Drama um Kindheitsabschied und verdrängte Schuld
Die düstere, melancholische und doch das Leben der Protagonistinnen reinigende Geschichte beginnt mit einer gut gemeinten Geste: die drei Halbschwestern Erika, Laura und Molly wollen ihren gemeinsamen Vater besuchen – es könnte das letzte Mal
sein. Selbstzweifel und sorgenvolle Unsicherheit begleiten die Drei schon vor der Entscheidung, zu…mehrDrama um Kindheitsabschied und verdrängte Schuld
Die düstere, melancholische und doch das Leben der Protagonistinnen reinigende Geschichte beginnt mit einer gut gemeinten Geste: die drei Halbschwestern Erika, Laura und Molly wollen ihren gemeinsamen Vater besuchen – es könnte das letzte Mal sein. Selbstzweifel und sorgenvolle Unsicherheit begleiten die Drei schon vor der Entscheidung, zu fahren. Die Erinnerung an den letzten Besuch der kleinen schwedischen Insel würgt und hemmt. Die jahrelange Unbeschwertheit der drei Mädchen, die sich nur dort in dem idyllischen Örtchen gemeinsam trafen, fand jäh vor fünfundzwanzig Jahren ihr Ende. Doch auch die Kappeleien, die perfide zersetzende Eifersucht um die Liebe des Vaters, ihre familiäre Position oder die Anerkennung örtlicher Gleichaltriger kosteten emotionale Kraft. Nicht zu fahren, umzukehren, alles endgültig vergessen sind die aufkeimenden Überlegungen der drei inzwischen erwachsenen Frauen. Selbst der so schweigsame und stets unnahbar und distanziert wirkende Vater, der im Alter der quirligen Stadt den Rücken kehrte, um in absoluter Einsamkeit in der äußeren Ruhe sich vermutlich auch der inneren annähern möchte, äußert sich der Idee gegenüber ablehnend.
In den Rückblicken auf den letzten gemeinsamen Sommer im Ferienhaus auf der Insel entfalten sich die Bilder und Erfahrungen der Mädchen. Es sind neben fröhlicher Ausgelassenheit auch die Mühen komplexer Pubertätsemotionen und suchender Wertefindung. Immer tiefgründiger wird man hineingezogen in das Geflecht der Beziehungen der schwedischen Kinder. Mehr und mehr ahnt man ein Unglück oder zumindest eine erschütternde Wahrheit. Das Bedrohliche ist immer und überall. Die Ansprüche des Vaters, der Gesellschaft, der Kinder und der sich zart entwickelnden Liebe und der so krude daher kommende sexuelle Missbrauch als pubertäres Experiment lassen zu keiner Zeit Zweifel an einem schlimmen Ende aufkeimen.
Geradezu lakonisch erzählt lässt Linn Ullmann ihre Leserinnen und Leser an dem kindlichen und so ernsthaft folgenschweren Geschehen teilhaben. Man ist zu Recht besorgt um die Mädchen und mehr noch um den massiv gemobbten Jungen Ragnar. Es sticht einem tief ins Herz, als der Verrat Erikas die so heimlich und so innig gelebte Verbindung in den unaufhaltsamen Abgrund treibt. Ragnars grausiges Ende lässt verzweifelnd fragen, wie es zu einer so unmenschlichen Tat kommen konnte, wenngleich vermutlich die tatsächliche Konsequenz des Geschehens nie gewollt war.
Als wäre Alles nicht schon schlimm genug, wird auch mit geradezu stoischer Unaufgeregtheit der Vorfall nicht weiter behandelt oder zur Sprache gebracht. Die Mädchen verlassen die Insel, beenden die Ferienzeit und begeben sich in ein neues, ein anderes Leben. Erst der kranke Vater und das Vorhaben, ihn besuchen zu wollen, bringen den letzten Stein des Anstoßes, des Anstandes, des Gewissens wieder ins Rollen.
„Ein gesegnetes Kind“ von Linn Ullmann ist stiller, aber empathisch nachhaltiger Roman.
© 1/2007, Uli Geißler, Freier Journalist, Fürth/Bay.