Nach "Übers Eis" und "Als Gast" ist "Ein Kirschkern im März" der dritte Band von Kurzecks großer autobiografisch-poetischer Chronik des Jahres 1984. Und dazu als ehemalige Gegenwart die Geschichte der Nachkriegszeit.
Immer im März in Deutschland die ersten warmen Tage, aber bleiben nicht. Trotzdem werden der Erzähler und die Welt am Ende des Buches noch einmal gerettet. Immer im März wird die Welt uns zurückgeschenkt.
Immer im März in Deutschland die ersten warmen Tage, aber bleiben nicht. Trotzdem werden der Erzähler und die Welt am Ende des Buches noch einmal gerettet. Immer im März wird die Welt uns zurückgeschenkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2004Der Umweg als Heimweg
Kirschkerngeschichten: Peter Kurzecks autobiographisches Projekt
Ein zitterndes Haus, das letzte Paar Schuhe, das ohne seinen Träger weitergehen will. Und ein zufällig daherrollender Kirschkern. "Ein Kirschkern im März", der jüngste Roman von Peter Kurzeck, ist nach "Übers Eis" und "Als Gast" der dritte Teil eines großen und auf weitere Bände angelegten Romanprojekts, das auf autobiographischen Erlebnissen basiert. Im jüngsten Roman Kurzecks kehren die bisweilen surreale Bildwelt und das Personal aus den Vorläuferromanen wieder: ein Erzähler, seine ehemalige Lebensgefährtin Sibylle sowie die gemeinsame vierjährige Tochter Carina, daneben Freunde, Bekannte, Verwandte, Lebende oder Tote wie die Mutter, die dem Erzähler erscheint.
Wer die vorangegangenen beiden Bände gelesen hat, kennt auch den Hauptschauplatz, Frankfurt am Main in den achtziger Jahren. Der Erzähler lebt in Trennung, als Gast ohne eigene Wohnung bei Freunden in einem Dachgeschoß im vornehmen Westend. Täglich geht er den Weg von dort nach Bockenheim, um die Tochter zu sehen, manchmal durchwandert er andere Stadtviertel, täglich beschreibt er seine Erlebnisse und spinnt in seiner Phantasie das Gesehene und Erlebte fort. Schon als Kind wollte er Romane schreiben: "Ich wußte längst, daß ich schreiben muß, weil ich sonst nicht auf der Welt bleiben kann. Schriftsteller, aber außer mir weiß das keiner!" Vom Zeitpunkt der Trennung an wird das Schreiben endgültig zur Obsession: "Du hast nur die Wahl gehabt, fortan zu keinem je wieder ein Wort, stumm - ein Gespenst, ein Schatten, ein Stein -, oder mußt jedem, der kommt, immer wieder dein Leben erzählen."
Es ist das Leben eines Mannes, der sich an seine Nachkriegskindheit in einer Flüchtlingsfamilie in dem hessischen Dorf Staufenberg erinnert, an seine Handwerkerlehre, an die ersten Ausflüge und den Umzug nach Frankfurt, und der die vertrauten und fremden Menschen um ihn herum ebenso genau beobachtet wie Orte und Dinge.
Kurzecks Bücher polarisieren. Die einen sind begeistert vom detaillierten Assoziationsreichtum und der rhythmischen Sprache, die anderen irritiert von der Handlungsarmut und den repetitiven Elementen. Allemal widerspricht Kurzecks Schreiben der Vorstellung vom linear fortschreitenden, meßbaren Charakter der Zeit. Der subjektive Aspekt des Zeitbewußtseins wird durch die schwelgerische Versenkung in das Sich-Ereignende, ins Erhoffte, Erwünschte oder Erträumte wie ins Gefürchtete oder Schmerzende zergliedert. In dieser Versenkung überlagern sich Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, die Zeit scheint dahinzurasen oder stillzustehen. Zum Gegenstand solcher Versenkung kann jedes noch so kleine Ding werden: So taucht der Kirschkern, der bereits in "Als Gast" eine Rolle spielt, im jüngsten Buch wieder auf und gibt Anlaß dazu, die Geschichte dieses Kerns, der eine ganze Welt in sich birgt, weiterzuerzählen. Erinnerungen an das Dorf der Kindheit mischen sich mit Reminiszenzen an vergangene Sommer in Frankfurt, in denen der Erzähler mit Sibylle und Carina Kirschen auf dem Spielplatz gegessen hat. Aus dem Kirschkernfund in einer kirschenlosen Jahreszeit erwächst eine sich verzweigende Geschichte: "Jeden Kern eingepflanzt. Und jetzt überall Obst. Jetzt ist die Erde voller Obstbäume."
