Sechs Menschen - sechs britisch- bizarre Schicksale: Da ist zunächst Graham,der - weit über vierzig - noch immer zu Hause bei seiner Mutter wohnt und garnicht gut auf Mr. Turnbull zu sprechen ist, der Mama den Hof macht und ihreine Hochzeitsreise auf die Kanarischen Inseln verspricht.Susan hingegen, Ehefrau des Vikars, schaut häufig mal zu tief ins Glas undverliebt sich in den indischen Gemüsehändler an der Ecke. Miss Ruddock zeigtuns, wie extensives Briefeschreiben dazu führen kann, dass man im Gefängnislandet, während die naive Mittdreißigerin Lesley von einem deutschen Filmproduzentenübers Ohr gehauen wird und die Hüllen fallen lässt.Muriel schließlich hat bis heute den Tod ihres Ehemanns nicht verwunden -ebenso wenig wie die hochbetagte Doris, die einen Kleinkrieg gegen ihre Putzfrauund Altenpflegerin führt und der ein Kräcker unterm Kanapee zum Verhängniswird ...Meisterhaft beherrscht Alan Bennett die Klaviatur von Tragik bis Komik,denn diese erst macht die Schicksalsschlägedes Lebens (und auch diejenigenunter die Gürtellinie) erträglich - und Appetit auf mehr.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010Der Pfarrer kommt mir nicht ins Haus
Sechs Einsame reden sich Schuld und Schulden vom Leib, beichten aber nicht: Alan Bennetts hoch komische und tief rührende Fernsehmonologe.
Von Patrick Bahners
Sechs Einsame. Fünf Frauen und ein Mann. Graham lebt noch bei seiner Mutter. Die Pfarrersfrau Susan ist Alkoholikerin. Lesley, die arbeitslose Schauspielerin, stellt sich auf Partys mit dem Satz vor, ihr Hobby seien Menschen. Irene denunziert ihre Nachbarn bei der Polizei. Muriel verliert durch kriminelle Machenschaften ihres Sohnes ihr Vermögen. Doris liegt hilflos auf dem Boden ihrer Wohnung, weil sie sich nicht an die Anweisung der Sozialarbeiterin gehalten hat, das Staubwischen ihr zu überlassen. Diese Menschen haben nichts zu tun. Sie können nur reden, ihre Geschichten erzählen. Jeder für sich. Die Serie von sechs Monologen, die Alan Bennett 1988 für die BBC geschrieben hat (eine zweite Staffel folgte 1998), heißt ironisch "Talking Heads", nach dem britischen Ausdruck für Fernsehexperten, Kunstmenschen, die über alles reden und nichts von sich preisgeben.
Interessanterweise spielt das Fernsehen im Leben der sechs Einsamen gar keine Rolle. Nur Muriel hat nach dem Verkauf des Hausrats der Villa und dem Umzug in eine Pension das Fernsehprogramm als Zeitfüllstoff und Ordnungsmacht entdeckt. "Meine große Leidenschaft ist jetzt die Flimmerkiste. Hat mich vorher nie interessiert. Inzwischen sehe ich den ganzen Tag fern. Und ich bin keine anspruchsvolle Zuschauerin, keine Sorge. Ich schaue jeden Quatsch. Australische Nachmittagsserien. Klebe am Bildschirm. Richtiger ,Fan'."
Die Übersetzung von Ingo Herzke deutet den letzten Satz korrekt aus. Im englischen Text besteht der Satz nur aus einem Wort: "Fan." Muriel gibt zu verstehen, dass sie eine Rolle übernommen hat, die sie in ihrer früheren Existenz nie gespielt hätte. Die von Stephanie Cole im Film gesprochenen Anführungszeichen stehen im deutschen Text jetzt auf dem Papier. Damit wird allerdings Muriels fabelhafte Lakonie verwischt, die der einsilbige Fan auf die komische Spitze treibt. Ihr Monolog heißt "Aufrecht weiter", im Original "Soldiering On": Im sozialen Abstieg bewähren sich die Tugenden, die das Empire groß gemacht haben. In soldatischer Manier lässt sie in ihren Sätzen das "Ich" weg, spricht von sich sozusagen in der dritten Person: Witwe kennt keinen Schmerz.
