Es gibt sie noch - das spüren sogar die nach 1989 Geborenen, auch wenn manche schon gar nicht mehr wissen, wofür das Kürzel DDR steht: Deutsche Demokratische Republik. Dieses untergegangene Land ist immer noch seltsam präsent: als Lebensgeschichte von Menschen, als Summe gelebten Lebens - im Osten wie im Westen. Grund genug, einmal aufzubrechen und unter kundiger Führung dorthin zurück zu reisen.
Dabei lässt sich entdecken, dass die DDR sehr widersprüchlich und vielgestaltig ist. Am besten lernt man sie in Geschichten von Menschen kennen, deren Leben von der DDR geprägt ist. Sie erzählen von ihrer Kindheit im hoffnungsfrohen Sozialismus, von blauen Blusen und Winkelementen, von Brigaden und "Roten Salons", aber auch von dem Schrecken, wenn man entdeckt, dass der beste Freund ein Stasi-Spitzel ist.
Wenn wir sehen, was einmal war, verstehen wir vielleicht besser, was heute ist - damit mehr von der DDR bleibt als Spreewald-Gurken und Rotkäppchen-Sekt.
Dabei lässt sich entdecken, dass die DDR sehr widersprüchlich und vielgestaltig ist. Am besten lernt man sie in Geschichten von Menschen kennen, deren Leben von der DDR geprägt ist. Sie erzählen von ihrer Kindheit im hoffnungsfrohen Sozialismus, von blauen Blusen und Winkelementen, von Brigaden und "Roten Salons", aber auch von dem Schrecken, wenn man entdeckt, dass der beste Freund ein Stasi-Spitzel ist.
Wenn wir sehen, was einmal war, verstehen wir vielleicht besser, was heute ist - damit mehr von der DDR bleibt als Spreewald-Gurken und Rotkäppchen-Sekt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.11.2005Kein schöner Land
Sieger sind nicht nur die anderen: Geschichten aus der DDR
Wer schon des Titels wegen ins Grübeln gerät, sei beruhigt: Das Land ist immer noch da, die DDR bleibt untergegangen, gottlob. Auf tote Hunde schießt man nicht, schreibt Mitherausgeber Ulrich Plenzdorf kurz und bündig im Nachwörtchen. Der Hund, das war die DDR, auf dessen arme Leich' man, so seine propagandistisch eingefärbte Erinnerung, "Kanonen mit Schlagworten" abfeuerte. Mit Schlagworten wie Mauertote, Stacheldraht, Diktatur oder SED-Regime. Zu Ende gedacht wäre darüber, um der Totenruhe willen, besser zu schweigen. Plenzdorf verspricht dafür "wirkliche Auskünfte über ein wirkliches Leben in der DDR" - also keine totgeschossenen oder von Minen zerfetzten Jungen, deren Sterben, dem toten Hund zuliebe, ins Reich der Unwirklichkeit gehört? Seine Geschichtenerzähler, versichert Plenzdorf, seien nicht nur "Kinder der DDR", sondern gar die einzigen, die in der Lage sind, dieses, das Plenzdorfsche Hundeleben nachzuerzählen. Wer das anders sieht, hat es halt falsch erlebt. Hatte sich das Leben von unwirklichen Sehnsüchten verderben lassen, und ist trotz Plenzdorf froh, daß der Hund begraben bleibt.
Ganz so schlimm kommt es dann doch nicht, sieht man einmal von Daniela Dahns DDR-Geschichte ab. Zuverlässig unreflektiert, gibt sie noch einmal ihre krause Theorie vom bösen Kapitalismus zum besten, der diesen Großversuch mit einigen Millionenen Menschen zum Scheitern verurteilt haben soll. Noch einmal läßt sie jenes Wunderland erblühen, dessen Wirtschaftswachstum bis Anfang der siebziger Jahre dem der westlichen Industrieländer überlegen gewesen sein soll. Wer das glauben will, er soll es tun, und wer sich das Ostvolk schon immer als einen Haufen unvernünftiger Kinder vorgestellt hat, verführbar und ohne Ahnung davon, was gut für sie gewesen wäre - die DDR der Daniela Dahn -, der wird sich auch dankbar bestätigt sehen.
