Triest 1935: Die Freunde Ario, Berto und Lidia haben noch nie eine Nacht an Land verbracht. Sie wohnen mit ihren Familien auf Hausbooten im Hafen von Triest - zwischen rostigen Kohlekähnen, umweht von Teergeruch und Salzwasser. Das Hafentor vor Augen, träumen sie von Freiheit und Abenteuer. Bis der sportliche Ruderer Eneo auftaucht und Lidia ihre Reize auszuspielen beginnt. Ario und Berto geraten in einen Strudel wechselnder Gefühle von unerfüllter Liebe, Eifersucht und Wut ...
"Ein eleganter Roman, gespickt mit Anspielungen und Metaphern. Er kommt an der Oberfläche sehr leicht daher und steckt voller Abgründe." Die Zeit
"Ein eleganter Roman, gespickt mit Anspielungen und Metaphern. Er kommt an der Oberfläche sehr leicht daher und steckt voller Abgründe." Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.06.2003Mit voller Kraft ins Nichts
Pier Antonio Quarantottis Adoleszenzroman ist wiederzuentdecken
Triest, im September 1945. Umberto Saba (1883 bis 1957), der älteste unter den großen Lyrikern Italiens in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aß in einer Bar an der Piazza Ponterosso ein Stück Melone, wie früher, bevor ihn Mussolinis Rassengesetze von 1938 ins Exil zwangen. In Gedanken ging er mit einem Manuskript um, das ihm ein literarischer "Sohn", Pier Antonio Quarantotti Gambini, gegeben hatte. Dessen Geschichte spielte sich geradezu nebenan, im Hafen seiner Stadt Triest, ab. Und wer weiß, ob der Halbwüchsige Ario ("Arier"), um den es vor allem geht, nicht gebrochen auf Sabas eigene Jugend anspielt. Auch sein Vater war schon vor seiner Geburt "aus dem Kreis der Familie verschwunden". All dies mußte wohl zusammenkommen, um Saba einen ebenso unzeitgemäßen wie öffnenden Titel für diesen Roman einzugeben: "L'Onda dell'incrociatore" - die "Bugwelle des Marinekreuzers". So erscheint er auch 1947; erhält sofort den bedeutenden Premio Bagutta; wird in mehreren Auflagen und Übersetzungen (seit 1962 auch im Deutschen) viel gelesen - und ist doch, bis heute, eigentlich erst noch zu entdecken.
Sabas Vorschlag deckt, gleichsam schlagartig, die Verweisungen auf, in die die Ereignisse eingelassen sind. Sie spielen vor dem großen Krieg 1935, wurden währenddessen, 1942, geschrieben und erschienen im Licht von 1945. Die riesigen Schiffe, deren Wogen am Beginn und Ende den Hafen von Triest aufwühlen, nehmen sich dadurch wie Vorzeichen des Inkommensurablen aus, in dem bald ganz Europa untergehen sollte.
Dies umschreibt zugleich auch den unsichtbaren Horizont, der die Erzählung von drei Jugendlichen umspannt. Sie selbst wissen nichts davon. Es ist, als ob ihre Hausboote im Hafen ihnen den Schutz einer Arche Noah gäben, gleich weit entfernt vom unabsehbaren Meer wie vom undurchsichtigen Leben der Stadt. Umgekehrt kann sich jedoch das auflaufende Verhängnis nur um so unkontrollierter in diese unbeschriebenen Blätter eintragen. Denn dies ist die Kunst Quarantottis: die große Geschichte so in der kleinen sich brechen zu lassen, daß sie, obwohl nichts erklärt oder bedeutet wird, gleichwohl bewegend und sensibel ins einzelne übersetzt, wie es zum Unheil im Ganzen hat kommen können.
Die erwachende Geschlechtlichkeit, Liebe, Eifersucht bei Ario, seinem Freund Berto und seiner frühreifen Schwester Lidia legen einen Adoleszenzroman nahe: Lehrjahre der Männlichkeit und Weiblichkeit also, mit schwankenden und verworrenen Gefühlen, Begeisterung und Niedergeschlagenheit, Schwellenängsten, abenteuernden Phantasien; Wünschen ohne Boden und all den Erregungen und Einsamkeiten, die an diesem labilen Übergang der Lebensalter vorherrschen.