Die mäandernden Denk- und Schreibbewegungen über das Alltägliche werden durch das Herumvagabundieren des Erzählers auf der Suche nach den feinsten Facetten des scheinbar Vertrauten immer neu in Gang gesetzt. Das Flanieren und Beobachten beschwört sich überlagernde, wortreich ausgemalte Bilder, die den Schmerz der Trennung, die Trauer über das Gewesene so spürbar machen wie die Träume, in denen der Erzähler in die Vergangenheit eintaucht und die er sich ebenso wie das Zukünftige als ein glückverheißendes, noch nicht betretenes Land ausmalt. Die Sprache folgt dem Erzählten, oft ist sie elliptisch, knapp wie die Handlung. Dann wieder werden die Worte zu Schöpfungen wie den "Gemeindeamtsfliederbäumen und Flüchtlingsholzschuppen" zusammengedrängt, häufen sich Dinge in den Aufzählungen zu Bergen auf, changiert die Wahrnehmung der Zeit zwischen Augenblick und Ewigkeit. Zugleich wird versucht, den Blick des Kindes auf die Welt zurückzuerlangen, werden Randfiguren wie die Kassiererin im Supermarkt, die Erzieherin im alternativen Kinderladen, die Eisdielenthekenkraft ins Zentrum der Erzählung gerückt. Auch die Geschichten der Bauern und Handwerker aus dem Dorf der Kindheit kommen zu ihrem Recht: "Die Dorfbevölkerung, die Einwohner - lauter Menschen, die in der Literatur nicht vorkommen. Und das sind die Menschen, von denen du leben gelernt hast, das geht dir beim Schreiben erst auf. Jetzt schreibst du das Buch, weil sie außer dir keiner kennt!"
Die Idyllen grenzenlos scheinender Imaginationskraft und Versenkung werden in Kurzecks Schreiben immer wieder durchkreuzt vom ökonomischen Druck, dem der Erzähler sich aussetzt, um erzählen und schreiben zu können. Immer wieder muß das knappe Geld gezählt werden, immer wieder wird die Freude am Heranwachsen der Tochter getrübt von der Not, Geld für neue Kinderschuhe und Kleider aufzutreiben. So bleibt "Ein Kirschkern im März" trotz seines phantastischen, oft subjektiv anmutenden Sprach- und Bilderreichtums durch harte Konfrontationen mit einer gesellschaftlichen Realität weit entfernt von Naivität und ungebrochener Unmittelbarkeit. Dank der minimalistischen Virtuosität, mit der die wenigen, immer wieder auftauchenden Personen, Orte und Gedanken umkreist und immer wieder neu gesehen werden, zeigt Kurzeck, daß sein Schreiben als Gehen des eigenen Wegs, eines "Umwegs als Heimweg" eine zwar mühevolle, aber lohnende Gratwanderung ist.
BEATE TRÖGER.
Peter Kurzeck: "Ein Kirschkern im März". Roman. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2004. 285 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kirschkerngeschichten: Peter Kurzecks autobiographisches Projekt
Ein zitterndes Haus, das letzte Paar Schuhe, das ohne seinen Träger weitergehen will. Und ein zufällig daherrollender Kirschkern. "Ein Kirschkern im März", der jüngste Roman von Peter Kurzeck, ist nach "Übers Eis" und "Als Gast" der dritte Teil eines großen und auf weitere Bände angelegten Romanprojekts, das auf autobiographischen Erlebnissen basiert. Im jüngsten Roman Kurzecks kehren die bisweilen surreale Bildwelt und das Personal aus den Vorläuferromanen wieder: ein Erzähler, seine ehemalige Lebensgefährtin Sibylle sowie die gemeinsame vierjährige Tochter Carina, daneben Freunde, Bekannte, Verwandte, Lebende oder Tote wie die Mutter, die dem Erzähler erscheint.
