzählen in kleinen Nachreden von solchen Wirkungen.
Gilt als abgelegt
Gould bringt die evolutionäre Wissenschaft vom Leben auf den Teppich zurück und erinnert sie spielerisch an ihre interessengeleitete Haltung. Er schildert vergangene, als abgelegt geltende Wissensformen so, dass sie in sich Sinn beanspruchen können, er gibt ihnen ihre objektive Dimension zurück und verschafft der Naturwissenschaft gerade dadurch mehr Spielraum, mehr Horizont und Tiefe, einen neuen Anspruch darauf, Grundlagenwissen zu sammeln, das allen Menschen helfen wird bei der Orientierung, bei der Frage nach dem Sinn. Der manische Sammler und Leser antiquarischer naturwissenschaftlicher Bücher versöhnt das alte philosophische Europa mit der pragmatischen Neuen Welt.
Dabei ist Gould eigentlich nur ein Schneckenforscher, und in diesen Essays wimmelt es gleichermaßen von Schnecken und Käfern wie von vergessenen Bildern und Textfragmenten. Sein „Heuhaufen” ist ein Museum, ein Zoo von Zeugnissen des Lebens, die durch Goulds lebhafte Sprache wieder erwachen, ihn und uns umwimmeln in ihrer Vielfalt und in ihrem Streben nach Überleben und Aufmerksamkeit. Im Zentrum, das naturgemäß keines ist, sitzt Gould am Schreibtisch und notiert eine Chronik der Ereignisse, die keine notwendige Folge der Dinge ist. Gould macht sich lustig über Bilder der Evolution, wie sie uns allen im Kopf schweben, jene Schautafeln unserer Schulzeit, auf denen Kriechwesen zu Dinosauriern und Säugetieren werden und schließlich zu einem seltsamen kleinen Männchen im schwarzen Anzug, früher noch in Gehrock und Zylinder: „der Mensch”. Er nimmt aber auch unsere evolutionistischen Phantasien und unseren vorwissenschaftlichen heidnischen Aberglauben völlig ernst, unsere Faszination durch Sonnenfinsternisse und unser „Wissen” über jene evolutionshistorisch nur geringfügig miteinander verwandten Tiere, die wir zusammenfassend „Krabben” nennen oder „Fische”. Denn Gould weiß, dass auch die Wissenschaftler, auch er selbst, immer wieder mehr Ordnung in die Natur und ihre Geschichte hineinsehen, als da ist.
Alles katastrophisch
Goulds Weltbild ist katastrophisch, früher als viele seiner Kollegen beachtete er Erkenntnisse über die Rolle von Meteoriten- und Kometeneinschlägen auf die Evolution der Arten. Er formte das Bild vom katastrophischen Ende der Dinosaurier mit und vom eher zufälligen Aufstieg der Säugetiere und damit der Menschen. „Die meisten Arten sind während ihrer entwicklungsgeschichtlichen Lebensdauer stabil. Insbesondere große, erfolgreiche, gut angepaßte, bewegliche, geografisch weit verbreitete Arten finden gedrängt in Phasen der Artbildung durch Aufspaltung kleiner isolierter Populationen statt. ” Das erklärt, warum beim Menschen, diesem „denkenden Schilfrohr” (Pascal), von Anfang an alles da ist, es erklärt die Perfektion der Höhlenbilder, und es erklärt den verzweifelten, vergeblichen Kampf des 20. Jahrhunderts um eine grundlegende Verbesserung der Menschheit.
Letztlich bleibt in der Sicht dieses paläontologischen Existenzialismus neben ungezählten technischen Anwendungen nur die „Pracht der Museen”, bleiben die Spuren ungezählter anderer Entwürfe des Lebens. Aber deren Darstellung ist von New Yorker Museumsleuten unter Goulds Einfluss ebenfalls gründlich umgekrempelt worden. In einem seiner spannendsten, fast kriminalistischen Essays zeigt Gould, dass Edgar Allan Poes von den Literaturwissenschaftlern verachtete Brotarbeit, ein Buch über Muscheln, bei genauerem Lesen eine damals völlig neue Sicht auf biologische Klassifikationsmöglichkeiten anbot: nicht nur die haltbaren Häuser, auch die prozesshaft wirkenden glibbrigen Inhalte wurden zur Klassifikation verwendet.