All diese Erwartungen erfüllt der Roman und ist doch ungleich mehr. Der Titel der zweiten deutschen Übersetzung ("Ein Kinderspiel"), gerade erschienen, führt deshalb ins Abseits: Die Kinder, um die es geht, werden ihr Spiel verlieren. Vielleicht sollte man ihre Geschichte aus diesem Grunde eher einen Bildungsroman nennen, der gerade anschaulich macht, warum die Gattung im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr gelingen kann. Ihr Eintritt ins Leben scheitert bereits an der ersten Schwelle: Aufbruch und Auszug in die Welt mißlingen. Die Bildung einer eigenen Persönlichkeit muß mit den Bildern auskommen, die sie umgeben.
Und das heißt - Quarantotti ist unnachsichtig - mit dem "einfachen und schrecklichen Bann der Wirklichkeit". Am Ende haben zwar alle drei ihr dürftiges Paradies der Kindheit verlassen. Doch sie wurden dabei schuldig, ohne wirklich schuldig zu sein. Zeichenhaft bleibt ihr Ausgangspunkt, der zu etwas Großem und in die Gunst einer Frau hätte führen sollen, ihr Endpunkt. Sie hinterlassen damit die Frage, die der Geschichte von Anfang an vorausliegt: warum es so kommen mußte. Einer ihrer wundesten Punkte: Sie wollten Zukunft haben, ohne auf eine Herkunft bauen zu können. Jeder von ihnen steht unter einem beschädigten Vaterbild. Arios' Vater hatte sich schon vor seiner Geburt nach Amerika abgesetzt; Lidias ist unbekannt; Bertos ein Trinker. Mit den Müttern steht es nicht besser. Die Kinder sind ihnen ungeliebte Versorgungsfälle; sie selbst Opfer ihrer Verhältnisse; erniedrigt von den Männern und ihrer eigenen Sinnlichkeit. Für Ario bricht der kleine Rest seiner Welt zusammen, als er entdeckt, daß sich seine Mutter für Geld mit Männern trifft und damit ihrerseits Eneo, Beau und Body des Hafens, bezahlt, der wiederum der erste Liebhaber Lidias wird, um die Arios scheue Begehrlichkeit kreist. Fazit: "Er werde alle Frauen für immer verachten müssen."
Statt mit Initiation haben die Jugendlichen sich mit den sich verschließenden Ausgängen ihres Lebens auseinanderzusetzen. Es ist, als ob Sigmund Freud dabei Pate gestanden hätte. Er war, von Wien herüber, im ehemals habsburgischen Triest eine feste Größe; bei Saba selbst, bei Svevo und eben auch, diskret, bei Quarantotti: Seine Figuren entladen sich in Ersatzhandlungen. Auf der einen Seite wiegen sie die Realität mit Illusionen auf. Die Ferne, der Hafen, Schiffe, das Meer vereinigen sich in der Wunschgestalt Amerikas, ebendort also, wo Arios Vater verschollen ist und woher die Hollywoodfilme kommen, an denen sich Lidia bildet. Im Schatten dieses amerikanischen Mythos gedeihen Ersatzhelden: Eneo, der Muskulöse, der Ruderchampion; Herzog Amedeo von Aosta, der die Militärparade im Hafen abnimmt; hinter ihm der Ungenannte, Mussolini. Sie sollen für das herhalten, was den Jungen fehlt. In Ermangelung von Idealen laufen sie Idolen hinterher. Keines hält im übrigen, was es verspricht, und der Ponton, auf dem sie ihre Tage hinbringen, heißt, in bitterer Ironie, "Virtus".
Wer sich, wie sie, ohne feste "Tugendbilder" auf den Weg macht, der liefert sich seinen Instinkten aus. Sie aber huldigen nicht dem großen, sondern dem starken Mann. Und so macht, ohne im geringsten den Finger zu erheben, Quarantotti verständlich, wie damals an sozialen sich ethische Nöte und an ihnen wieder faschistische Machtphantasien nähren konnten. Den Knotenpunkt bildet eine Strafaktion, mit der die Jungen die verbotene Liebe Lidias ahnden wollen und die wegen der gerade den Hafen verlassenden Marinekreuzer tödlich endet.
