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Kaum jemand in den westdeutschen Verlagen der fünfziger Jahre wollte etwas von den unbekannten jungen Polen Milosz, Szymborska, Herbert, Rózewicz hören, deren Gedichte ihnen auf den Schreibtisch flatterten, eingeschickt von einem Geschäftsstellenleiter der Allianz-Versicherung, Karl Dedecius, der sich auf mühevollen Wegen - und der Tätigkeit im Dienst der feindlichen Großmächte verdächtigt - Bücher aus Polen kommen ließ und an den Abenden und Wochenenden Gedichte übersetzte. Was trieb diesen Menschen an, dessen Lebenswerk heute zum Inbegriff der deutsch-polnischen Verständigung geworden ist?…mehr

Produktbeschreibung
Kaum jemand in den westdeutschen Verlagen der fünfziger Jahre wollte etwas von den unbekannten jungen Polen Milosz, Szymborska, Herbert, Rózewicz hören, deren Gedichte ihnen auf den Schreibtisch flatterten, eingeschickt von einem Geschäftsstellenleiter der Allianz-Versicherung, Karl Dedecius, der sich auf mühevollen Wegen - und der Tätigkeit im Dienst der feindlichen Großmächte verdächtigt - Bücher aus Polen kommen ließ und an den Abenden und Wochenenden Gedichte übersetzte. Was trieb diesen Menschen an, dessen Lebenswerk heute zum Inbegriff der deutsch-polnischen Verständigung geworden ist?
Aufgewachsen im vielsprachigen Milieu der Textilmetropole Lodz als Sohn einer schwäbischen Mutter und eines böhmisch-deutschen Vaters, wurde er mit Ausbruch des Krieges zum polnischen Arbeitsdienst, dann zur deutschen Wehrmacht eingezogen und geriet 1943 in Stalingrad in siebenjährige russische Kriegsgefangenschaft.
Wie er im Lager die russische Literatur entdeckt und Lermontow-Gedichte zu übertragen beginnt, wie er über Weimar in den Westen flüchtet, seine polnischen Dichterfreunde kennenlernt und diesseits und jenseits der Grenze gegen Antipathie und Feindseligkeit kämpft - das ist so bewegend wie spannend zu lesen. Ein außergewöhnliches Leben, das den schwierigen Annäherungsprozeß zwischen Deutschland und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelt.
Autorenporträt
Karl Dedecius, 1921 in Lodz geboren, galt als bedeutendster Mittler polnischer Literatur und Kultur in Deutschland. Als Übersetzer hunderter Bücher, Autor zahlloser Reden und Aufsätze, Herausgeber der Polnischen Bibliothek, Gründer des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt wurde er vielfach gewürdigt und ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1990), dem Orden des Weißen Adlers (1999) in Polen und dem Deutschen Nationalpreis (2010). Karl Dedecius starb am 26. Februar 2016 im Alter von 94 Jahren in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2006

Lektionen der Stille
Er eint, was ihm vereinbar ist: Die Lebenserinnerungen des großen Vermittlers und Übersetzers Karl Dedecius

Die einen verneigen sich vor seinem Engagement und Talent, indem sie mit Prädikaten wie "Mittler" oder "Botschafter" jonglieren, die anderen setzen ihm literarische Denkmäler. "Deutsches und polnisches / Wesen blüht auf / in seiner Sprache. / Er überträgt nicht mehr: / er eint, was ihm / vereinbar ist", dichtete seinerzeit für ihn Karl Krolow. Obwohl er nicht direkt zu den Autoren gehörte, die Karl Dedecius für seine Künste zu Dank verpflichtet waren, hatte er dennoch das Bedürfnis, seinen polnischen Dichterkollegen zur Seite zu stehen.

Ein Gedicht sei die gültigste Form der Reflexion, hat Dedecius einmal gesagt. Vielleicht war das der Grund, warum er sich der Lyrik verschrieb - und dabei stets eine glückliche Hand bewies. Immerhin befinden sich unter den Scharen von polnischen Dichtern, die er dem deutschen Leser näherbrachte, zwei Nobelpreisträger, Czeslaw Milosz und Wislawa Szymborska, und ein paar weitere international anerkannte Größen.