Wer die vorangegangenen beiden Bände gelesen hat, kennt auch den Hauptschauplatz, Frankfurt am Main in den achtziger Jahren. Der Erzähler lebt in Trennung, als Gast ohne eigene Wohnung bei Freunden in einem Dachgeschoß im vornehmen Westend. Täglich geht er den Weg von dort nach Bockenheim, um die Tochter zu sehen, manchmal durchwandert er andere Stadtviertel, täglich beschreibt er seine Erlebnisse und spinnt in seiner Phantasie das Gesehene und Erlebte fort. Schon als Kind wollte er Romane schreiben: "Ich wußte längst, daß ich schreiben muß, weil ich sonst nicht auf der Welt bleiben kann. Schriftsteller, aber außer mir weiß das keiner!" Vom Zeitpunkt der Trennung an wird das Schreiben endgültig zur Obsession: "Du hast nur die Wahl gehabt, fortan zu keinem je wieder ein Wort, stumm - ein Gespenst, ein Schatten, ein Stein -, oder mußt jedem, der kommt, immer wieder dein Leben erzählen."
Es ist das Leben eines Mannes, der sich an seine Nachkriegskindheit in einer Flüchtlingsfamilie in dem hessischen Dorf Staufenberg erinnert, an seine Handwerkerlehre, an die ersten Ausflüge und den Umzug nach Frankfurt, und der die vertrauten und fremden Menschen um ihn herum ebenso genau beobachtet wie Orte und Dinge.
Kurzecks Bücher polarisieren. Die einen sind begeistert vom detaillierten Assoziationsreichtum und der rhythmischen Sprache, die anderen irritiert von der Handlungsarmut und den repetitiven Elementen. Allemal widerspricht Kurzecks Schreiben der Vorstellung vom linear fortschreitenden, meßbaren Charakter der Zeit. Der subjektive Aspekt des Zeitbewußtseins wird durch die schwelgerische Versenkung in das Sich-Ereignende, ins Erhoffte, Erwünschte oder Erträumte wie ins Gefürchtete oder Schmerzende zergliedert. In dieser Versenkung überlagern sich Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, die Zeit scheint dahinzurasen oder stillzustehen. Zum Gegenstand solcher Versenkung kann jedes noch so kleine Ding werden: So taucht der Kirschkern, der bereits in "Als Gast" eine Rolle spielt, im jüngsten Buch wieder auf und gibt Anlaß dazu, die Geschichte dieses Kerns, der eine ganze Welt in sich birgt, weiterzuerzählen. Erinnerungen an das Dorf der Kindheit mischen sich mit Reminiszenzen an vergangene Sommer in Frankfurt, in denen der Erzähler mit Sibylle und Carina Kirschen auf dem Spielplatz gegessen hat. Aus dem Kirschkernfund in einer kirschenlosen Jahreszeit erwächst eine sich verzweigende Geschichte: "Jeden Kern eingepflanzt. Und jetzt überall Obst. Jetzt ist die Erde voller Obstbäume."