Das naturhistorische Museum ordnet mit Gould seine Sammlungen nun auch „kladistisch”, das heißt nach den frühesten Abspaltungen bestimmter Grundeigenschaften hin. Die Fossilien sind „nicht nach ihrem späteren ‚Erfolg‘ oder ihrer ‚Fortschrittlichkeit‘ aufgestellt, sondern in der Reihenfolge ihrer Abspaltung. Gruppen, die sich frühzeitig von anderen trennten, stehen in dem Saal weiter vorn, selbst wenn sie (wie Fledermäuse und Ratten) erst später durch starke Aufspaltung eine beherrschende Stellung erlangten oder (wie die Primaten) Abstammungslinien hervorbrachten, die wir für besonders komplex oder hoch entwickelt halten. Seekühe und Elefanten stehen am Ende des Saales, Pferde in der Mitte und Primaten ziemlich am Anfang. ” Seit Jahrzehnten suchen politisch korrekte Historiker und Völkerkundler nach neuen Formen des Aufbaus für ihre Ausstellungen – warum ordnen sie nicht menschliche Gesellschaften einmal nach der frühest beobachteten Dominanz von Merkmalen wie „Friedfertigkeit” oder „freies Spiel der Kinder” ?
Der kriminalistische Spürsinn ließ Gould schließlich einen Text entdecken, der bereits vielen Spezialisten bekannt ist, aber den sie so vielleicht noch nicht gelesen haben. Im zweiten Teil der Protokolle der Wannseekonferenz findet er eine kleine evolutionsbiologische Abhandlung. So weit ging das Ordnungsbedürfnis der Eichmänner, dass sie sich hier pseudowissenschaftlich äußern mussten.
Die Schilderung seiner Reise nach Curaçao halte ich für den schönsten Text des Buches: Wieder ist er dem Irrtum verfallen, dass er durch das Studium einer besonders einfachen Form der Schnecke auf dieser Insel zu Aufschlüssen über die Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten gelangen kann, wieder einmal muss er scheitern und erkennen, dass es keine notwendige Abfolge zwischen beidem gibt. Aber zugleich lernt Gould auf Curaçao Menschen kennen, die eine germanisch-romanisch-indianisch-afrikanische Mischsprache kennen, und beschreibt die in den Kulturwissenschaften sprichwörtliche „Kreolisierung” in einer Einfachheit, Klarheit und menschenverbindenden Bescheidenheit, die ich in vielen Abhandlungen geisteswissenschaftlicher Spezialisten vermisse.
Diese neue essayistische Erfahrungswissenschaft sollte viele Leser und Nachahmer finden. Mit seinem unverkrampften Stolz auf jüdische Identität und seinem kriminalistisch ernst nehmenden Blick auch auf seinen Eichmann nimmt der New Yorker Stephen Jay Gould uns Deutschen die ererbten Ängste – darin vergleichbar seinem kulturevolutionistischen Pendant Jared Diamond. Das macht uns mündiger gegenüber den Technologien und Erkenntnissen mancher Labors, wie sie uns von seltsam automatisch agierenden Medien ständig serviert werden. Dass sich nach 20 Jahren erfolgreicher Essayistik kleine Eitelkeiten eingeschlichen haben – das muss man Gould verzeihen. Fangen Sie einfach irgendwo an herumzuwühlen in Goulds Heuhaufen und Sie werden besser auf den Punkt kommen als bei der Lektüre vieler wissenschaftlicher, wissenschaftskritischer und populärwissenschaftlicher Abhandlungen.
THOMAS HAUSCHILD
STEPHEN JAY GOULD: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Deutsch von Sebastian Vogel und Claudia Holfelder-von der Tann. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2000. 592 Seiten, 49,90 Mark.