Wie Quarantotti an Saba schreibt, war dieses fatale Ende der Geschichte "notwendig". Wo der Aufbruch ins "wahre Leben" sich selbst überlassen bleibt, fordert er geradezu "notwendig" das Schicksal heraus. Dieses kann sich, so Quarantottis beklommene Diagnose, gerade bei denen Zutritt verschaffen, die kein gedankliches Dach über sich und keinen affektiven Grund unter sich wissen. In diesem Vakuum gedeihen blut- und bodennahe Mythen, die den Mächtigen in die Hände spielen und die Jugendlichen ihrer Jugend berauben.
WINFRIED WEHLE
Pier Antonio Quarantotti Gambini: "Ein Kinderspiel". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull. Marebuchverlag, Hamburg 2002. 231 S., geb., 19,90 [Euro].
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Pier Antonio Quarantottis Adoleszenzroman ist wiederzuentdecken
Triest, im September 1945. Umberto Saba (1883 bis 1957), der älteste unter den großen Lyrikern Italiens in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aß in einer Bar an der Piazza Ponterosso ein Stück Melone, wie früher, bevor ihn Mussolinis Rassengesetze von 1938 ins Exil zwangen. In Gedanken ging er mit einem Manuskript um, das ihm ein literarischer "Sohn", Pier Antonio Quarantotti Gambini, gegeben hatte. Dessen Geschichte spielte sich geradezu nebenan, im Hafen seiner Stadt Triest, ab. Und wer weiß, ob der Halbwüchsige Ario ("Arier"), um den es vor allem geht, nicht gebrochen auf Sabas eigene Jugend anspielt. Auch sein Vater war schon vor seiner Geburt "aus dem Kreis der Familie verschwunden". All dies mußte wohl zusammenkommen, um Saba einen ebenso unzeitgemäßen wie öffnenden Titel für diesen Roman einzugeben: "L'Onda dell'incrociatore" - die "Bugwelle des Marinekreuzers". So erscheint er auch 1947; erhält sofort den bedeutenden Premio Bagutta; wird in mehreren Auflagen und Übersetzungen (seit 1962 auch im Deutschen) viel gelesen - und ist doch, bis heute, eigentlich erst noch zu entdecken.
Sabas Vorschlag deckt, gleichsam schlagartig, die Verweisungen auf, in die die Ereignisse eingelassen sind. Sie spielen vor dem großen Krieg 1935, wurden währenddessen, 1942, geschrieben und erschienen im Licht von 1945. Die riesigen Schiffe, deren Wogen am Beginn und Ende den Hafen von Triest aufwühlen, nehmen sich dadurch wie Vorzeichen des Inkommensurablen aus, in dem bald ganz Europa untergehen sollte.
Dies umschreibt zugleich auch den unsichtbaren Horizont, der die Erzählung von drei Jugendlichen umspannt. Sie selbst wissen nichts davon. Es ist, als ob ihre Hausboote im Hafen ihnen den Schutz einer Arche Noah gäben, gleich weit entfernt vom unabsehbaren Meer wie vom undurchsichtigen Leben der Stadt. Umgekehrt kann sich jedoch das auflaufende Verhängnis nur um so unkontrollierter in diese unbeschriebenen Blätter eintragen. Denn dies ist die Kunst Quarantottis: die große Geschichte so in der kleinen sich brechen zu lassen, daß sie, obwohl nichts erklärt oder bedeutet wird, gleichwohl bewegend und sensibel ins einzelne übersetzt, wie es zum Unheil im Ganzen hat kommen können.
Die erwachende Geschlechtlichkeit, Liebe, Eifersucht bei Ario, seinem Freund Berto und seiner frühreifen Schwester Lidia legen einen Adoleszenzroman nahe: Lehrjahre der Männlichkeit und Weiblichkeit also, mit schwankenden und verworrenen Gefühlen, Begeisterung und Niedergeschlagenheit, Schwellenängsten, abenteuernden Phantasien; Wünschen ohne Boden und all den Erregungen und Einsamkeiten, die an diesem labilen Übergang der Lebensalter vorherrschen.
All diese Erwartungen erfüllt der Roman und ist doch ungleich mehr. Der Titel der zweiten deutschen Übersetzung ("Ein Kinderspiel"), gerade erschienen, führt deshalb ins Abseits: Die Kinder, um die es geht, werden ihr Spiel verlieren. Vielleicht sollte man ihre Geschichte aus diesem Grunde eher einen Bildungsroman nennen, der gerade anschaulich macht, warum die Gattung im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr gelingen kann. Ihr Eintritt ins Leben scheitert bereits an der ersten Schwelle: Aufbruch und Auszug in die Welt mißlingen. Die Bildung einer eigenen Persönlichkeit muß mit den Bildern auskommen, die sie umgeben.