Die mäandernden Denk- und Schreibbewegungen über das Alltägliche werden durch das Herumvagabundieren des Erzählers auf der Suche nach den feinsten Facetten des scheinbar Vertrauten immer neu in Gang gesetzt. Das Flanieren und Beobachten beschwört sich überlagernde, wortreich ausgemalte Bilder, die den Schmerz der Trennung, die Trauer über das Gewesene so spürbar machen wie die Träume, in denen der Erzähler in die Vergangenheit eintaucht und die er sich ebenso wie das Zukünftige als ein glückverheißendes, noch nicht betretenes Land ausmalt. Die Sprache folgt dem Erzählten, oft ist sie elliptisch, knapp wie die Handlung. Dann wieder werden die Worte zu Schöpfungen wie den "Gemeindeamtsfliederbäumen und Flüchtlingsholzschuppen" zusammengedrängt, häufen sich Dinge in den Aufzählungen zu Bergen auf, changiert die Wahrnehmung der Zeit zwischen Augenblick und Ewigkeit. Zugleich wird versucht, den Blick des Kindes auf die Welt zurückzuerlangen, werden Randfiguren wie die Kassiererin im Supermarkt, die Erzieherin im alternativen Kinderladen, die Eisdielenthekenkraft ins Zentrum der Erzählung gerückt. Auch die Geschichten der Bauern und Handwerker aus dem Dorf der Kindheit kommen zu ihrem Recht: "Die Dorfbevölkerung, die Einwohner - lauter Menschen, die in der Literatur nicht vorkommen. Und das sind die Menschen, von denen du leben gelernt hast, das geht dir beim Schreiben erst auf. Jetzt schreibst du das Buch, weil sie außer dir keiner kennt!"
Die Idyllen grenzenlos scheinender Imaginationskraft und Versenkung werden in Kurzecks Schreiben immer wieder durchkreuzt vom ökonomischen Druck, dem der Erzähler sich aussetzt, um erzählen und schreiben zu können. Immer wieder muß das knappe Geld gezählt werden, immer wieder wird die Freude am Heranwachsen der Tochter getrübt von der Not, Geld für neue Kinderschuhe und Kleider aufzutreiben. So bleibt "Ein Kirschkern im März" trotz seines phantastischen, oft subjektiv anmutenden Sprach- und Bilderreichtums durch harte Konfrontationen mit einer gesellschaftlichen Realität weit entfernt von Naivität und ungebrochener Unmittelbarkeit. Dank der minimalistischen Virtuosität, mit der die wenigen, immer wieder auftauchenden Personen, Orte und Gedanken umkreist und immer wieder neu gesehen werden, zeigt Kurzeck, daß sein Schreiben als Gehen des eigenen Wegs, eines "Umwegs als Heimweg" eine zwar mühevolle, aber lohnende Gratwanderung ist.
BEATE TRÖGER.
Peter Kurzeck: "Ein Kirschkern im März". Roman. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2004. 285 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Peter Kurzeck schreibt an seinem Leben, und er "schreibt um sein Leben", so sieht es jedenfalls Rezensent Michael Buselmeier. "Ein Kirschkern im März" ist der dritte Band eines auf insgesamt sieben Bände angelegten autobiografischen Romanzyklus', der unmittelbar an die vorgehenden Bände anschließt und dieselben Personen und dieselben Schauplätze verhandelt, wie Buselmeier verrät. Ja, sogar die Motive und Bilder ähnelten sich, so dass vieles austauschbar erscheine. Die Trennung von seiner Frau erweist sich für Kurzeck als nie versiegender Schmerz, so Buselmeier, zugleich aber auch als Quell der Produktivität; die Handlung sei wie bei den Vorgänger-Romanen auf ein Minimum reduziert, auch die Politik (das Buch spielt zur Zeit der Frankfurter Sponti-Szene der 80er Jahre) oder das Weltgeschehen finden kaum Widerhall, bekundet Buselmeier. Umso mitreißender erweist sich für den Rezensenten die Sprache - "kühn in Bewegung", schreibt er -, die Wahrnehmungen und Erinnerungen auffrischt und vermengt. Buselmeier kann und will diesem - zugegeben - monomanischen Autor die Achtung nicht versagen, der in einem dichten assoziativen Stil schreibt und den Rezensenten in einen regelrechten Sog gezogen hat. Kurzeck ist kein Arno Schmidt, kein Thomas Bernhard, sondern eine ganz eigenständige literarische Person, schwärmt Buselmeier.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»All die Augenblicke und Beobachtungen versucht er solange festzuhalten, bis er Leben und Literatur fast zur Deckung gebracht hat.«Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung