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Zwölf Jahre alt war Göran Rosenberg, als sein Vater sich das Leben nahm. Nun, fünf Jahrzehnte später, zeichnet der Sohn das Leben des ihm beinah Unbekannten nach wie in einem literarischen Phantombild - erstellt aus Erinnerungen und so kargen wie bedeutsamen Spuren. Rosenberg wurde 1948 in der schwedischen Kleinstadt Södertälje geboren. Eine fast normale Kindheit - bis er langsam verstand, dass seine Eltern anders, jüdisch, waren, dass sie Auschwitz überlebt hatten, bevor sie eine neue Existenz aufbauten, die sein Vater nicht lange ertrug. Dieses hoffnungslos gerettete Leben versucht Rosenberg…mehr

Produktbeschreibung
Zwölf Jahre alt war Göran Rosenberg, als sein Vater sich das Leben nahm. Nun, fünf Jahrzehnte später, zeichnet der Sohn das Leben des ihm beinah Unbekannten nach wie in einem literarischen Phantombild - erstellt aus Erinnerungen und so kargen wie bedeutsamen Spuren. Rosenberg wurde 1948 in der schwedischen Kleinstadt Södertälje geboren. Eine fast normale Kindheit - bis er langsam verstand, dass seine Eltern anders, jüdisch, waren, dass sie Auschwitz überlebt hatten, bevor sie eine neue Existenz aufbauten, die sein Vater nicht lange ertrug. Dieses hoffnungslos gerettete Leben versucht Rosenberg zu begreifen: Er vollzieht den Weg seines Vaters nach, besucht Gedächtnisorte und vergessene Leidensstationen, das ehemalige Ghetto von Lódz, das Arbeitslager der Firma Büssing bei Braunschweig, Auschwitz. «Ein kurzer Aufenthalt» ist ein Erinnerungsbuch, Recherche und große Literatur, die sich einer zerbrochenen Biographie und der Frage nach der Möglichkeit des Lebens überhaupt in einer sensiblen, fesselnden und hochpoetischen Sprache nähert. Ein wichtiges, dringliches Buch, das uns nicht nur die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern die menschliche Existenz selbst besser begreifen lässt.
Autorenporträt
Göran Rosenberg, 1948 als Sohn zweier Auschwitz-Überlebender in Södertälje geboren, ist Journalist, Dokumentarfilmer, Schriftsteller und eine wichtige intellektuelle Stimme Schwedens. Seine Essays und Artikel wurden u. a. für die «Neue Zürcher Zeitung» und «Lettre International» übersetzt. «Ein kurzer Aufenthalt», nominiert für den renommierten August-Preis, war in Schweden ein Bestseller und erscheint in mehr als zehn Sprachen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2013

Kein neues Leben

Göran Rosenbergs Vater überlebte die Schoa, ging nach Schweden und nahm sich dort 1960 das Leben. Um zu verstehen, warum, hat der Sohn ein bewegendes Buch geschrieben

Göran Rosenberg ist Schwede. Er wurde vor 64 Jahren in einer Kleinstadt etwa 40 Kilometer südlich von Stockholm geboren. Sein Nachname ist recht häufig in Schweden, wenn er auch genauso gut jüdisch oder deutsch sein könnte; sein Vorname ist einer der häufigsten schwedischen Männervornamen überhaupt. Man spricht ihn, auf Schwedisch, mit einem für unschwedische Ohren etwas sonderbar klingenden "Ö", das, wie es aussieht, als er selbst ihn mir vorspricht, etwa in der Mitte des Halses geformt zu werden scheint.