Verführung, freie Liebe. Pablo Picasso variiert das Thema mit der Historie von David und Bathseba: 30. 3. 1947, 1. Zustand, Feder über Kreide, Pinsel, Fingerabdrücke auf Zink . . . Action painting, die Geburt einer Vorstellung, Herausbildung einer Vision. Zur Eröffnung des Graphikmuseums Picasso in Münster ist ein fabelhafter Katalog mit allen 860 Lithografien und einem Gespräch mit dem Drucker Henri Deschamps erschienen (Hatje Cantz, 304 S. , 128 Mark bis 31.12., dann 158 Mark).
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„Der Dinosaurier im Heuhaufen” – Stephen Jay Gould versöhnt Evolutionsbiologie, Geisteswissenschaft und Literatur
Große Bereiche des technologischen Gehäuses, in dem wir nun alle wohnen, sind von Literaten erdacht worden, lange bevor Wissenschaftler sie (er)fanden. Auf dem Grat zwischen Natur und Geist zu schreiben, das ist die „dritte Kultur”. Leider gelingt sie uns Deutschen nicht oft. Highlights sind selten – wenn Ernst Jünger über Käfer schreibt oder Botho Strauß über Flecke. Naturtalente wie der frühere Leiter der Bochumer Sternwarte, Professor Kaminski, oder Hoimar von Ditfurth erschöpften sich weitgehend im Erklären dessen, was die Naturwissenschaftler ausgeheckt haben. Nur Peter Sloterdijk denkt weiter, schreibt über Imagination und Realität von Blasen und Klonen, aber in einer Sprache, die für die breite Mehrheit unzugänglich ist. Wir sind eben immer noch eine Nation, die sich Mitte des 20. Jahrhunderts in unangenehmer Weise mit Schreibweisen konfrontiert hat, die zwischen Wissenschaft, Literatur und Spinnerei stehen.
Das läuft anders in den USA, ganz anders, und darum ist es verdienstvoll, wenn der Verlag S. Fischer Stephen Jay Goulds Ein Dinosaurier im Heuhaufen ins Deutsche übersetzen ließ. Gould hat seine Karriere in den naturhistorischen Museen gemacht, wo die altmodische klassifizierende Forschung an echten Tieren und Pflanzen weitergeführt wird, an den Phänotypen, während in Deutschland die Forschung an den Genotypen diese Form der Wissenschaft manchmal fast zu erdrücken scheint. Zugleich sind Museen auch Orte der Popularisierung.
Gould ist es gelungen, die Tendenz zur literarischen Veranschaulichung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf den Gebieten der Paläontologie, Erdgeschichte und Evolutionsbiologie umzukehren. Seine seit 1974 monatlich im Natural History Magazine erscheinenden Essays zielen auf ein breites Publikum, das sich über die Fortschritte der Naturwissenschaften in unterhaltsamer Weise informieren möchte, zugleich spiegeln diese Arbeiten tief in die betroffenen Wissenschaften zurück. Das kann man an den teilweise heftigen Reaktionen erkennen, die bereits Goulds Bücher über die Entwicklung von Theorien der Erdentwicklung und der Evolution bei Naturwissenschaftlern hervorgerufen haben. Viele Essays dieses Bandes erzählen in kleinen Nachreden von solchen Wirkungen.
Gilt als abgelegt
Gould bringt die evolutionäre Wissenschaft vom Leben auf den Teppich zurück und erinnert sie spielerisch an ihre interessengeleitete Haltung. Er schildert vergangene, als abgelegt geltende Wissensformen so, dass sie in sich Sinn beanspruchen können, er gibt ihnen ihre objektive Dimension zurück und verschafft der Naturwissenschaft gerade dadurch mehr Spielraum, mehr Horizont und Tiefe, einen neuen Anspruch darauf, Grundlagenwissen zu sammeln, das allen Menschen helfen wird bei der Orientierung, bei der Frage nach dem Sinn. Der manische Sammler und Leser antiquarischer naturwissenschaftlicher Bücher versöhnt das alte philosophische Europa mit der pragmatischen Neuen Welt.
