"Ein Glückskind": Thomas Buergenthal überlebte Auschwitz
Man muss nicht lange suchen, um den Mann zu finden, der das Glückskind war. In der Lobby des Berliner "Savoy"-Hotels stehen viele Leute herum, aber nur ein Glücksmann. Er trägt einen klassischen mitteleuropäischen Anzug, eine dunkelblaue Krawatte und glänzende schwarze Schuhe. Auf seiner Stirn erkennt man eine kleine rote Schramme. Er strahlt. Nur mit Mühe scheint er den Impuls unterdrücken zu können, allen Anwesenden einen Klaps auf den Rücken zu geben und zu fragen, ob das nicht Wahnsinn ist, dass wir in Berlin sind, dass er in Berlin ist, dass er lebt. "Fast auf den Tag genau vor 62 Jahren war ich ja schon mal hier", erklärt er in seinem auch nach einem halben Jahrhundert in Amerika akzentfreien Deutsch. Im April 1945 hatte ihn eine polnische Spähtruppe mitgenommen in den Kampf um Berlin. Er trug eine maßgeschneiderte Uniform, passende Stiefel, eine kleine Pistole und fuhr in einer für ihn gefertigten Kutsche, die von einem aus einem deutschen Zirkus "befreiten" Pony gezogen wurde. Er war damals zehn Jahre alt und hatte zwei Gettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebt.
"Alles war voller Leichen, alles war zerstört, aber es war schon dieselbe Vorfrühlingsluft in Berlin", sagt er, strahlt und erkundigt sich nach dem Mahnmal, bewundert das Jüdische Museum. Aus dem Glückskind wurde einer der angesehensten amerikanischen Juristen; zurzeit ist er als Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag tätig. Und er hat ein Buch geschrieben, ein Glücksbuch: "Ein Glückskind" heißt es. Seite um Seite geht es nur um Glück, unwahrscheinliches, überirdisches Glück, so wie es eine Wahrsagerin seiner Mutter im Sommer 1939 vorhergesagt hat: Sie und ihr Kind würden schwere Zeiten überleben.
Als Buergenthal dann im Auditorium des Jüdischen Museums zu lesen beginnt, gibt es keinen freien Stuhl mehr. In der dritten Reihe sitzt ein Paar mittleren Alters, der Mann trägt Fliege, seine Frau ein elegantes Kostüm, das sieht man selten in Berlin. Sie weinen fast während der ganzen Lesung. Das Glück in diesem Buch strahlt umso heller, als es inmitten des größten Unglücks geschieht. "Glückskind" ist ein Buch, das einen umhaut: den, der noch nie ein Buch über den Holocaust gelesen hat, ebenso wie den, der sie alle gelesen hat. Überall, solange es Kinder gibt, Menschen essen müssen und leben möchten, wird man die Geschichte von Thommy, den der damals mächtigste Staat Europas umbringen wollte, verstehen und nicht mehr vergessen.
Am Anfang ist es sein Vater Mundek, der ihn versteckt und durchschmuggelt. Als das Getto von Kielce 1943 aufgelöst wird, werden der Familie Buergenthal Ucek und Zarenka entrissen, zwei kleine Kinder aus der Nachbarschaft, deren Mütter schon ermordet worden waren. Hierzu schreibt Buergenthal: "Im Lauf der Jahre ist es mir gelungen, so manches grauenvolle Erlebnis aus jener Zeit aus meinem Gedächtnis zu tilgen, doch niemals war ich auch nur einen Augenblick in der Lage, den Tag zu vergessen, als Ucek und Zarenka von uns fortgerissen wurden." Mundek nahm damals den kleinen Thommy an der Hand und führte ihn zum Kommandanten. Das Kind sagt den Satz, der sein Leben rettet: "Herr Hauptmann, ich kann arbeiten." Der daraufhin: "Na, das werden wir sehen." Thommy darf mit den Erwachsenen mit, die anderen Kinder werden mit Handgranaten ermordet. Mundek sucht immer wieder nach dem entscheidenden Trick, den Kleinen noch einen weiteren Tag durchzubringen. Selbst in Auschwitz gelingt das. Bei ihrer Ankunft gibt es keine Selektion. Bei späteren Appellen kann Thommy blitzschnell in die Baracke zurück. Irgendwann aber gehen Vater und Sohn in eine Falle, aus der es kein Entkommen gibt. Der Sohn wird von seinem Vater losgerissen, Mundek wird mit einem Tritt hinausbefördert. Im Buch heißt es: "Ich habe ihn nie wieder gesehen." Mehr als sechs Worte braucht man nicht, um tiefstes Unglück und größtes Unrecht zu beschreiben.