Die Eltern von Göran Rosenberg konnten den Namen, den sie ihrem Sohn gegeben hatten, nie richtig aussprechen. Seine Mutter kann es bis heute nicht, jedenfalls nicht mit dem korrekten Ö. Sein Vater starb 1960. Beide hatten sie den Holocaust überlebt, polnische Juden, die nach Schweden kamen, um sich dort ein neues Leben aufzubauen, nachdem ihre alte Welt nicht mehr existierte und die meisten ihrer Verwandten ermordet worden waren. Warum sie sich ausgerechnet Schweden aussuchten, um aus dem Überleben ein Weiterleben zu machen, weiß Göran Rosenberg nicht so genau. Und warum sie sich innerhalb Schwedens ausgerechnet das kleine Städtchen Södertälje aussuchten, das neben einer großen Lastwagenfabrik und einem Bahnhof, an dem Schnellzüge einen kurzen Aufenthalt einlegen, nichts zu bieten hat, kann er sich nur mit einem Zufall erklären.

Jedenfalls stieg sein Vater, David Rosenberg, am 2. August 1947 in jenem Södertälje aus einem Zug und beendete damit eine Reise, die er, so kann man es sehen, und so sieht es sein Sohn, in Auschwitz angetreten hatte.

Göran Rosenberg ist in Schweden ein bekannter Mann. Unter anderem war er Washington-Korrespondent für einen großen Fernsehsender, Herausgeber einer von ihm gegründeten Zeitschrift für Kultur, hat Bücher über Israel und die Vereinigten Staaten veröffentlicht, Dokumentarfilme gemacht, schreibt Zeitungskolumnen. Nun hat er ein Buch über seinen Vater geschrieben, das davon handelt, wie dessen Leben nach Auschwitz weiterging. Ende November hat er dafür den (nach dem Nobelpreis) wichtigsten Literaturpreis Schwedens, den Augustpreis, bekommen - am Freitag erscheint es unter dem Titel "Ein kurzer Aufenthalt" auf Deutsch (und zwar, das sei dazugesagt, in einem wunderschönen Deutsch, für das der Übersetzer Jörg Scherzer verantwortlich ist).

Genaue Route

Im Original hieß das Buch etwas länger, nämlich: "Ein kurzer Aufenthalt auf dem Weg von Auschwitz". Womöglich hat der Rowohlt-Verlag das Wort Auschwitz aus dem Titel gekürzt, um einem genervten Abwinken von an Holocaustliteratur vollkommen übersättigten deutschen Buchkäufern entgegenzuwirken - in diesem Fall hätte es allerdings auch geholfen, auf dem Cover ausnahmsweise einmal auf das immer wieder gerne genommene Holocaust-Bildmotiv von Schienen, die ins Nichts führen, zu verzichten (auf dem Original war immerhin ein eindeutig schwedischer Bahnhof zu sehen). Diese Angst vor einem Überdruss an Holocaust-Erinnerungsliteratur wäre bei diesem Buch allerdings unbegründet, denn sie wird vom Autor geteilt.

"Mein Horror war, noch ein Auschwitz-Buch zu schreiben", sagt Rosenberg, den ich an einem strahlend schönen Februartag in Stockholm treffe. "Noch so ein Buch, wie es sie schon tausendmal gab, über Dinge, die inzwischen bekannt und gewissermaßen verdaut sind, jedenfalls in der Theorie. Ich wollte etwas schreiben, das für mich selbst neu wäre."

Sein Buch nähert sich dem Schicksal seines Vaters anhand der Orte, wo dieser nach Auschwitz gewesen ist. Södertälje war hierbei Endstation: Im Alter von 37 Jahren nahm sich David Rosenberg das Leben. Er schrieb einen Abschiedsbrief, ging in einen See und ertrank. Sein Sohn Göran war damals zwölf Jahre alt und verstand nicht, warum. Er wusste nichts darüber, was seine Eltern durchgemacht hatten. Er wusste nur, dass sie Ausländer und dass sie Juden waren - und damit auch er. Doch er wäre lieber ein ganz normaler Schwede gewesen, wie die Kinder, mit denen er spielte und von denen er sich, wie er glaubte, nur durch seine dunkleren Haare unterschied. Seine Eltern taten alles, damit ihr Sohn in Schweden eine Heimat fand - sie sprachen Schwedisch mit ihm, obwohl sie selbst es kaum konnten, gaben ihm diesen Namen, den sie nicht aussprechen konnten, und verschonten ihn mit Erinnerungen an ihre Vergangenheit. Doch auch Schweigen kann laut sein, und der Versuch, es zu vererben, geht meistens schief.