Dabei ist Gould eigentlich nur ein Schneckenforscher, und in diesen Essays wimmelt es gleichermaßen von Schnecken und Käfern wie von vergessenen Bildern und Textfragmenten. Sein „Heuhaufen” ist ein Museum, ein Zoo von Zeugnissen des Lebens, die durch Goulds lebhafte Sprache wieder erwachen, ihn und uns umwimmeln in ihrer Vielfalt und in ihrem Streben nach Überleben und Aufmerksamkeit. Im Zentrum, das naturgemäß keines ist, sitzt Gould am Schreibtisch und notiert eine Chronik der Ereignisse, die keine notwendige Folge der Dinge ist. Gould macht sich lustig über Bilder der Evolution, wie sie uns allen im Kopf schweben, jene Schautafeln unserer Schulzeit, auf denen Kriechwesen zu Dinosauriern und Säugetieren werden und schließlich zu einem seltsamen kleinen Männchen im schwarzen Anzug, früher noch in Gehrock und Zylinder: „der Mensch”. Er nimmt aber auch unsere evolutionistischen Phantasien und unseren vorwissenschaftlichen heidnischen Aberglauben völlig ernst, unsere Faszination durch Sonnenfinsternisse und unser „Wissen” über jene evolutionshistorisch nur geringfügig miteinander verwandten Tiere, die wir zusammenfassend „Krabben” nennen oder „Fische”. Denn Gould weiß, dass auch die Wissenschaftler, auch er selbst, immer wieder mehr Ordnung in die Natur und ihre Geschichte hineinsehen, als da ist.
Alles katastrophisch
Goulds Weltbild ist katastrophisch, früher als viele seiner Kollegen beachtete er Erkenntnisse über die Rolle von Meteoriten- und Kometeneinschlägen auf die Evolution der Arten. Er formte das Bild vom katastrophischen Ende der Dinosaurier mit und vom eher zufälligen Aufstieg der Säugetiere und damit der Menschen. „Die meisten Arten sind während ihrer entwicklungsgeschichtlichen Lebensdauer stabil. Insbesondere große, erfolgreiche, gut angepaßte, bewegliche, geografisch weit verbreitete Arten finden gedrängt in Phasen der Artbildung durch Aufspaltung kleiner isolierter Populationen statt. ” Das erklärt, warum beim Menschen, diesem „denkenden Schilfrohr” (Pascal), von Anfang an alles da ist, es erklärt die Perfektion der Höhlenbilder, und es erklärt den verzweifelten, vergeblichen Kampf des 20. Jahrhunderts um eine grundlegende Verbesserung der Menschheit.
Letztlich bleibt in der Sicht dieses paläontologischen Existenzialismus neben ungezählten technischen Anwendungen nur die „Pracht der Museen”, bleiben die Spuren ungezählter anderer Entwürfe des Lebens. Aber deren Darstellung ist von New Yorker Museumsleuten unter Goulds Einfluss ebenfalls gründlich umgekrempelt worden. In einem seiner spannendsten, fast kriminalistischen Essays zeigt Gould, dass Edgar Allan Poes von den Literaturwissenschaftlern verachtete Brotarbeit, ein Buch über Muscheln, bei genauerem Lesen eine damals völlig neue Sicht auf biologische Klassifikationsmöglichkeiten anbot: nicht nur die haltbaren Häuser, auch die prozesshaft wirkenden glibbrigen Inhalte wurden zur Klassifikation verwendet.
