Die Studie fragt nach dem Verhalten der Archivare, ihrem Verhältnis zur NSDAP und ihren Verstrickungen in die NS-Politik sowie der Politisierung der Archivarbeit. Speziell untersucht sie die Verlagerung von Archivbeständen in das Deutsche Reich und das Schicksal von "Deutschtums-" und "Judenarchivalien". Betrachtet werden nicht nur die grundlegenden Entwicklungen im preußischen, sondern auch im polnischen und ukrainischen Archivwesen. Anhand der persönlichen Korrespondenzen und der Entnazifizierungsverfahren werden schließlich Bedeutung und Selbstwahrnehmung des "Osteinsatzes" in der Nachkriegszeit analysiert.
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Frankfurter Allgemeine ZeitungOperation Aktenklau
Auch deutsche Archivare waren im "Osteinsatz"
Die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus fällt deutschen Behörden schwer. Dies gilt sogar für die Archive. Sie hüten zwar, wie Novalis meinte, "das Gedächtnis der Nation". Doch auch bei diesem der Geschichte und der Erinnerung besonders verbundenen Berufsstand muss die Bewältigung der Vergangenheit mitunter von außen angestoßen werden. Die deutsche Archivverwaltung des Generalgouvernements und des Reichskommissariats Ukraine ist Gegenstand einer quellenmäßig breit angelegten, materialgesättigten Studie, mit der Stefan Lehr primär die Geschichte des "Osteinsatzes" von Reichsarchiv und Generaldirektion der preußischen Staatsarchive im Zweiten Weltkrieg nachzeichnet. Darüber hinaus schildert er die preußische Archivverwaltung in Polen im Ersten Weltkrieg, vergleicht für die Zwischenkriegszeit das Archivwesen in Preußen, Polen und der Ukraine und gibt für die Zeit nach 1945 ein umfassendes Bild des Schicksals der deutschen, polnischen und ukrainischen Archivalien und Archivare.
Besonderen Reiz gewinnt die Arbeit durch die privaten Aufzeichnungen deutscher und polnischer Archivare, die Lehr neben den Behördenakten heranzieht. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die preußischen Staatsarchive intensive Forschungen zu den an Polen verlorenen deutschen Ostgebieten begonnen, deren Ergebnisse von der Publikationsstelle des Geheimen Staatsarchivs veröffentlicht wurden. Die preußischen Archivare waren somit gut vorbereitet auf die neuen Aufgaben beim Einsatzstab des "Reichsministers für die besetzten Ostgebiete", Alfred Rosenberg, im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine.
Die Auslagerungen von Archivalien und ihre Transporte innerhalb der Ukraine und des Generalgouvernements und auf reichsdeutsches Gebiet weist Lehr akribisch nach. Nicht nur polnische Archivare sahen die Verlagerung von Teilen ihrer Bestände mit Skepsis. Auch Hans Frank, Generalgouverneur und 1946 in Polen als Kriegsverbrecher hingerichtet, achtete darauf, dass die Akten seines Herrschaftsbereichs dort verblieben und nicht ausgelagert wurden.
Die Beziehungen der deutschen Besatzungsarchivare zu den ihnen unterstellten polnischen Kollegen waren in der Regel von korrekter Höflichkeit; die deutschen Vorgesetzten halfen bei der Wohnraumbeschaffung, beim Zugang zum Kantinenessen und veranlassten die Zahlung von Sonderprämien. 1946 und 1947 gewährte Polen dem ehemaligen Direktor der Archive im Generalgouvernement Erich Randt in Berlin monatliche Geldzahlungen und gelegentlich auch Speckseiten. Im Gegenzug musste Randt sich verpflichten, die Auslagerungen von Akten aus polnischen Archiven aufzuzeichnen. Der Osteinsatz war für die deutschen Archivare lukrativ; es lockten eine schnellere Karriere und ein deutlich höheres Gehalt als im Reichsgebiet. Die Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung mussten sie zur Kenntnis nehmen. Die Ermordung der Juden hielt Wolfgang Mommsen, Archivar beim Reichskommissariat Ostland in Riga, in seinem Tagebuch am 29. März 1942 fest. Die Mitgliedschaft der Archivare in der NSDAP und ihren Gliederungen und die "Entnazifizierung" weist der Autor detailliert nach.
In der Bundesrepublik begann für die meisten Archivare eine neue Karriere - als Leiter des Archivs im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Bonn oder als Dozent in Marburg bei der Ausbildung der westdeutschen Archivare oder als Direktor beziehungsweise Präsident des Bundesarchivs in Koblenz, das auch weitere Archivare des Osteinsatzes als Referenten aufnahm. Gelegentliche Wiederholungen mindern nicht das Verdienst dieser nicht immer leicht lesbaren Studie.