Und das heißt - Quarantotti ist unnachsichtig - mit dem "einfachen und schrecklichen Bann der Wirklichkeit". Am Ende haben zwar alle drei ihr dürftiges Paradies der Kindheit verlassen. Doch sie wurden dabei schuldig, ohne wirklich schuldig zu sein. Zeichenhaft bleibt ihr Ausgangspunkt, der zu etwas Großem und in die Gunst einer Frau hätte führen sollen, ihr Endpunkt. Sie hinterlassen damit die Frage, die der Geschichte von Anfang an vorausliegt: warum es so kommen mußte. Einer ihrer wundesten Punkte: Sie wollten Zukunft haben, ohne auf eine Herkunft bauen zu können. Jeder von ihnen steht unter einem beschädigten Vaterbild. Arios' Vater hatte sich schon vor seiner Geburt nach Amerika abgesetzt; Lidias ist unbekannt; Bertos ein Trinker. Mit den Müttern steht es nicht besser. Die Kinder sind ihnen ungeliebte Versorgungsfälle; sie selbst Opfer ihrer Verhältnisse; erniedrigt von den Männern und ihrer eigenen Sinnlichkeit. Für Ario bricht der kleine Rest seiner Welt zusammen, als er entdeckt, daß sich seine Mutter für Geld mit Männern trifft und damit ihrerseits Eneo, Beau und Body des Hafens, bezahlt, der wiederum der erste Liebhaber Lidias wird, um die Arios scheue Begehrlichkeit kreist. Fazit: "Er werde alle Frauen für immer verachten müssen."
Statt mit Initiation haben die Jugendlichen sich mit den sich verschließenden Ausgängen ihres Lebens auseinanderzusetzen. Es ist, als ob Sigmund Freud dabei Pate gestanden hätte. Er war, von Wien herüber, im ehemals habsburgischen Triest eine feste Größe; bei Saba selbst, bei Svevo und eben auch, diskret, bei Quarantotti: Seine Figuren entladen sich in Ersatzhandlungen. Auf der einen Seite wiegen sie die Realität mit Illusionen auf. Die Ferne, der Hafen, Schiffe, das Meer vereinigen sich in der Wunschgestalt Amerikas, ebendort also, wo Arios Vater verschollen ist und woher die Hollywoodfilme kommen, an denen sich Lidia bildet. Im Schatten dieses amerikanischen Mythos gedeihen Ersatzhelden: Eneo, der Muskulöse, der Ruderchampion; Herzog Amedeo von Aosta, der die Militärparade im Hafen abnimmt; hinter ihm der Ungenannte, Mussolini. Sie sollen für das herhalten, was den Jungen fehlt. In Ermangelung von Idealen laufen sie Idolen hinterher. Keines hält im übrigen, was es verspricht, und der Ponton, auf dem sie ihre Tage hinbringen, heißt, in bitterer Ironie, "Virtus".
Wer sich, wie sie, ohne feste "Tugendbilder" auf den Weg macht, der liefert sich seinen Instinkten aus. Sie aber huldigen nicht dem großen, sondern dem starken Mann. Und so macht, ohne im geringsten den Finger zu erheben, Quarantotti verständlich, wie damals an sozialen sich ethische Nöte und an ihnen wieder faschistische Machtphantasien nähren konnten. Den Knotenpunkt bildet eine Strafaktion, mit der die Jungen die verbotene Liebe Lidias ahnden wollen und die wegen der gerade den Hafen verlassenden Marinekreuzer tödlich endet.
Wie Quarantotti an Saba schreibt, war dieses fatale Ende der Geschichte "notwendig". Wo der Aufbruch ins "wahre Leben" sich selbst überlassen bleibt, fordert er geradezu "notwendig" das Schicksal heraus. Dieses kann sich, so Quarantottis beklommene Diagnose, gerade bei denen Zutritt verschaffen, die kein gedankliches Dach über sich und keinen affektiven Grund unter sich wissen. In diesem Vakuum gedeihen blut- und bodennahe Mythen, die den Mächtigen in die Hände spielen und die Jugendlichen ihrer Jugend berauben.
WINFRIED WEHLE
Pier Antonio Quarantotti Gambini: "Ein Kinderspiel". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull. Marebuchverlag, Hamburg 2002. 231 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main