Das echte Babylon Berlin
Der Bestseller aus dem Jahr 1931 führt mitten hinein in die pulsierende Metropole Berlin auf dem Höhepunkt der Goldenen Zwanziger. Folgen Sie dem Autor bei seinen Ausflügen zu den Hotspots des damaligen Nachtlebens in sagenumwobene Varietés und Tanzpaläste, in Vergnügungsparks und Kaffeehäuser, in angesagte Bars und Schwulenkneipen, an die dunklen Orte der Prostitution und des Verbrechens.
Der Bestseller aus dem Jahr 1931 führt mitten hinein in die pulsierende Metropole Berlin auf dem Höhepunkt der Goldenen Zwanziger. Folgen Sie dem Autor bei seinen Ausflügen zu den Hotspots des damaligen Nachtlebens in sagenumwobene Varietés und Tanzpaläste, in Vergnügungsparks und Kaffeehäuser, in angesagte Bars und Schwulenkneipen, an die dunklen Orte der Prostitution und des Verbrechens.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.08.2018Amüsement auf Kündigung
Curt Moreck führt durch die Berliner Nächte des Jahres 1931
Was in ihnen steckt, zeigen Menschen und große Städte nach Büroschluss. Mit Einbruch der Dämmerung werden sie schön. Die Lichter gehen an, Leuchtreklame verwandelt Straßen in Filmkulissen, der Alkohol beseitigt „bourgeoise Hemmungen“, Zeit für einen vorübergehenden Abschied vom Alltags-Ich, Zeit fürs Nachtleben.
Die Frage, wann dieses denn eigentlich beginnt, hat der Fachmann Curt Moreck mit einem klugen „Kommt drauf an“ beantwortet: „Es kann einem passieren, dass die Nacht vorbei ist und das Nachtleben noch nicht angefangen hat. Nur die Geduld nicht verlieren. Es gibt in jeder Lotterie Nieten, und die Erwartung der Überraschungen des Nachtlebens ist so eine Lotterie.“ Neben Geduld muss der Amüsierbedürftige die richtige Stimmung mitbringen und wissen, was wo eventuell möglich wäre.
Das Vergnügen lässt sich, wie Moreck schreibt, nicht kommandieren, aber industrialisieren. In den Zwanzigerjahren kümmerten sich Hunderte straff organisierte Betriebe, Kabaretts, Tanzpaläste, Restaurants, Cafés, Varietés, Kaschemmen und Nacht-Badeanstalten darum, dass in der Hauptstadt jeder zahlende Gast eine Chance auf das große Nachtleben-Los erhielt. Für die knapp 1,5 Millionen Fremdenverkehrsgäste und für die Neugierigen unter den Einheimischen hat Curt Moreck, der 1888 in Köln als Konrad Haemmerling geboren wurde, einen „Führer durch das lasterhafte Berlin“ verfasst. Mit diesem Titel aus dem Jahr 1931, nicht mit seinen Romanen, Novellen und kulturhistorischen Betrachtungen, ist der Autor in die Literaturgeschichte eingegangen. Da das Buch antiquarisch kaum zu haben oder recht teuer war, hat der Bebra-Verlag eine Neuausgabe gewagt.
Neben einem Verzeichnis der von Moreck besuchten und beschriebenen Etablissements – es muss harte Vergnügungsarbeit gewesen sein – finden sich darin grandiose Fotos, auf denen das Berlin jener Zwanzigerjahre ausschaut, als hätte Jean-Luc Godard es inszeniert. Auf einer Fotografie von 1929 haben die Ganoven ein Mädel an der Seite, eine Schiebermütze auf dem Kopf, eine Fluppe im Mundwinkel – in dieser Berliner Kaschemme wussten sie offenbar, wie viel Verruchtheit man den Besuchern schuldete.
Curt Morecks Text steht am Ende einer kurzen, aufregenden literarischen Tradition der Berliner Moderne. Sie begann mit den „Großstadt-Dokumenten“, die der Vagabund und Journalist Hans Ostwald zwischen 1904 und 1908 herausgab. Da schrieb Julius Bab über die „Berliner Bohème“ und Magnus Hirschfeld stellte das „Dritte Geschlecht“ der Reichshauptstadt vor, Zuhälter, Dirnen, Banker und schwere Jungs kamen zu Wort, Wohnungselend und Justizalltag wurden geschildert: mit Statistiken, Selbstzeugnissen, Reportagen und Porträts. Andere eiferten der erfolgreichen Reihe nach. „Geschichte von unten“ erhellte die Parallelgesellschaften, die in einer Großstadt – Berlin zählte 1920 mehr Einwohner als heute – nebeneinander existieren und miteinander irgendwie auskommen müssen.