Göran Rosenberg ist an die Orte gereist, die auf dem Weg seines Vaters von Auschwitz nach Södertälje lagen, ist die genaue Route nachgefahren, war in Braunschweig, wo sein Vater Zwangsarbeit leisten musste, in Uchtspringe, wo ein Zug, in den sein Vater zusammen mit Hunderten anderer ausgemergelter und sterbender Gefangener gepfercht war, die kurz vor Kriegsende noch panisch irgendwohin verbracht und getötet werden sollten, einen Zwischenstopp einlegte; in Wöbbelin, wo sich eines der letzten von Nazideutschland errichteten Konzentrationslager befand. Er nutzt diese Orte wie Kletterhaken, um irgendwo anzusetzen und sich festzuhalten. "Ich kann das, was er erlebt hat, nicht nachempfinden", sagt Rosenberg. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wirklich war im Ghetto, im KZ oder als Zwangsarbeiter. Alles, was ich tun konnte, war in seinen Fußstapfen zu gehen, um zu verstehen, was er an jenen Ort, an dem ich geboren wurde, mitgebracht hat."

Große Literatur

Rosenberg schreibt in einer einfachen Sprache, so schnörkellos und schlicht wie skandinavisches Design. Seine Sätze sind von einer bestechenden Klarheit, durch Wiederholungen erreicht er eine gewisse Elegie, eine sehnsuchtsvoll bedauernde Grundmelodie, die das Buch zu mehr macht als "nur" der Überlebensgeschichte seines Vaters: nämlich zu großer Literatur. Mitunter ist sein Buch auch von einer bösen Traurigkeit durchzogen, einem beißenden Witz, der sich an den Ungerechtigkeiten, die seinem Vater widerfahren sind, festbeißt und nicht lockerlässt, bis er sie dekonstruiert hat und in all ihrer Widerwärtigkeit entblößt.

Sein Vater wurde kurz nach seiner Einlieferung in Auschwitz für Sklavenarbeit bei den Braunschweiger Büssing-Werken eingeteilt. Die jüdischen Arbeiter waren rechtlose Sklaven, wurden geprügelt, viele starben. Rosenberg beschreibt, wie der Besitzer dieser Firma, Rudolf Egger-Büssing, nach dem Krieg versuchte, sich als Wohltäter der Juden darzustellen, der sich dafür eingesetzt habe, seinen Arbeitern Leben und Arbeit so angenehm wie nur irgend möglich zu machen. An dieser Stelle im Buch etwa rettet sich der Autor in Galgenhumor: Gegen Rudolf Egger-Büssing spräche unter anderem die Zeugenaussage eines früheren Lastwagenfahrers der Firma, er habe mehrere hundert Leichen vom Außenlager der Fabrik wegtransportiert. Rosenberg schreibt: "Von den 67 000, die von Lódz nach Auschwitz transportiert wurden, überleben nur circa 22 000 die erste Selektion für die Gaskammern. Von ihnen werden zu drei Gelegenheiten im September und Oktober 1944 ungefähr 1200 arbeitsfähige Männer zur Sklavenarbeit für die Firma Büssing in Braunschweig ausgesucht. Wer also geltend machen will, gerade diese Männer hätten der Firma Büssing ihr Leben zu verdanken, hat nicht ganz unrecht. Nicht alle der Ausgewählten überleben die Firma Büssing, und nicht alle, die die Firma Büssing überleben, überleben die Evakuierung und die Befreiung, aber im Vergleich zu Auschwitz kann man sagen, die Firma Büssing sei trotz allem ein Paradies gewesen."