Das Beispiel deutet das Problem der deutschen Ausgabe an. Es ist sehr erfreulich, dass der Wagenbach-Verlag dem deutschen Publikum, das so begeistert war von der "Souveränen Leserin", der Erzählung über die fiktiven Abenteuer Elisabeths II. im Reich der Fiktion, Bennett auch als Dramatiker vorstellt. Mit Komödien der Befangenheit ist der 1934 in Leeds geborene Metzgerssohn zum Nationalschriftsteller geworden, dem sein Ruhm naturgemäß peinlich ist. Aber der "richtige" Bennett-"Fan" wird sich die DVD mit Maggie Smith als Susan und dem Autor als Graham besorgen und das Textbuch nachlesen.
Übrigens passt Bennetts Königin nicht schlecht zum Personal der "Talking Heads": eine ältere Dame, die in Jahrzehnten der Pflichterfüllung nie ein Fenster in ihr Seelenleben geöffnet hat und dank einer beiläufigen Änderung ihrer Lebensumstände auf den Geschmack an der Selbsterkenntnis kommt. Auch die Königin sagt nicht "ich", sondern "man" ("one"). Für sie gilt von Verfassungs wegen, was Bennett im letzten Satz des Nachworts als die Lektion seiner Jugend in der nordenglischen Provinz bezeichnet: "Leben ist meistens das, was sich anderswo ereignet."
Das Buch erfüllt einen guten Zweck, indem es vor Augen führt, dass die sechs Monologe ein Werk bilden, mit feinen motivischen Verknüpfungen. Als Schachzeitschriften gibt Graham seine Bettlektüre gegenüber der Mutter aus, der allerdings nicht verborgen geblieben ist, dass es sich bei den Schachfiguren um nackte Männer handelt. Lesley bekommt nach ihrem Part in Roman Polanskis "Tess" ("Chloë war die hinten auf dem Bauernkarren mit dem Schal um. Der bestickte Schal war original neunzehntes Jahrhundert. Alles Handarbeit.") endlich wieder eine Filmrolle und wird gefragt, ob sie Schach spielen kann. Polanskis Kollege, der sich Gunther nennen lässt, verwendet auf die Kostüme gerade keine Sorgfalt: Der Bikini, den Lesley ablegen muss, ist keine Handarbeit. Zum Ausgleich darf sie intellektuell wirken. Daher Schach. Der Film wird für den westdeutschen Videomarkt produziert.
Zweimal kommt die Johanniter-Unfallhilfe vor, zweimal "Essen auf Rädern". Die Einsamen fallen nicht durch das soziale Netz, auch wenn sie die Betreuung als kränkend erleben. In der Thatcher-Zeit, auf dem Gebiet der anglikanischen Diözese von Ripon und Leeds, gibt es noch eine Gemeinschaft, dank Freiwilligen und Berufshelfern. Der Bibliotheksbus der Gemeinde Windsor in der "Souveränen Leserin" gehört in dieselbe Welt. Eine besonders zwiespältige Rolle spielen die Pfarrer. Irene will den Pfarrer zunächst gar nicht in ihre Wohnung lassen. Das Kreuz akzeptiert sie nicht als Dienstmarke, damit schmücken sich auch die Hooligans. Als er dann neben ihr sitzt, redet er lange nicht von Gott. "Sie behalten ihn gern so lange wie möglich im Ärmel, diese Pfarrer, weil sie wissen, dass er die Leute abschreckt."
Susan wirft ihrem Gatten vor, dass er gar nicht an Gott glaubt, allerdings nur in seiner Abwesenheit. Brillant ist ihr böses Porträt des liberalen Karrieristen, der einen Fanclub hingerissener Damen an sich bindet, indem er durchblicken lässt, dass er unter der Soutane ein Mann ist. Aber wir kennen diesen Geoff nur aus ihrem Mund. Vielleicht ist die anglikanische Diskretion in seinem Fall doch eine Form der Barmherzigkeit. Susan opfert ihrem Dämon heimlich und bemerkt nicht, dass sie vor der Gemeinde betrunken ist und ihr Mann sich für sie schämt nach dem Verschwinden des Messweins.
Die Monologe sind keine Lebensbeichten. Muriel hat in der Fußgängerzone mit einem Hare-Krishna-Jünger geplaudert ("den Kopf geschoren, aber sonst ganz vernünftig"), der sie in die Reinkarnationslehre einweihte. Das Leben als Probelauf: "Auch nicht unvernünftiger als alles andere, finde ich." So tolerant ist Muriel, weil sie durch und durch konventionell ist: die Dulderin ohne Trostbedürfnis, eine Unheilige für unsere Zeit.
Alan Bennett: "Ein Kräcker unterm Kanapee". Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 137 S., geb., 15,90 [Euro].