Moreck bringt alles, was das Genre auszeichnet: lebendige Schilderungen, süffisante Kommentare, soziologische Typisierung. Seine Metropolenerkundung rechnet mit den voyeuristischen Lüsten der Leser. Über das „Bürger-Casino“ in der Nähe des Spittelmarkts heißt es: „Zwischen den Tischen tanzen Knaben mit Knaben, Männer mit Knaben. Schieben sich hin und her, denn zum Tanzen ist zu wenig Raum. Biegen sich in den Hüften wie ganz schlanke, junge Mädchen, werfen schmachtende Blicke zu den Tischen, Blicke aus dunkelumränderten Augen“. Lesbische Lokale werden ebenso gewürdigt wie brave Nachmittagstees und Dancings in den Hotels.
Das Berliner Nachtleben eiferte zwei Vorbildern nach: Paris und „Amerika“, blieb im Kern aber immer berlinisch, also nicht ganz so elegant und nicht ganz so abgebrüht. Die Friedrichstraße, die Amüsiermeile des Kaiserreichs, hatte ihre besten Tage hinter sich; am Kurfürstendamm und drumherum ging es mondän zu; die Unterwelt ließ sich um den Alexanderplatz herum beobachten. Überall zeigten die Berliner wenig Neigung zur Anhänglichkeit. Wer die Sensation sucht, engagiert sich nur auf Zeit, alles Vergnügen war „Amüsement auf Kündigung“.
Man kann Curt Morecks Berlin-Führer als Dokument aus dem immer wieder mit den gleichen Klischees beschworenen „Sündenbabel“ der Zwanzigerjahre lesen. Interessant ist er als Zeugnis einer Ernüchterung. Es brauchte Anstrengung und Betriebsamkeit, die Großstädter fürs Erotische zu begeistern; viele Lokale versprachen, was sie gar nicht im Angebot hatten; Laster und Verlockungen waren als Reklameversprechen durchschaut. Über manchem Kneipenporträt schwebt die melancholische Vermutung, dass keine Verruchtheit, keine Ausschweifung stärker ist als die Versuchung des Normalen. Selbst in der abweichenden Liebe wiederhole sich das „gleiche Spiel“: „sie endet in der Ehe.“ Nachtschwärmer – was nun? Der Männermangel – es war Nachkriegszeit – stellte Frauen vor die Wahl, „nicht wählerisch zu sein oder allein zu bleiben. Selbst das männliche Ekel hat heute immer noch neunzigprozentige Hoffnung auf Erfolg.“
Das ist im gegenwärtigen Berlin wohl anders. Auch dürfte heute das Gemeinschaftserlebnis wichtiger sein als die Zweisamkeitsanbahnung. Eines aber blieb: Millionen warten auf Büroschluss und Dämmerung, um endlich schön sein zu können.
JENS BISKY
Curt Moreck: Ein Führer durch das lasterhafte Berlin. Das deutsche Babylon 1931. Hrsg. von Marijke Topp. Bebra-Verlag, Berlin 2018. 208 Seiten, 22 Euro.
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Curt Moreck führt durch die Berliner Nächte des Jahres 1931
Was in ihnen steckt, zeigen Menschen und große Städte nach Büroschluss. Mit Einbruch der Dämmerung werden sie schön. Die Lichter gehen an, Leuchtreklame verwandelt Straßen in Filmkulissen, der Alkohol beseitigt „bourgeoise Hemmungen“, Zeit für einen vorübergehenden Abschied vom Alltags-Ich, Zeit fürs Nachtleben.
Die Frage, wann dieses denn eigentlich beginnt, hat der Fachmann Curt Moreck mit einem klugen „Kommt drauf an“ beantwortet: „Es kann einem passieren, dass die Nacht vorbei ist und das Nachtleben noch nicht angefangen hat. Nur die Geduld nicht verlieren. Es gibt in jeder Lotterie Nieten, und die Erwartung der Überraschungen des Nachtlebens ist so eine Lotterie.“ Neben Geduld muss der Amüsierbedürftige die richtige Stimmung mitbringen und wissen, was wo eventuell möglich wäre.
Das Vergnügen lässt sich, wie Moreck schreibt, nicht kommandieren, aber industrialisieren. In den Zwanzigerjahren kümmerten sich Hunderte straff organisierte Betriebe, Kabaretts, Tanzpaläste, Restaurants, Cafés, Varietés, Kaschemmen und Nacht-Badeanstalten darum, dass in der Hauptstadt jeder zahlende Gast eine Chance auf das große Nachtleben-Los erhielt. Für die knapp 1,5 Millionen Fremdenverkehrsgäste und für die Neugierigen unter den Einheimischen hat Curt Moreck, der 1888 in Köln als Konrad Haemmerling geboren wurde, einen „Führer durch das lasterhafte Berlin“ verfasst. Mit diesem Titel aus dem Jahr 1931, nicht mit seinen Romanen, Novellen und kulturhistorischen Betrachtungen, ist der Autor in die Literaturgeschichte eingegangen. Da das Buch antiquarisch kaum zu haben oder recht teuer war, hat der Bebra-Verlag eine Neuausgabe gewagt.