Auch an anderer Stelle greift der Autor zu Sarkasmus: Als er etwa schreibt, dass seine Großmutter väterlicherseits direkt von der Rampe in Auschwitz in die Gaskammer geschickt wurde, wie auch seine Großmutter mütterlicherseits, sein Großvater, die ältere Schwester seiner Mutter, deren Sohn und die meisten anderen noch verbliebenen Juden aus dem Lódzer Getto: "Bei ihnen funktioniert Auschwitz wie geplant. Nichts bleibt von ihnen übrig. Noch nicht einmal eine Registrierkarte mit Namen oder Nummer. Keine Nummern für die, die es niemals gegeben hat. Der Tod in den Gaskammern ist kollektiv, anonym, nackt und sorgfältig bemäntelt von Euphemismen (Umkleideraum, Duschraum etc.), Kulissen (Schilder, Birken, ein Rot-Kreuz-Fahrzeug etc.) und Unfassbarkeit. Nicht zuletzt Unfassbarkeit. Ein großer Teil des Erfolges erklärt sich hiermit."

Über so etwas könne man nur mit Distanz schreiben, sagt Rosenberg. Sonst würde es unerträglich - oder, was er vielleicht noch schlimmer findet, unerträglich sentimental.

Das Buch endet in Schweden. Fünfzehn Jahre lang versuchte Rosenbergs Vater, dort Fuß zu fassen - vergeblich. Rosenberg, der ein Jahr lang nahezu täglich in einem Archiv Södertäljer Lokalzeitungen aus den vierziger und fünfziger Jahren studierte, entwirft das Sittenbild einer hermetischen Kleinstadt, in die es für Neuankömmlinge und Fremde kein Hineinkommen gab. Geschweige denn für Menschen, die den Holocaust überlebt hatten. In Södertälje wollte niemand davon etwas wissen.

Falsche Station

Der Vater erkrankt an Depression. Und dann reichen ein paar Vorkommnisse und Rückschläge aus, um ihm den Rest zu geben. In der Arbeit macht jemand eine judenfeindliche Bemerkung, es kommt zu einer Auseinandersetzung, er scheidet aus der Fabrik aus; zwei Anträge auf "Wiedergutmachungs"-Zahlungen werden vom deutschen Staat abgelehnt. Die diesbezüglichen Bescheide, die von einem deutschen Arzt ausgestellt werden mussten, lesen sich bitterer als alles andere im Buch. Für das Jahr 1945 wurde seine Arbeitsunfähigkeit noch mit 100 Prozent beziffert, im Jahr darauf wurden nur noch 60 Prozent geltend gemacht, im Jahr darauf waren es 30 Prozent. "Ab 1948 giltst du als von Auschwitz usw. genesen mit 0 Prozent", richtet sich Rosenberg im Buch direkt an seinen Vater.

"Ich versuche zu begreifen, warum deine Schatten so früh kommen", schreibt er, "aber ich finde nicht viel, was ich verstehen könnte. Du steigst auf deinem Weg von Auschwitz einfach auf der falschen Station aus. Ja, ich glaube, letztlich spielt der ORT hierbei eine Rolle. Es ist ein zu kleiner Ort für solche wie dich, mit zu wenigen Menschen, die verstehen, woher du kommst und was du mit dir trägst."

In Södertälje schließt sich der Kreis, der eigentlich ein Gegeneinander zweier Kurven ist. Dieser Ort verbindet und trennt Vater und Sohn: "Der Ort, an dem ich mir meine Welt aneigne, ist auch der Ort, an dem die Welt dir den Rücken zukehrt." Rosenberg mutmaßt, Heimatlosigkeit sei eine unterschätzte Hölle für jemanden wie seinen Vater. "Die Heimatlosigkeit und die Sprachverwirrung. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Zu Hause zu sein heißt, verstanden zu werden, ohne viel sagen zu müssen." Die Heimatlosigkeit sei seinem Vater schließlich unerträglich geworden.