Auch sonst gibt es kaum etwas, was ihm nicht gelungen wäre. Als er 1979 die Leitung des Darmstädter Institutes übernahm, konnte man ahnen, daß dies der Beginn einer neuen Erfolgsgeschichte werden würde. Zu Recht: Dedecius gelang es in kurzer Zeit, dem Institut ein eigenes, unverwechselbares Gesicht zu geben: das einer deutsch-polnischen Literaturhochburg. Unter den zahlreichen Projekten, die er in dieser Zeit realisierte, gibt es zwei, auf die er besonders stolz sein dürfte: die Suhrkamp-Reihe "Polnische Bibliothek" und das "Panorama der polnischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts", das im Amman Verlag erschien. Viele hielten das "Panorama" für die Krönung seiner editorischen Arbeit, zumal der abschließende, opulente Band allein aus seiner Feder stammt. Doch Dedecius wäre nicht er selbst, hätte er nicht auch noch ein weiteres großes Vorhaben in die Tat umgesetzt: ein Buch über das eigene Leben, eingebettet in die gesamteuropäische Geschichte. Nun liegt es, pünktlich zu seinem 85. Geburtstag am heutigen Samstag unter dem Titel "Ein Europäer aus Lodz" vor - ein Werk, das in der Tat eine ausführliche Selbstauskunft mit zeithistorischen Abstechern verbindet.

"Ich denke oft und mit Rührung an Lodz", schreibt Dedecius über seine Geburtsstadt. "Vieles verdanke ich dieser Stadt, in der ich meine Jugend verbrachte. Es war der Ort erster Geheimnisse und Abenteuer, der ersten schwerwiegenden Schritte ins Leben." Es war auch ein Ort, an dem viele verschiedene Nationen nebeneinander lebten, Deutsche, Polen, Russen, Juden. So war es nicht verwunderlich, daß Dedecius, der als Sohn einer schwäbischen Mutter und eines böhmisch-deutschen Vaters zur Welt kam, zu Hause Deutsch und in seinem sonstigen Alltag Polnisch sprach. "Heute bin ich immer noch bereit zu glauben, mein Polnisch sei damals besser als mein Deutsch gewesen", schreibt er. Mit dem Abitur, das er 1939 ablegte, endete aber auch die sorgenfreie Jugendzeit. Es folgten Krieg, Verwundung bei Stalingrad und eine siebenjährige Gefangenschaft.

Nachdem Dedecius nach einem kurzen Aufenthalt in Weimar, wo er am Deutschen Theaterinstitut arbeitete, in die Bundesrepublik übersiedelt war, dauerte es nur noch wenige Jahre, bis seine erste Anthologie polnischer Lyrik erschien: die mittlerweile legendäre "Lektion der Stille" (1959), die seiner steilen Übersetzer-Karriere den Anfang gab. Unter den unzähligen Dichtern, die er seitdem ins Deutsche übertrug, fand er viele persönliche Freunde, denen er nun in seinen Erinnerungen eindrucksvolle Porträts setzt. Stanislaw Jerzy Lec etwa, mit dessen Aphorismensammlung "Unfrisierte Gedanken" er einen seiner größten Erfolge feierte. Oder Zbigniew Herbert, dem Schöpfer des unvergeßlichen Herrn Cogito: "Die Leere, die er hinterläßt, ist körperlich und seelisch spürbar. Wir bleiben dennoch zusammen, ungebrochen, nicht zerrissen."