Das naturhistorische Museum ordnet mit Gould seine Sammlungen nun auch „kladistisch”, das heißt nach den frühesten Abspaltungen bestimmter Grundeigenschaften hin. Die Fossilien sind „nicht nach ihrem späteren ‚Erfolg‘ oder ihrer ‚Fortschrittlichkeit‘ aufgestellt, sondern in der Reihenfolge ihrer Abspaltung. Gruppen, die sich frühzeitig von anderen trennten, stehen in dem Saal weiter vorn, selbst wenn sie (wie Fledermäuse und Ratten) erst später durch starke Aufspaltung eine beherrschende Stellung erlangten oder (wie die Primaten) Abstammungslinien hervorbrachten, die wir für besonders komplex oder hoch entwickelt halten. Seekühe und Elefanten stehen am Ende des Saales, Pferde in der Mitte und Primaten ziemlich am Anfang. ” Seit Jahrzehnten suchen politisch korrekte Historiker und Völkerkundler nach neuen Formen des Aufbaus für ihre Ausstellungen – warum ordnen sie nicht menschliche Gesellschaften einmal nach der frühest beobachteten Dominanz von Merkmalen wie „Friedfertigkeit” oder „freies Spiel der Kinder” ?
Der kriminalistische Spürsinn ließ Gould schließlich einen Text entdecken, der bereits vielen Spezialisten bekannt ist, aber den sie so vielleicht noch nicht gelesen haben. Im zweiten Teil der Protokolle der Wannseekonferenz findet er eine kleine evolutionsbiologische Abhandlung. So weit ging das Ordnungsbedürfnis der Eichmänner, dass sie sich hier pseudowissenschaftlich äußern mussten.
Die Schilderung seiner Reise nach Curaçao halte ich für den schönsten Text des Buches: Wieder ist er dem Irrtum verfallen, dass er durch das Studium einer besonders einfachen Form der Schnecke auf dieser Insel zu Aufschlüssen über die Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten gelangen kann, wieder einmal muss er scheitern und erkennen, dass es keine notwendige Abfolge zwischen beidem gibt. Aber zugleich lernt Gould auf Curaçao Menschen kennen, die eine germanisch-romanisch-indianisch-afrikanische Mischsprache kennen, und beschreibt die in den Kulturwissenschaften sprichwörtliche „Kreolisierung” in einer Einfachheit, Klarheit und menschenverbindenden Bescheidenheit, die ich in vielen Abhandlungen geisteswissenschaftlicher Spezialisten vermisse.
Diese neue essayistische Erfahrungswissenschaft sollte viele Leser und Nachahmer finden. Mit seinem unverkrampften Stolz auf jüdische Identität und seinem kriminalistisch ernst nehmenden Blick auch auf seinen Eichmann nimmt der New Yorker Stephen Jay Gould uns Deutschen die ererbten Ängste – darin vergleichbar seinem kulturevolutionistischen Pendant Jared Diamond. Das macht uns mündiger gegenüber den Technologien und Erkenntnissen mancher Labors, wie sie uns von seltsam automatisch agierenden Medien ständig serviert werden. Dass sich nach 20 Jahren erfolgreicher Essayistik kleine Eitelkeiten eingeschlichen haben – das muss man Gould verzeihen. Fangen Sie einfach irgendwo an herumzuwühlen in Goulds Heuhaufen und Sie werden besser auf den Punkt kommen als bei der Lektüre vieler wissenschaftlicher, wissenschaftskritischer und populärwissenschaftlicher Abhandlungen.
THOMAS HAUSCHILD
STEPHEN JAY GOULD: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Deutsch von Sebastian Vogel und Claudia Holfelder-von der Tann. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2000. 592 Seiten, 49,90 Mark.
Verführung, freie Liebe. Pablo Picasso variiert das Thema mit der Historie von David und Bathseba: 30. 3. 1947, 1. Zustand, Feder über Kreide, Pinsel, Fingerabdrücke auf Zink . . . Action painting, die Geburt einer Vorstellung, Herausbildung einer Vision. Zur Eröffnung des Graphikmuseums Picasso in Münster ist ein fabelhafter Katalog mit allen 860 Lithografien und einem Gespräch mit dem Drucker Henri Deschamps erschienen (Hatje Cantz, 304 S. , 128 Mark bis 31.12., dann 158 Mark).
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