"Krankheitsursache: endogen" - so stand es im Bericht der Schwedischen Psychiatrie über Rosenbergs Vater, was bedeutet, dass die Depression von innen gekommen sei. Göran Rosenberg widerspricht. Die Schatten, die seinen Vater getötet hätten, seien nicht von innen gekommen. Sie kamen von außen. ",Krankheitsursache: Auschwitz etc.' hätte ich geschrieben", schreibt er.

JOHANNA ADORJÁN

Göran Rosenberg: "Ein kurzer Aufenthalt". Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer. Erscheint am Freitag bei Rowohlt. 400 Seiten, 22,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.10.2013

Gestrandet in der besten aller Welten
Göran Rosenberg hat die Geschichte seines Vaters aufgeschrieben – eines Mannes, der Auschwitz entronnen war und doch nicht wieder zurückfand ins Leben
Am 2. August 1947, im heißesten Sommer seit hundert Jahren, steigt der 24-jährige David Rosenberg in der schwedischen Kleinstadt Södertälje aus dem Zug, „um sein Leben noch einmal von vorn zu beginnen“. Drei Jahre zuvor ist er aus dem Ghetto von Lodz nach Auschwitz deportiert worden. Er ist ein sogenannter „Überlebender“. Dieses Wort hat sich damals in Schweden eingebürgert für Menschen, die „weder geflohen noch eingewandert sind“ und „deren wichtigstes Attribut darin besteht, dass sie leben, obwohl sie nach einer plausiblen Wahrscheinlichkeitsberechnung tot sein müssten.“
  David Rosenberg hat nach der Befreiung aus dem Lager eine Odyssee hinter sich gebracht, an deren Ende die Ankunft in Södertälje liegt. Er findet Arbeit in einer Lastwagenfabrik und gründet eine Familie mit einer jungen jüdischen Frau, von der er auf der Selektionsrampe in Auschwitz getrennt worden ist und die er in Schweden wiedergefunden hat. Er unternimmt mehrere Versuche, seinen beruflichen und sozialen Status zu verbessern, reist nach Polen, erwägt die Auswanderung nach Israel. Ende der Fünfzigerjahre fällt er in eine tiefe Depression, wird schließlich in die Psychiatrie eingewiesen, mit Elektroschocks und Medikamenten behandelt. Im Juli 1960 nimmt er sich das Leben, indem er sich im See des Klinikparks ertränkt.
  Rosenberg war ein Überlebender auf Zeit, und sein Neubeginn im fremden Land nur ein Intermezzo, eine Zwischenstation – oder auch: „Ein kurzer Aufenthalt“. So heißt das Buch, in dem der Journalist, Schriftsteller und Dokumentarfilmer Göran Rosenberg die zerbrochene Biografie seines Vaters erkundet, aus Scherben und Splittern mühsam zusammenfügt. Für ihn, den 1948 Geborenen, ist Södertälje der Ort seiner Kindheit, der Ort, „an dem ich mir meine Welt aneigne“. Deshalb gehört dieses Buch nicht nur zu der schwierigen und bedrückenden Literatur, in der die Geschichte des Holocaust aufgearbeitet wird, sondern es ist zugleich ein Erinnerungsbuch, das Schwedens Nachkriegszeit in einprägsamen Bildern aufbewahrt. Diese Kombination hat dem Autor in seiner Heimat zahlreiche Auszeichnungen eingebracht. Obwohl – oder weil – er nicht verschweigt, dass es auch in Schweden Antisemitismus gab, sowohl vor als auch nach dem deutschen Nationalsozialismus, und eine auf ihre Art unbarmherzige Bürokratie, die es den dort gestrandeten Überlebenden schwer machte.