Indem sich "Glückskind" auf die Perspektive eines Kindes verlässt, gewinnt das Buch eine ganz besonders direkte, schlichte und ergreifende Qualität, beim Lesen spürt man aber auch die unmittelbare Energie und Lebensgier des kleinen Jungen. Auschwitz überlebt er, sogar den Todesmarsch. Auf dem letzten Teil der Strecke karrt die SS die halbtoten Häftlinge in offenen Güterwaggons durch die polnischen Winternächte. Dann, erneut ein Wunder: Tschechoslowakische Zivilisten werfen ihnen von Brücken herab Brot in die Waggons. "Ob das ein Wunder war und diese Menschen Engel, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht, mich hat nur das Brot interessiert", sagt er nach der Lesung lachend.
Das erste Brot klaut ihm ein Mithäftling. Zwei andere Kinder, die mit ihm Lager und Todesmarsch überstanden haben, fangen ein weiteres Brot. In Sachsenhausen kommt Thommy auf die Krankenstation, zwei Zehen muss man ihm amputieren. Seine beiden Freunde sieht er nie wieder. Im Lager bekommt Thommy öfter Besuch von einem freundlichen Norweger, Odd Nansen, Sohn des norwegischen Staatsmannes Fridtjof Nansen und später Gründer der Unicef. Nach seiner Freilassung schreibt Nansen in seinen Tagebüchern über seine Begegnungen mit dem kleinen, stets optimistischen Lagerjungen. Das Buch wird in Norwegen zu einem Bestseller. Erst Ende Dezember 1946 sieht Thommy seine Mutter in Göttingen wieder. Auch hier wirkt ein unfassbarer Zufall: Der Suchauftrag der Mutter und die Meldung aus dem polnischen Waisenhaus für jüdische Kinder liefen über den Schreibtisch desselben Angestellten der Jewish Agency in Jerusalem.
Doch das Leben in Göttingen erwies sich in vieler Hinsicht schwerer als erwartet. Beim Anblick der friedlichen deutschen Familien auf Sonntagsspaziergang wird Thommy von Rachegedanken geplagt. Erst mit der Zeit und später im wiederhergestellten Kontakt mit Odd Nansen lernt er, solche Gefühle zu unterdrücken und den Teufelskreis aus Hass und Rache zu durchbrechen. An der Verbreitung dieser Einsicht hat er dann in seinem zweiten Leben als auf die Förderung internationaler Rechtsabkommen spezialisierter Jurist gearbeitet.
Und immer noch sucht er nach der Antwort auf die Frage, was aus dem einen Mann im Lager einen Mörder, aus dem anderen einen Helden macht. Im Buch kommt sogar ein halbwegs menschlicher SS-Mann vor, der dem kleinen Jungen eine Tasse Kaffee schenkt. Ob er das Buch geschrieben habe, um der Einzelfallprüfung statt der Pauschalisierung bei der Beurteilung historischer Prozesse den Vorzug zu geben, wird er in der Diskussion gefragt. Thomas Buergenthal antwortet darauf nicht direkt, er ist zu taktvoll. Die Wahrheit dieses Buches ist ebenso schlicht wie schonungslos: Es gab im Zweiten Weltkrieg Menschen, die KZ-Häftlingen Brot in die Waggons geworfen haben, und es gab die, die auf diese Menschen schossen, noch Ende 1944, und das waren Deutsche. Auch diese Wahrheit strahlt über Zeiten und Länder hinweg, als ewiger nationalkrimineller Kontrapunkt zu Thommys Glück.
NILS MINKMAR
Thomas Buergenthal: "Ein Glückskind". Verlag S. Fischer, 271 Seiten, 19,90 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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