Es soll eine Traumreise werden, als die neunzehnjährige Betti aus der westfälischen Kleinstadt zum ersten Mal nach Monaco fährt. Dort will sie ihre langjährige Brieffreundin besuchen, die hübsche, coole, mondäne September Nowak, die im Penthouse über der Côte d Azur lebt. Doch in Wahrheit ist September ganz anders als erwartet, ihre Briefe Täuschung, ihr Leben Betrug. Betti fühlt sich schäbig verraten oder hat sie sich am Ende gerne betrügen lassen? Eine etwas verrückte Deutsche und ihr Sohn nehmen das enttäuschte Mädchen mit auf eine Fahrt durch das hochsommerliche Südfrankreich. Da erwacht in Betti eine trotzige Lust am Abenteuer, die Lust an der Angst und der Freiheit. Zwischen Marseille und Portbou, mithilfe von Zigaretten, "geborgten" Autos und Crémant, wagt sie ein paar Wochen lang selbst ein raffiniertes Spiel mit der Wahrheit. Sie kann nur verlieren doch gewinnt sie Erfahrungen, die sie für immer verändern werden. Markus Berges Debüt erzählt mit poetischer Klarheit, wie eine große Enttäuschung zur Chance wird. Ein flirrend leichter Roman, in dem nichts ist, wie es scheint: Die Geschichte einer jungen Frau und ihrer ersten großen Reise, der ersten Liebe, des ersten Verrats und eines Glücks, das sie erst viel später erkennt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2011Fettes Brot macht satt, nicht tot
Ein Selbstfindungsroman von Markus Berges
Von Oliver Jungen
Selig die Zeiten, als Naivität noch straffrei war. Würde heute ein Teenager auf die digitale Kontaktaufnahme einer unbekannten Person seltsamen Namens eingehen, die sich für erste Liebschaften interessiert und deren Identität sich bald als komplett zusammengelogen herausstellt, hätte er gleich Stephanie zu Guttenberg am Hals. Aber zu den Zeiten, in denen der Traumtänzer-Roman von Erdmöbel-Frontmann Markus Berges spielt, zwischen 1989 und 1995, kamen Briefe gerade noch so zu Fuß. Überhaupt funktioniert hier alles zu Fuß: Erwachsenwerden als langer Marsch durch die Fiktionen. Aus dem münsterländisch unglamourösen Warendorf führt die empfindsame Reise der naiven, neunzehnjährigen Betti Lauban über das schillernde Paris zunächst nach Nizza, wo sie feststellen muss, dass ihre langjährige Brieffreundin gar nicht September Nowak heißt - weil einfach niemand so heißt, mit Ausnahme eines Instrumentalstücks auf der neuen Erdmöbel-Platte -, sondern bloß Nicole Nixi, und dass sie auch nicht, wie behauptet, in einem Schloss wohnt oder Tänzerin ist.
Stattdessen verbringt Nicole ihre Tage als adipöse Rumhängerin in der piefigen Mietwohnung ihrer Mutter oder bei ihrem gleichfalls übergewichtigen Freund. Eigentlich scheint sie gar nicht so übel, zumal das Mondäne ja meist mehr Entwurf als Erfüllung ist, doch Betti fühlt sich betrogen, nennt die kreative Nicht-September konsequent "die Fette" und setzt sich ab nach Monaco. Dort lümmelt sie im Schwimmstadion herum und nimmt Zuflucht zu einem Buch. Nicht ganz zufällig aber besteht Bettis Reiselektüre aus E. T. A. Hoffmanns phantastischem, metamorphosenprallem Märchen "Meister Floh", welches in die Pointe mündet, dass nur Vertrauen zum Glück führt: So setzt der frauenscheue, zur Erkenntnis pilgernde Peregrinus sein vom Meister der Flöhe erhaltenes Gedankenmikroskop schließlich nicht mehr ein, weil es eher schadet, alle Fiktionen zu durchschauen.
Als sei sie aus diesem Märchen herausgeplumpst, taucht in Monaco plötzlich die geheimnisvolle Ingrid auf, eine (nun ja!) studierte Hypnotiseurin, welche mit ihrem Sohn Anders Südeuropa durchkreuzt. Die beiden sammeln Betti ein. Magisch realistisch geht es dabei zu: Man tänzelt in Marseille auf Dächern herum, besucht in Portbou das Walter-Benjamin-Denkmal, schwebt an einer tatsächlich existierenden Drahtseilkonstruktion zum Meer hinunter: "Sie schrie. Dann war sie still." Einmal scheint das verlorene Paradies zum Anbeißen nah. Ingrid nämlich spielt vor großem Publikum ihr hypnotisches Flügelhorn und Betti verwandelt sich doch tatsächlich in einen Apfelbaum, nach dessen Früchten die anderen Zuhörer lechzen: "Sie hatte Lust, eine gewaltige Lust, ganz leer gepflückt zu werden." Riten des Übergangs, wenn man es hochtrabend will. Kitsch ist aber auch nicht ganz verkehrt.
So plötzlich, wie sie auftauchte, verschwindet die Meisterin der Illusionen wieder. Betti bleibt als Strandgut zurück, aber wieder nicht lange allein. Erneut nimmt eine Frau sie auf, die mit ihren diesmal kleineren Kindern unterwegs ist. Bald taucht ein dazugehöriger Mann auf und mit ihm der Sex. Da aber hat die schnell gereifte Betti schon die nächste Stufe der Autopoiesis erreicht, übernimmt nun selbst die Rolle der September Nowak und entwirft mit leichter Hand ihre Vergangenheit, in der sie die fröhlich erfindende Lebenskünstlerin ist, während die beflissene Betti einen "Hängebauch hinterm Hosenbund" zugeschrieben bekommt. Die Heldin ist zu sich gekommen, die Reise war eine Heimreise.
Erzählt wird aus der Gegenwart heraus von einer hin und wieder "Ich" sagenden Instanz, vermutlich der heutigen Betti, und auch eine zweite Reise zu denselben Zielen sieben Jahre nach der ersten ist in die Handlung eingeschachtelt. Dieser Dreischritt der Zeitebenen verleiht dem Roman eine gewisse strukturelle Tiefe, die allerdings noch tiefer hätte sein dürfen. Besonders der angenehme Ton und die alltagspoetisch dahingeerdmöbelten Bilder ("Bevor sie fiel, stand jede Welle wie eine Wand, und für einen Moment sah man darin die Haut der Badenden, ihre Glieder und Badeanzüge, wie meterhoch in Gelee") tragen dazu bei, dass man dieses moderne Märchen über die Bedeutung der Phantasie doch erzählerisch gelungen nennen darf - auch wenn die kreative Feier der Kreativität ein Hauch angestrengt wirkt, wie das bei selbstreflexiver Kunst oft der Fall ist.
Markus Berges: "Ein langer Brief an September Nowak". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010. 208 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Selbstfindungsroman von Markus Berges
Von Oliver Jungen
Selig die Zeiten, als Naivität noch straffrei war. Würde heute ein Teenager auf die digitale Kontaktaufnahme einer unbekannten Person seltsamen Namens eingehen, die sich für erste Liebschaften interessiert und deren Identität sich bald als komplett zusammengelogen herausstellt, hätte er gleich Stephanie zu Guttenberg am Hals. Aber zu den Zeiten, in denen der Traumtänzer-Roman von Erdmöbel-Frontmann Markus Berges spielt, zwischen 1989 und 1995, kamen Briefe gerade noch so zu Fuß. Überhaupt funktioniert hier alles zu Fuß: Erwachsenwerden als langer Marsch durch die Fiktionen. Aus dem münsterländisch unglamourösen Warendorf führt die empfindsame Reise der naiven, neunzehnjährigen Betti Lauban über das schillernde Paris zunächst nach Nizza, wo sie feststellen muss, dass ihre langjährige Brieffreundin gar nicht September Nowak heißt - weil einfach niemand so heißt, mit Ausnahme eines Instrumentalstücks auf der neuen Erdmöbel-Platte -, sondern bloß Nicole Nixi, und dass sie auch nicht, wie behauptet, in einem Schloss wohnt oder Tänzerin ist.
Stattdessen verbringt Nicole ihre Tage als adipöse Rumhängerin in der piefigen Mietwohnung ihrer Mutter oder bei ihrem gleichfalls übergewichtigen Freund. Eigentlich scheint sie gar nicht so übel, zumal das Mondäne ja meist mehr Entwurf als Erfüllung ist, doch Betti fühlt sich betrogen, nennt die kreative Nicht-September konsequent "die Fette" und setzt sich ab nach Monaco. Dort lümmelt sie im Schwimmstadion herum und nimmt Zuflucht zu einem Buch. Nicht ganz zufällig aber besteht Bettis Reiselektüre aus E. T. A. Hoffmanns phantastischem, metamorphosenprallem Märchen "Meister Floh", welches in die Pointe mündet, dass nur Vertrauen zum Glück führt: So setzt der frauenscheue, zur Erkenntnis pilgernde Peregrinus sein vom Meister der Flöhe erhaltenes Gedankenmikroskop schließlich nicht mehr ein, weil es eher schadet, alle Fiktionen zu durchschauen.