HANS JOCHEN PRETSCH
Stefan Lehr: Ein fast vergessener "Osteinsatz". Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine. Droste Verlag, Düsseldorf 2007. 412 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch deutsche Archivare waren im "Osteinsatz"
Die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus fällt deutschen Behörden schwer. Dies gilt sogar für die Archive. Sie hüten zwar, wie Novalis meinte, "das Gedächtnis der Nation". Doch auch bei diesem der Geschichte und der Erinnerung besonders verbundenen Berufsstand muss die Bewältigung der Vergangenheit mitunter von außen angestoßen werden. Die deutsche Archivverwaltung des Generalgouvernements und des Reichskommissariats Ukraine ist Gegenstand einer quellenmäßig breit angelegten, materialgesättigten Studie, mit der Stefan Lehr primär die Geschichte des "Osteinsatzes" von Reichsarchiv und Generaldirektion der preußischen Staatsarchive im Zweiten Weltkrieg nachzeichnet. Darüber hinaus schildert er die preußische Archivverwaltung in Polen im Ersten Weltkrieg, vergleicht für die Zwischenkriegszeit das Archivwesen in Preußen, Polen und der Ukraine und gibt für die Zeit nach 1945 ein umfassendes Bild des Schicksals der deutschen, polnischen und ukrainischen Archivalien und Archivare.
Besonderen Reiz gewinnt die Arbeit durch die privaten Aufzeichnungen deutscher und polnischer Archivare, die Lehr neben den Behördenakten heranzieht. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die preußischen Staatsarchive intensive Forschungen zu den an Polen verlorenen deutschen Ostgebieten begonnen, deren Ergebnisse von der Publikationsstelle des Geheimen Staatsarchivs veröffentlicht wurden. Die preußischen Archivare waren somit gut vorbereitet auf die neuen Aufgaben beim Einsatzstab des "Reichsministers für die besetzten Ostgebiete", Alfred Rosenberg, im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine.
Die Auslagerungen von Archivalien und ihre Transporte innerhalb der Ukraine und des Generalgouvernements und auf reichsdeutsches Gebiet weist Lehr akribisch nach. Nicht nur polnische Archivare sahen die Verlagerung von Teilen ihrer Bestände mit Skepsis. Auch Hans Frank, Generalgouverneur und 1946 in Polen als Kriegsverbrecher hingerichtet, achtete darauf, dass die Akten seines Herrschaftsbereichs dort verblieben und nicht ausgelagert wurden.
Die Beziehungen der deutschen Besatzungsarchivare zu den ihnen unterstellten polnischen Kollegen waren in der Regel von korrekter Höflichkeit; die deutschen Vorgesetzten halfen bei der Wohnraumbeschaffung, beim Zugang zum Kantinenessen und veranlassten die Zahlung von Sonderprämien. 1946 und 1947 gewährte Polen dem ehemaligen Direktor der Archive im Generalgouvernement Erich Randt in Berlin monatliche Geldzahlungen und gelegentlich auch Speckseiten. Im Gegenzug musste Randt sich verpflichten, die Auslagerungen von Akten aus polnischen Archiven aufzuzeichnen. Der Osteinsatz war für die deutschen Archivare lukrativ; es lockten eine schnellere Karriere und ein deutlich höheres Gehalt als im Reichsgebiet. Die Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung mussten sie zur Kenntnis nehmen. Die Ermordung der Juden hielt Wolfgang Mommsen, Archivar beim Reichskommissariat Ostland in Riga, in seinem Tagebuch am 29. März 1942 fest. Die Mitgliedschaft der Archivare in der NSDAP und ihren Gliederungen und die "Entnazifizierung" weist der Autor detailliert nach.
In der Bundesrepublik begann für die meisten Archivare eine neue Karriere - als Leiter des Archivs im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Bonn oder als Dozent in Marburg bei der Ausbildung der westdeutschen Archivare oder als Direktor beziehungsweise Präsident des Bundesarchivs in Koblenz, das auch weitere Archivare des Osteinsatzes als Referenten aufnahm. Gelegentliche Wiederholungen mindern nicht das Verdienst dieser nicht immer leicht lesbaren Studie.
HANS JOCHEN PRETSCH
Stefan Lehr: Ein fast vergessener "Osteinsatz". Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine. Droste Verlag, Düsseldorf 2007. 412 S., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr interessiert hat Hans Jochen Pretsch die Studie von Stefan Lehr über den Einsatz deutscher Archivare in den besetzen Ostgebieten Polen und der Ukraine gelesen, die er nicht zuletzt deshalb verdienstvoll findet, weil sich selbst diese dem Gedächtnis auf besondere Art verbundenen Behörden mit einem Rückblick auf die eigene NS-Vergangenheit schwer tun, wie er weiß. Bewundernd stellt er die Akribie und den Detailreichtum heraus, mit denen Lehr die Geschichte der preußischen Archivverwaltung in Polen im Ersten Weltkrieg, vergleichende Archivgeschichte von Preußen, Polen und der Ukraine zwischen den Kriegen und die weitere Entwicklung im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit nachzeichnet. Als besonders reizvoll gefiel dem Rezensenten, dass neben Behördenakten auch aus privaten Aufzeichnungen deutscher Archivare zitiert wird. Auch wenn Pretsch zugibt, dass es um die Lesbarkeit der Studie nicht immer zum besten steht und es einige Redundanzen auszuhalten gilt, sieht er darin den Wert dieser breit angelegten Untersuchung nicht merklich gemindert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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