Santa Monica, Kalifornien: Ein Schweizer Schriftsteller ist für zwei Monate Writer-in-Residence an der University of Southern California - ein Schriftsteller, der nicht über das Leben schreibt, sondern das Leben erzählt."Wir verstehen nicht, was mit uns geschieht." Und will man das nicht kleinreden, dann kann man wie Jörg Steiner erzählen, von anderen und von sich selbst, kann wahrnehmen, was einem widerfährt, klar und präzise das scheinbar Selbstverständliche in den Blick nehmen und ihn zugleich für das Ungewöhnliche öffnen, kann mit großer Gelassenheit den Begebenheiten und Begegnungen ihr Geheimnis belassen und in einer sachten Bewegung Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenfügen und bewahren."So lernte ich Willi, Wolfgangs Bruder, näher kennen. Ich hätte nicht Wolfgangs Geschichte geschrieben, sondern seine, sagte Willi. Er sei in der Prager-Familie in einer Glückshaut geboren, er sei das Good-Luck-Child - und er lachte und strahlte über das ganze Gesicht, tatsächlich wie einKind im Märchen. Willi hatte ein Geheimnis, Willi war der Eismacher."
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.02.2008KURZKRITIK
Wangenberührung
Jörg Steiners Skizzen aus dem pazifischen Amerika
Gleich auf den ersten Blick ist es so, als habe man diesen einige Monate dauernden Kurzaufenthalt eines älteren Schweizer Schriftstellers in Amerika schon gelesen: Tagebuchartige Aufzeichnungen, impressionistische Wahrnehmungen, fragmentarische Begegnungen, immer von einem leichten, aber ehrfürchtigen Schauder untermalt, den die Größe des Landes vorzugeben scheint, in dem einem dieses und jenes geschieht. Max Frischs „Montauk” liegt als unübersehbarer Schatten über Jörg Steiners „Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean”, ohne dass sich Steiner, 1996 Writer-in-Residence in Los Angeles, eingehend mit diesem Schatten auseinandersetzen würde. Doch hat man sich einmal damit abgefunden, dass die Behauptung der Fragilität von Erfahrung, die den Stil dieses Textes bestimmt, der schwierige Gang auf schon breiter getretenen Pfaden ist, so fallen die unverhofften Schönheiten auf, die, in anderer Form, schon Jörg Steiners „Schostakowitsch” zum späten Überraschungserfolg verhalfen. Da ist der titelgebende Kirschbaum, der in diesem Herbst 1996 zwischen Müllhaufen blüht und dem Buch etwas Japanisches gibt. Da ist diese winzige Liebesgeschichte mit einer jungen Schwarzen, die bloß auf eine Wangenberührung nach dem Besuch des Methodistengottesdiensts hinausläuft, und dennoch das pathetische Fazit „Wir wissen nicht, was uns geschieht” gerechtfertigt erscheinen lasst. Der von der Ostküste, von Montauk herüberfallende Max-Frisch-Schatten stört am Ende nicht mehr, die Westküsten-Variation ins Zartere behauptet ihr Eigenrecht. HANS-PETER KUNISCH
JÖRG STEINER: Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 86 S., 12,80 Euro.
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Wangenberührung
Jörg Steiners Skizzen aus dem pazifischen Amerika
Gleich auf den ersten Blick ist es so, als habe man diesen einige Monate dauernden Kurzaufenthalt eines älteren Schweizer Schriftstellers in Amerika schon gelesen: Tagebuchartige Aufzeichnungen, impressionistische Wahrnehmungen, fragmentarische Begegnungen, immer von einem leichten, aber ehrfürchtigen Schauder untermalt, den die Größe des Landes vorzugeben scheint, in dem einem dieses und jenes geschieht. Max Frischs „Montauk” liegt als unübersehbarer Schatten über Jörg Steiners „Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean”, ohne dass sich Steiner, 1996 Writer-in-Residence in Los Angeles, eingehend mit diesem Schatten auseinandersetzen würde. Doch hat man sich einmal damit abgefunden, dass die Behauptung der Fragilität von Erfahrung, die den Stil dieses Textes bestimmt, der schwierige Gang auf schon breiter getretenen Pfaden ist, so fallen die unverhofften Schönheiten auf, die, in anderer Form, schon Jörg Steiners „Schostakowitsch” zum späten Überraschungserfolg verhalfen. Da ist der titelgebende Kirschbaum, der in diesem Herbst 1996 zwischen Müllhaufen blüht und dem Buch etwas Japanisches gibt. Da ist diese winzige Liebesgeschichte mit einer jungen Schwarzen, die bloß auf eine Wangenberührung nach dem Besuch des Methodistengottesdiensts hinausläuft, und dennoch das pathetische Fazit „Wir wissen nicht, was uns geschieht” gerechtfertigt erscheinen lasst. Der von der Ostküste, von Montauk herüberfallende Max-Frisch-Schatten stört am Ende nicht mehr, die Westküsten-Variation ins Zartere behauptet ihr Eigenrecht. HANS-PETER KUNISCH
JÖRG STEINER: Ein Kirschbaum am Pazifischen Ozean. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 86 S., 12,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Beatrice von Matt ist von diesem Buch, in dem Jörg Steiner von seinem viermonatigen Aufenthalt als "Writer-in-Residence" an der University of Southern California in Los Angeles berichtet, hingerissen. Er bewundert darin nicht nur die äußerst sensiblen Beobachtungen des Autors, sondern hat auch den Eindruck, hier den "Rätseln des Lebens" näher zu kommen. Steiner erzählt aus dem Rückblick, er liegt Jahre später im Krankenhaus und erinnert sich an seine Zeit in den USA. Dabei macht er die Entdeckung, dass es nicht unbedingt die wichtigen Erlebnisse sind, die am deutlichsten in der Erinnerung verankert sind, sondern gerade die unbedeutenden Eindrücke, stellt die Rezensentin fasziniert fest. Sie ist vom Einfühlungsvermögen und der Genauigkeit der Beobachtungen Steiners sehr beeindruckt und stellt fest, dass es dem Autor in seiner scheinbar intentionslosen Berichterstattung um die Wirklichkeit und ihr Nachwirken in der Erinnerung geht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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