Als sei sie aus diesem Märchen herausgeplumpst, taucht in Monaco plötzlich die geheimnisvolle Ingrid auf, eine (nun ja!) studierte Hypnotiseurin, welche mit ihrem Sohn Anders Südeuropa durchkreuzt. Die beiden sammeln Betti ein. Magisch realistisch geht es dabei zu: Man tänzelt in Marseille auf Dächern herum, besucht in Portbou das Walter-Benjamin-Denkmal, schwebt an einer tatsächlich existierenden Drahtseilkonstruktion zum Meer hinunter: "Sie schrie. Dann war sie still." Einmal scheint das verlorene Paradies zum Anbeißen nah. Ingrid nämlich spielt vor großem Publikum ihr hypnotisches Flügelhorn und Betti verwandelt sich doch tatsächlich in einen Apfelbaum, nach dessen Früchten die anderen Zuhörer lechzen: "Sie hatte Lust, eine gewaltige Lust, ganz leer gepflückt zu werden." Riten des Übergangs, wenn man es hochtrabend will. Kitsch ist aber auch nicht ganz verkehrt.
So plötzlich, wie sie auftauchte, verschwindet die Meisterin der Illusionen wieder. Betti bleibt als Strandgut zurück, aber wieder nicht lange allein. Erneut nimmt eine Frau sie auf, die mit ihren diesmal kleineren Kindern unterwegs ist. Bald taucht ein dazugehöriger Mann auf und mit ihm der Sex. Da aber hat die schnell gereifte Betti schon die nächste Stufe der Autopoiesis erreicht, übernimmt nun selbst die Rolle der September Nowak und entwirft mit leichter Hand ihre Vergangenheit, in der sie die fröhlich erfindende Lebenskünstlerin ist, während die beflissene Betti einen "Hängebauch hinterm Hosenbund" zugeschrieben bekommt. Die Heldin ist zu sich gekommen, die Reise war eine Heimreise.
Erzählt wird aus der Gegenwart heraus von einer hin und wieder "Ich" sagenden Instanz, vermutlich der heutigen Betti, und auch eine zweite Reise zu denselben Zielen sieben Jahre nach der ersten ist in die Handlung eingeschachtelt. Dieser Dreischritt der Zeitebenen verleiht dem Roman eine gewisse strukturelle Tiefe, die allerdings noch tiefer hätte sein dürfen. Besonders der angenehme Ton und die alltagspoetisch dahingeerdmöbelten Bilder ("Bevor sie fiel, stand jede Welle wie eine Wand, und für einen Moment sah man darin die Haut der Badenden, ihre Glieder und Badeanzüge, wie meterhoch in Gelee") tragen dazu bei, dass man dieses moderne Märchen über die Bedeutung der Phantasie doch erzählerisch gelungen nennen darf - auch wenn die kreative Feier der Kreativität ein Hauch angestrengt wirkt, wie das bei selbstreflexiver Kunst oft der Fall ist.
Markus Berges: "Ein langer Brief an September Nowak". Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010. 208 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Protagonistin in diesem Roman, den der Frontmann der Band Erdmöbel Markus Berges geschrieben hat, ist 19, heißt Betti, reist nach Paris und dann nach Monaco. Nach Paris einer Brieffreundin wegen, die anders heißt als behauptet und sich als sehr anders auch herausstellt, als Betti sie sich vorgestellt hat. Schnaubend macht sich Betti, die sie nun nur noch "die Fette? nennt, auf und davon und erlebt mancherlei Abenteuer, die man genremäßig, so Oliver Jungen, dem magischen Realismus zuschlagen kann. Mal findet der Rezensent das einigermaßen reizend, anderes ist für seine Begriffe mit dem Wort "Kitsch? doch besser beschrieben. Insgesamt mag er das Buch aber, weil Berges immer wieder hübsch "dahingeerdmöbelte Bilder? finde und der Ton insgesamt "angenehm? ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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