Neben einem Verzeichnis der von Moreck besuchten und beschriebenen Etablissements – es muss harte Vergnügungsarbeit gewesen sein – finden sich darin grandiose Fotos, auf denen das Berlin jener Zwanzigerjahre ausschaut, als hätte Jean-Luc Godard es inszeniert. Auf einer Fotografie von 1929 haben die Ganoven ein Mädel an der Seite, eine Schiebermütze auf dem Kopf, eine Fluppe im Mundwinkel – in dieser Berliner Kaschemme wussten sie offenbar, wie viel Verruchtheit man den Besuchern schuldete.
Curt Morecks Text steht am Ende einer kurzen, aufregenden literarischen Tradition der Berliner Moderne. Sie begann mit den „Großstadt-Dokumenten“, die der Vagabund und Journalist Hans Ostwald zwischen 1904 und 1908 herausgab. Da schrieb Julius Bab über die „Berliner Bohème“ und Magnus Hirschfeld stellte das „Dritte Geschlecht“ der Reichshauptstadt vor, Zuhälter, Dirnen, Banker und schwere Jungs kamen zu Wort, Wohnungselend und Justizalltag wurden geschildert: mit Statistiken, Selbstzeugnissen, Reportagen und Porträts. Andere eiferten der erfolgreichen Reihe nach. „Geschichte von unten“ erhellte die Parallelgesellschaften, die in einer Großstadt – Berlin zählte 1920 mehr Einwohner als heute – nebeneinander existieren und miteinander irgendwie auskommen müssen.
Moreck bringt alles, was das Genre auszeichnet: lebendige Schilderungen, süffisante Kommentare, soziologische Typisierung. Seine Metropolenerkundung rechnet mit den voyeuristischen Lüsten der Leser. Über das „Bürger-Casino“ in der Nähe des Spittelmarkts heißt es: „Zwischen den Tischen tanzen Knaben mit Knaben, Männer mit Knaben. Schieben sich hin und her, denn zum Tanzen ist zu wenig Raum. Biegen sich in den Hüften wie ganz schlanke, junge Mädchen, werfen schmachtende Blicke zu den Tischen, Blicke aus dunkelumränderten Augen“. Lesbische Lokale werden ebenso gewürdigt wie brave Nachmittagstees und Dancings in den Hotels.
Das Berliner Nachtleben eiferte zwei Vorbildern nach: Paris und „Amerika“, blieb im Kern aber immer berlinisch, also nicht ganz so elegant und nicht ganz so abgebrüht. Die Friedrichstraße, die Amüsiermeile des Kaiserreichs, hatte ihre besten Tage hinter sich; am Kurfürstendamm und drumherum ging es mondän zu; die Unterwelt ließ sich um den Alexanderplatz herum beobachten. Überall zeigten die Berliner wenig Neigung zur Anhänglichkeit. Wer die Sensation sucht, engagiert sich nur auf Zeit, alles Vergnügen war „Amüsement auf Kündigung“.
Man kann Curt Morecks Berlin-Führer als Dokument aus dem immer wieder mit den gleichen Klischees beschworenen „Sündenbabel“ der Zwanzigerjahre lesen. Interessant ist er als Zeugnis einer Ernüchterung. Es brauchte Anstrengung und Betriebsamkeit, die Großstädter fürs Erotische zu begeistern; viele Lokale versprachen, was sie gar nicht im Angebot hatten; Laster und Verlockungen waren als Reklameversprechen durchschaut. Über manchem Kneipenporträt schwebt die melancholische Vermutung, dass keine Verruchtheit, keine Ausschweifung stärker ist als die Versuchung des Normalen. Selbst in der abweichenden Liebe wiederhole sich das „gleiche Spiel“: „sie endet in der Ehe.“ Nachtschwärmer – was nun? Der Männermangel – es war Nachkriegszeit – stellte Frauen vor die Wahl, „nicht wählerisch zu sein oder allein zu bleiben. Selbst das männliche Ekel hat heute immer noch neunzigprozentige Hoffnung auf Erfolg.“
Das ist im gegenwärtigen Berlin wohl anders. Auch dürfte heute das Gemeinschaftserlebnis wichtiger sein als die Zweisamkeitsanbahnung. Eines aber blieb: Millionen warten auf Büroschluss und Dämmerung, um endlich schön sein zu können.
JENS BISKY
Curt Moreck: Ein Führer durch das lasterhafte Berlin. Das deutsche Babylon 1931. Hrsg. von Marijke Topp. Bebra-Verlag, Berlin 2018. 208 Seiten, 22 Euro.
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