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Sechs Einsame reden sich Schuld und Schulden vom Leib, beichten aber nicht: Alan Bennetts hoch komische und tief rührende Fernsehmonologe.
Von Patrick Bahners
Sechs Einsame. Fünf Frauen und ein Mann. Graham lebt noch bei seiner Mutter. Die Pfarrersfrau Susan ist Alkoholikerin. Lesley, die arbeitslose Schauspielerin, stellt sich auf Partys mit dem Satz vor, ihr Hobby seien Menschen. Irene denunziert ihre Nachbarn bei der Polizei. Muriel verliert durch kriminelle Machenschaften ihres Sohnes ihr Vermögen. Doris liegt hilflos auf dem Boden ihrer Wohnung, weil sie sich nicht an die Anweisung der Sozialarbeiterin gehalten hat, das Staubwischen ihr zu überlassen. Diese Menschen haben nichts zu tun. Sie können nur reden, ihre Geschichten erzählen. Jeder für sich. Die Serie von sechs Monologen, die Alan Bennett 1988 für die BBC geschrieben hat (eine zweite Staffel folgte 1998), heißt ironisch "Talking Heads", nach dem britischen Ausdruck für Fernsehexperten, Kunstmenschen, die über alles reden und nichts von sich preisgeben.
Interessanterweise spielt das Fernsehen im Leben der sechs Einsamen gar keine Rolle. Nur Muriel hat nach dem Verkauf des Hausrats der Villa und dem Umzug in eine Pension das Fernsehprogramm als Zeitfüllstoff und Ordnungsmacht entdeckt. "Meine große Leidenschaft ist jetzt die Flimmerkiste. Hat mich vorher nie interessiert. Inzwischen sehe ich den ganzen Tag fern. Und ich bin keine anspruchsvolle Zuschauerin, keine Sorge. Ich schaue jeden Quatsch. Australische Nachmittagsserien. Klebe am Bildschirm. Richtiger ,Fan'."
Die Übersetzung von Ingo Herzke deutet den letzten Satz korrekt aus. Im englischen Text besteht der Satz nur aus einem Wort: "Fan." Muriel gibt zu verstehen, dass sie eine Rolle übernommen hat, die sie in ihrer früheren Existenz nie gespielt hätte. Die von Stephanie Cole im Film gesprochenen Anführungszeichen stehen im deutschen Text jetzt auf dem Papier. Damit wird allerdings Muriels fabelhafte Lakonie verwischt, die der einsilbige Fan auf die komische Spitze treibt. Ihr Monolog heißt "Aufrecht weiter", im Original "Soldiering On": Im sozialen Abstieg bewähren sich die Tugenden, die das Empire groß gemacht haben. In soldatischer Manier lässt sie in ihren Sätzen das "Ich" weg, spricht von sich sozusagen in der dritten Person: Witwe kennt keinen Schmerz.
Das Beispiel deutet das Problem der deutschen Ausgabe an. Es ist sehr erfreulich, dass der Wagenbach-Verlag dem deutschen Publikum, das so begeistert war von der "Souveränen Leserin", der Erzählung über die fiktiven Abenteuer Elisabeths II. im Reich der Fiktion, Bennett auch als Dramatiker vorstellt. Mit Komödien der Befangenheit ist der 1934 in Leeds geborene Metzgerssohn zum Nationalschriftsteller geworden, dem sein Ruhm naturgemäß peinlich ist. Aber der "richtige" Bennett-"Fan" wird sich die DVD mit Maggie Smith als Susan und dem Autor als Graham besorgen und das Textbuch nachlesen.
Übrigens passt Bennetts Königin nicht schlecht zum Personal der "Talking Heads": eine ältere Dame, die in Jahrzehnten der Pflichterfüllung nie ein Fenster in ihr Seelenleben geöffnet hat und dank einer beiläufigen Änderung ihrer Lebensumstände auf den Geschmack an der Selbsterkenntnis kommt. Auch die Königin sagt nicht "ich", sondern "man" ("one"). Für sie gilt von Verfassungs wegen, was Bennett im letzten Satz des Nachworts als die Lektion seiner Jugend in der nordenglischen Provinz bezeichnet: "Leben ist meistens das, was sich anderswo ereignet."