Er suche immer in der polnischen Literatur nach Dichtern, die es in Deutschland nicht gebe, hat Dedecius mal gesagt, es habe keinen Zweck, jemanden zu übersetzen, der so dichte wie Enzensberger oder Grass. Vielleicht ist sein Gespür für Andersartigkeit nicht nur Begabung, sondern auch Folge seiner Biographie gewesen. Liest man zum wiederholten Male von den vielen Dualitäten in seinem Leben, von seiner Jugend zwischen zwei Kulturen oder davon, daß er das Übersetzen jahrelang mit der Arbeit bei einer großen Versicherung verband, fragt man sich unwillkürlich, welcher tiefere Sinn sich dahinter verbergen mag. Wie prägt einen Menschen eine derartige sprachliche und berufliche Polarität, wann trägt sie Früchte, wann führt sie zu inneren Konflikten? Und ob es diese Konflikte je gegeben hat?

Nun können Leser in der Autobiographie von Dedecius nach Antworten auf diese Fragen suchen - im Text, aber auch in den Fotografien, die erstaunlich viel über den Autor aussagen. Auf all diesen Bildern ist nämlich ein Mann zu sehen, der in jeder der abgelichteten Situationen eine eigenartige, völlig undichterische Konzentration ausstrahlt. Ob im Gespräch mit einem Schriftsteller oder bei einer Podiumsdiskussion, ob bei einer Preisverleihung oder in der Druckerei - man hat ständig den Eindruck, Dedecius sei fest entschlossen, der Angelegenheit nicht weniger, aber auch nicht mehr Zeit zu widmen als unbedingt nötig. Auch diese auffällige Zeitökonomie verdankt er vermutlich weniger seinem Naturell als seiner Lebenserfahrung.

Es gibt durchaus Passagen in diesem Buch, die Karl Dedecius in einem neuen Licht erscheinen lassen. Als einen guten Beobachter, einen zärtlichen Ehemann oder einen Menschenfreund, der sogar unter den extremen Bedingungen einer Gefangenschaft seine Sympathie für das Landesvolk demonstriert. Ebenso überzeugend ist sein Stil: elegant, lebendig, persönlich und überraschend uneitel. In seinen früheren Texten tendierte er zuweilen zu einer zu blumigen und bildhaften Sprache - mit "Ein Europäer aus Lodz" beweist er, daß er auch die Kunst der stilistischen Zurückhaltung beherrscht.

"Eigentlich arbeitet jeder ein Leben lang an seiner Autobiographie", schreibt er im Epilog. "Es muß nicht immer ein Buch sein, es können auch mehrere sein ..." Es müsse auch nicht immer Literatur sein, fügt er gleich hinzu, es könne auch Leben sein. In seinem Fall ist es beides in potenzierter Form, eine überreiche Literatur und ein intensives, ereignisreiches Leben. So kann auch seine Autobiographie nichts anderes sein, als das, was sie ist: das Selbstporträt eines Mannes, der alles erreicht hat, was ihm wichtig war.

Karl Dedecius: "Ein Europäer aus Lodz". Erinnerungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 381 S., geb., 22,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Vieles, wenn nicht alles ist Karl Dedecius im Leben gelungen. Mit seiner Passion für die osteuropäische, vor allem die polnische Literatur hat er für diese in Deutschland viel an Aufmerksamkeit gewinnen können. Mit 85 Jahren legt er nun seine Erinnerungen vor. Die Rezensentin Marta Kijowska preist sie als das Werk eines souveränen Meisters seines Fachs. Das liegt zum einen am Stil. Anders als in manch früherem Text halte er hier das rechte Maß und verzichte auf rhetorische Ausschmückungen. Vor allem aber hat Dedecius in seinem Leben viele der von ihm übersetzten Literaten gut kennengelernt, war mit manchen, wie Stanislaw Jerzy Lec, sogar gut befreundet. Die aus genauer Kenntnis und Freundschaft entworfenen Porträts zählt Kijowska denn auch zu den Höhepunkten des Bandes. Erstaunlich aufschlussreich findet sie auch die Fotografien, die Karl Dedecius als Persönlichkeit zeigen, die sich dem Mitmenschen und der Arbeit konzentriert widmet - und dadurch jede Verschwendung von Zeit zu vermeiden versteht.

© Perlentaucher Medien GmbH