Korrigiert werden all die schönen Zahlen nicht, mit denen Frau Dahn jongliert. Statt dessen wird alles, was ans Licht kam, als die Mauer löchrig wurde, schlagwortkräftig ausgeblendet. Was man nicht weiß, macht niemanden heiß. Noch einmal geißelt Daniela Dahn die Embargopolitik des Westens, als säße sie selbst im Politbüro der SED. Der Westen nämlich ist schuld daran, daß die DDR nicht auf der Höhe der Zeit bleiben konnte. War sie am Ende bankrott? So fragt die Autorin und antwortet sich selbst mit der verblüffenden Gegenfrage: Wie mißt man das überhaupt? Die Wiedervereinigung, eine feindliche Übernahme. Einige Millionen Menschen, die aus dem vermeintlichen Arbeiterparadies davonliefen, sind nach dieser Denkart Deserteure. Die Junirevolution von 1953? Eine banale Sache, angestachelt vom "Unmut auf dem "Ku'damm". Sie rätselt und rätselt, was die Leute damals umgetrieben haben mag. Eine höhere Tochter besichtigt ein fremdes Leben.
Nach soviel Verdrehtheit und Agitprop eine jähe Wendung: Holde-Barbara Ulrichs Reise in ihre Kindheit mit Stalin und Onkel Jula, den die Kriegswirren aus dem Stettiner Haff in das mecklenburgische Kückmannsdorf vertrieben haben, ist aus einem anderen Stoff gewebt. Es sind Geschichten, die kein Agitatoren-Handbuch verderben kann, weil sie tatsächlich passiert sind. Die Ideologie fällt darauf wie ein Schatten, aber anhaben kann sie ihnen nichts. Holde-Barbara Ulrich erzählt unprätentiös, warum die einen blieben und die anderen weggegangen sind aus diesem Staat, der sich anmaßte, ohne Rücksicht auf persönliches Glück in jedes Leben einzugreifen. Als er zusammenbrach, "totdemonstriert", wird sie gerade fünfzig Jahre alt. Sie beginnt trotzdem ein neues Leben. Heimweh nach früher, bekennt sie, habe sie nicht. Manchmal schaue sie prüfend zurück, noch immer im Zorn: "Zu viel Leben lahmgelegt. So viel Versäumtes. Und immense Verluste!"
Auch Alfred Roesler-Kleint hat wohl auf der anderen Seite der DDR gelebt, vergleicht man seine Erinnerungen mit denen Daniela Dahns. Er beschreibt den alltäglichen Wahnsinn der Mauerträumer, der nur zu ertragen war, wenn man ihn für das Normale hielt - und doch: "Ein ganzes Land war heimlich auf der Flucht". Nacht für Nacht träumte man sich weg, in Schlauchbooten, Kofferräumen oder durch den U-Bahn-Schacht der Linie 8. Die führte von Berlin-Kreuzberg nach Wedding im Norden, doch mußte sie, um dorthin zu gelangen, die Mauer unterqueren. Den Osten also, auf dessen Straßen man die Züge spürte, wenn sie, unsichtbar, unter den Füßen hinwegdonnerten. Und dann wird die Mauer geöffnet, und niemand mehr steht im Traum und mit selbstgebastelten Flügeln auf dem Dach eines Hauses, um Anlauf zu nehmen und den Sprung zu wagen. Sie sind gelandet.
Doch was sagt uns das nun? Die eine sieht es so, die anderen sehen es eher so? Ideologie und der Verlust einer exklusiven Existenz im Einheitsvolk scheinen einigen der Autoren den Blick für immer getrübt zu haben. Man halte sich am besten, um klarer zu sehen, an Claus Leggewies Versuch, das verwickelte Knäuel der deutschen Teilung aufzudröseln. Der Rest des Rätsels bleibt mit dem Hund begraben - oder auch im Lektorat des Verlages, das allein weiß, warum Daniela Dahn unseren Blick zurück versperren soll. Literarische Gründe dürfen ausgeschlossen werden.