  Diese Bürokratie wurde indes weit übertroffen von der deutschen Bürokratie der „Wiedergutmachung“, deren unfassbarer Zynismus bei der Prüfung von Ansprüchen hier noch einmal vergegenwärtigt wird: Nach dem Trauma von Auschwitz war es, neben Heimatlosigkeit und Sprachverwirrung, auch diese Erfahrung, die maßgeblich zu David Rosenbergs Selbstmord-Entschluss beitrug. Man muss die Gutachter-Sätze von damals schwarz auf weiß lesen, um zu begreifen, in was für einem Land man selbst aufgewachsen ist: „Da ein Verfolgungsschaden – dauerhafte Verschlimmerung aufgrund konstitutioneller Psychoneurose – nicht mit Sicherheit zu beweisen ist, beurteile ich die Erwerbsminderung des Antragstellers bis 1955 mit 25 % und danach mit 20%.“
  Göran Rosenberg hat lange und akribisch recherchiert, in Schweden wie in Deutschland. Seinerseits traumatisiert durch den Freitod des Vaters, den er mit zwölf Jahren erleben musste, ist er unermüdlich dessen Spuren gefolgt, hat Leidensstationen auf seinem „Weg von Auschwitz“ besucht, etwa das Arbeitslager der Firma Büssing bei Braunschweig, hat Akten studiert, Briefe und Aufzeichnungen gelesen. Das Material, das ihm zur Verfügung stand, blieb trotz allem spärlich. Die Schlüsse, die er daraus zog, hat er in einer kühlen und doch poetischen Sprache festgehalten, unter deren disziplinierter Oberfläche seine emotionale Bewegung und nicht selten sein Zorn deutlich zu spüren sind. Und immer wieder kommt er auf seine eigene Jugend zurück, auf den Jungen, den er „das Kind“ nennt, als sei er ihm fremd, auf seine Sozialisation im „Volksheim“, dem schwedischen Wohlfahrtsstaat, der den Ehrgeiz hatte, die „beste aller Welten“ zu werden, und doch längst nicht alle menschlichen Bedürfnisse erfüllen konnte.
  David Rosenberg hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er seine Familie um Verzeihung bat. Dieses letzte Zeugnis eines tragisch gescheiterten Überlebens-Projekts hat der Sohn seinem Buch beigegeben, wie auch das abschließende Protokoll des psychiatrischen Oberarztes für die deutschen Wiedergutmachungsstellen, das erst auf ausdrückliches Verlangen der Witwe, Göran Rosenbergs Mutter, um folgendes Zugeständnis erweitert wurde: „Es scheint mir wahrscheinlich zu sein, dass die Erlebnisse in den Konzentrationslagern den Krankheitsverlauf in den Jahren 1959-1960 verschlimmerten und die Behandlung erschwerten (Angst davor, eingeschlossen zu werden) und so eine zum katastrophalen Ausgang beitragende Ursache darstellten.“ Wenn dieses Buch nicht eine so traurige Geschichte erzählte, könnte man an manchen Stellen in Versuchung geraten, es als Satire zu lesen – allerdings eine der besonders makabren Art.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
Göran Rosenberg: Ein kurzer Aufenthalt. Aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2013. 392 Seiten, 22,95 Euro.
Unfassbar war der Zynismus der
Wiedergutmachungs-Bürokraten
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Göran Rosenbergs Buch über die Geschichte seines Vaters hat Katharina Granzin sichtlich beeindruckt. Die Annäherung des 1948 geborenen schwedischen Autors an seinen Vater, der Auschwitz überlebte, aber 15 Jahre später Suizid beging, liest sie als eine aufmerksame Spurensuche, bei der die Erinnerung durch akribische Recherchen ergänzt wird. Neben die Schilderungen des alltäglichen, fröhlichen Familienlebens tritt in ihren Augen eine eindringliche Rekonstruktion des Wegs von Rosenbergs Vater durch das deutsche Vernichtungssystem. "Das Grauen" tritt für Granzin so "als Teil eines eigentlich undenkbaren Alltags" zutage.

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