Das Buch erfüllt einen guten Zweck, indem es vor Augen führt, dass die sechs Monologe ein Werk bilden, mit feinen motivischen Verknüpfungen. Als Schachzeitschriften gibt Graham seine Bettlektüre gegenüber der Mutter aus, der allerdings nicht verborgen geblieben ist, dass es sich bei den Schachfiguren um nackte Männer handelt. Lesley bekommt nach ihrem Part in Roman Polanskis "Tess" ("Chloë war die hinten auf dem Bauernkarren mit dem Schal um. Der bestickte Schal war original neunzehntes Jahrhundert. Alles Handarbeit.") endlich wieder eine Filmrolle und wird gefragt, ob sie Schach spielen kann. Polanskis Kollege, der sich Gunther nennen lässt, verwendet auf die Kostüme gerade keine Sorgfalt: Der Bikini, den Lesley ablegen muss, ist keine Handarbeit. Zum Ausgleich darf sie intellektuell wirken. Daher Schach. Der Film wird für den westdeutschen Videomarkt produziert.
Zweimal kommt die Johanniter-Unfallhilfe vor, zweimal "Essen auf Rädern". Die Einsamen fallen nicht durch das soziale Netz, auch wenn sie die Betreuung als kränkend erleben. In der Thatcher-Zeit, auf dem Gebiet der anglikanischen Diözese von Ripon und Leeds, gibt es noch eine Gemeinschaft, dank Freiwilligen und Berufshelfern. Der Bibliotheksbus der Gemeinde Windsor in der "Souveränen Leserin" gehört in dieselbe Welt. Eine besonders zwiespältige Rolle spielen die Pfarrer. Irene will den Pfarrer zunächst gar nicht in ihre Wohnung lassen. Das Kreuz akzeptiert sie nicht als Dienstmarke, damit schmücken sich auch die Hooligans. Als er dann neben ihr sitzt, redet er lange nicht von Gott. "Sie behalten ihn gern so lange wie möglich im Ärmel, diese Pfarrer, weil sie wissen, dass er die Leute abschreckt."
Susan wirft ihrem Gatten vor, dass er gar nicht an Gott glaubt, allerdings nur in seiner Abwesenheit. Brillant ist ihr böses Porträt des liberalen Karrieristen, der einen Fanclub hingerissener Damen an sich bindet, indem er durchblicken lässt, dass er unter der Soutane ein Mann ist. Aber wir kennen diesen Geoff nur aus ihrem Mund. Vielleicht ist die anglikanische Diskretion in seinem Fall doch eine Form der Barmherzigkeit. Susan opfert ihrem Dämon heimlich und bemerkt nicht, dass sie vor der Gemeinde betrunken ist und ihr Mann sich für sie schämt nach dem Verschwinden des Messweins.
Die Monologe sind keine Lebensbeichten. Muriel hat in der Fußgängerzone mit einem Hare-Krishna-Jünger geplaudert ("den Kopf geschoren, aber sonst ganz vernünftig"), der sie in die Reinkarnationslehre einweihte. Das Leben als Probelauf: "Auch nicht unvernünftiger als alles andere, finde ich." So tolerant ist Muriel, weil sie durch und durch konventionell ist: die Dulderin ohne Trostbedürfnis, eine Unheilige für unsere Zeit.
Alan Bennett: "Ein Kräcker unterm Kanapee". Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Wagenbach Verlag, Berlin 2010. 137 S., geb., 15,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Spätestens jetzt sollte dem Schriftsteller und Bühnenautor Alan Bennett auch hierzulande die Popularität zuteil werden, die er in seiner Heimat Großbritannien schon lange genießt, meint Rezensent Michael Schmitt. Bereits 1988/89 hatte er für das britische Fernsehen (später auch in Buchform) die Serie "Talking Heads" produziert, in der meist "einfache Charaktere" von den Sorgen und Enttäuschungen ihres Alltags berichten konnten. Sechs dieser Monologe sind nun unter dem Titel "Ein Kräcker unterm Kanapee" ins Deutsche übersetzt worden und der Rezensent stellt fest, dass das vordergründig Satirische dieser Geschichten nach und nach die Tragik ihrer Figuren durchblicken lässt: Erzählungen wie die eines erwachsenen Mannes, der sich beim Zusammenleben mit seiner Mutter von deren neuem Freund gestört fühlt, haben immer etwas "Schrulliges", so Schmitt, die Verlorenheit der Charaktere, die um Selbstsicherheit ringen und dennoch hinter ihre Fassaden blicken lassen, bewirken beim Leser aber schnell ambivalente Gefühle. Kunstvoll, wie Bennett es gelingt, mit einfachen Mitteln "Wortkaskaden und Selbstrechtfertigungen" loszutreten, urteilt der beeindruckte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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