REGINA MÖNCH
Rüdiger Dammann, Ulrich Plenzdorf (Hrsg.): "Ein Land genannt die DDR". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 224 S., geb., 19,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sieger sind nicht nur die anderen: Geschichten aus der DDR
Wer schon des Titels wegen ins Grübeln gerät, sei beruhigt: Das Land ist immer noch da, die DDR bleibt untergegangen, gottlob. Auf tote Hunde schießt man nicht, schreibt Mitherausgeber Ulrich Plenzdorf kurz und bündig im Nachwörtchen. Der Hund, das war die DDR, auf dessen arme Leich' man, so seine propagandistisch eingefärbte Erinnerung, "Kanonen mit Schlagworten" abfeuerte. Mit Schlagworten wie Mauertote, Stacheldraht, Diktatur oder SED-Regime. Zu Ende gedacht wäre darüber, um der Totenruhe willen, besser zu schweigen. Plenzdorf verspricht dafür "wirkliche Auskünfte über ein wirkliches Leben in der DDR" - also keine totgeschossenen oder von Minen zerfetzten Jungen, deren Sterben, dem toten Hund zuliebe, ins Reich der Unwirklichkeit gehört? Seine Geschichtenerzähler, versichert Plenzdorf, seien nicht nur "Kinder der DDR", sondern gar die einzigen, die in der Lage sind, dieses, das Plenzdorfsche Hundeleben nachzuerzählen. Wer das anders sieht, hat es halt falsch erlebt. Hatte sich das Leben von unwirklichen Sehnsüchten verderben lassen, und ist trotz Plenzdorf froh, daß der Hund begraben bleibt.
Ganz so schlimm kommt es dann doch nicht, sieht man einmal von Daniela Dahns DDR-Geschichte ab. Zuverlässig unreflektiert, gibt sie noch einmal ihre krause Theorie vom bösen Kapitalismus zum besten, der diesen Großversuch mit einigen Millionenen Menschen zum Scheitern verurteilt haben soll. Noch einmal läßt sie jenes Wunderland erblühen, dessen Wirtschaftswachstum bis Anfang der siebziger Jahre dem der westlichen Industrieländer überlegen gewesen sein soll. Wer das glauben will, er soll es tun, und wer sich das Ostvolk schon immer als einen Haufen unvernünftiger Kinder vorgestellt hat, verführbar und ohne Ahnung davon, was gut für sie gewesen wäre - die DDR der Daniela Dahn -, der wird sich auch dankbar bestätigt sehen.
Korrigiert werden all die schönen Zahlen nicht, mit denen Frau Dahn jongliert. Statt dessen wird alles, was ans Licht kam, als die Mauer löchrig wurde, schlagwortkräftig ausgeblendet. Was man nicht weiß, macht niemanden heiß. Noch einmal geißelt Daniela Dahn die Embargopolitik des Westens, als säße sie selbst im Politbüro der SED. Der Westen nämlich ist schuld daran, daß die DDR nicht auf der Höhe der Zeit bleiben konnte. War sie am Ende bankrott? So fragt die Autorin und antwortet sich selbst mit der verblüffenden Gegenfrage: Wie mißt man das überhaupt? Die Wiedervereinigung, eine feindliche Übernahme. Einige Millionen Menschen, die aus dem vermeintlichen Arbeiterparadies davonliefen, sind nach dieser Denkart Deserteure. Die Junirevolution von 1953? Eine banale Sache, angestachelt vom "Unmut auf dem "Ku'damm". Sie rätselt und rätselt, was die Leute damals umgetrieben haben mag. Eine höhere Tochter besichtigt ein fremdes Leben.
Nach soviel Verdrehtheit und Agitprop eine jähe Wendung: Holde-Barbara Ulrichs Reise in ihre Kindheit mit Stalin und Onkel Jula, den die Kriegswirren aus dem Stettiner Haff in das mecklenburgische Kückmannsdorf vertrieben haben, ist aus einem anderen Stoff gewebt. Es sind Geschichten, die kein Agitatoren-Handbuch verderben kann, weil sie tatsächlich passiert sind. Die Ideologie fällt darauf wie ein Schatten, aber anhaben kann sie ihnen nichts. Holde-Barbara Ulrich erzählt unprätentiös, warum die einen blieben und die anderen weggegangen sind aus diesem Staat, der sich anmaßte, ohne Rücksicht auf persönliches Glück in jedes Leben einzugreifen. Als er zusammenbrach, "totdemonstriert", wird sie gerade fünfzig Jahre alt. Sie beginnt trotzdem ein neues Leben. Heimweh nach früher, bekennt sie, habe sie nicht. Manchmal schaue sie prüfend zurück, noch immer im Zorn: "Zu viel Leben lahmgelegt. So viel Versäumtes. Und immense Verluste!"
Auch Alfred Roesler-Kleint hat wohl auf der anderen Seite der DDR gelebt, vergleicht man seine Erinnerungen mit denen Daniela Dahns. Er beschreibt den alltäglichen Wahnsinn der Mauerträumer, der nur zu ertragen war, wenn man ihn für das Normale hielt - und doch: "Ein ganzes Land war heimlich auf der Flucht". Nacht für Nacht träumte man sich weg, in Schlauchbooten, Kofferräumen oder durch den U-Bahn-Schacht der Linie 8. Die führte von Berlin-Kreuzberg nach Wedding im Norden, doch mußte sie, um dorthin zu gelangen, die Mauer unterqueren. Den Osten also, auf dessen Straßen man die Züge spürte, wenn sie, unsichtbar, unter den Füßen hinwegdonnerten. Und dann wird die Mauer geöffnet, und niemand mehr steht im Traum und mit selbstgebastelten Flügeln auf dem Dach eines Hauses, um Anlauf zu nehmen und den Sprung zu wagen. Sie sind gelandet.
Doch was sagt uns das nun? Die eine sieht es so, die anderen sehen es eher so? Ideologie und der Verlust einer exklusiven Existenz im Einheitsvolk scheinen einigen der Autoren den Blick für immer getrübt zu haben. Man halte sich am besten, um klarer zu sehen, an Claus Leggewies Versuch, das verwickelte Knäuel der deutschen Teilung aufzudröseln. Der Rest des Rätsels bleibt mit dem Hund begraben - oder auch im Lektorat des Verlages, das allein weiß, warum Daniela Dahn unseren Blick zurück versperren soll. Literarische Gründe dürfen ausgeschlossen werden.
REGINA MÖNCH
Rüdiger Dammann, Ulrich Plenzdorf (Hrsg.): "Ein Land genannt die DDR". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005. 224 S., geb., 19,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Tinka Wolff stellt zu Beginn ihrer Kritik verwundert fest, dass es nur zwei Jugendbücher zur Geschichte der DDR gibt. Den Ansatz des von Ulrich Plenzdorf und Rüdiger Dammann herausgegebenen Bandes, in dem 6 verschiedene Autoren in chronologischer Reihenfolge Geschichten aus der DDR erzählen, findet sie viel versprechend. Wenn sie auch den ersten der Texte, in dem der einzige westdeutsche Autor, Claus Leggewie, über die historischen Gründe, die zur Teilung Deutschlands führten berichtet, mit seinen ziemlich "trockenen" Daten und Fakten für "keinen so guten Anfang" hält, findet sie dagegen die Erinnerungen Holde-Barbara Ulrichs an die stalinistische Zeit und Erich Loests "spannende" Erlebnisse als von der Stasi Verfolgten wesentlich fesselnder. Insgesamt bemerkt sie zufrieden, dass es sich bei den Texten des Buches nie um "banale" und ostalgische Rückschauen handelt, sondern dass es ihnen vielmehr "ziemlich gut gelingt", die "Auswirkungen des Sozialismus" auf den Einzelnen deutlich zu machen. Allerdings, gibt Wolff zu bedenken, müsse man, um von dem Buch wirklich etwas zu haben, einen groben Überblick über die Geschichte der DDR bereits mitbringen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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