George Steiner, der unnachgiebige Denker, polyglotte Intellektuelle und scharfzüngige Kritiker, gibt im Gespräch mit Laure Adler Einblick in sein Leben und Werk. Tief verwurzelt in der europäischen Kultur, wurde für den Sohn österreichischer Juden, die 1940 aus Paris nach New York flohen, eine Frage zum Angelpunkt seines Denkens: Wie konnte das zivilisierte, kultivierte Europa diese unvorstellbare Barbarei hervorbringen?
Als die Kulturjournalistin Laure Adler in einem englischen Garten zum ersten Mal George Steiner begegnet, weiß sie noch nicht, dass sie einen sehr langen Nachmittag miteinander verbringen werden: Über mehrere Jahre treffen sie sich immer wieder, um ihr Gespräch fortzusetzen. Steiner, als einer der letzten Benjaminschen Flaneure, rekapituliert das zwanzigste Jahrhundert. Seine Eltern fliehen vor dem wachsenden Antisemitismus in Wien nach Paris, 1940 schafft die Familie es gerade noch rechtzeitig, Frankreich in Richtung New York zu verlassen. Steiners Denken ist von seiner Biographie beeinflusst: seine Liebe für Sprache genauso wie seine Verachtung für die großen Mythen des vergangenen Jahrhunderts, die Psychoanalyse, der Marxismus und der Strukturalismus. Aber Steiner begleitet seine Leser nicht nur bravourös durch die Gedankenwelt des zwanzigsten Jahrhunderts, immer wieder kehrt er zu seiner großen Liebe, der Musik, zurück, die für ihn Ausdruck purer Lebenslust ist.
Als die Kulturjournalistin Laure Adler in einem englischen Garten zum ersten Mal George Steiner begegnet, weiß sie noch nicht, dass sie einen sehr langen Nachmittag miteinander verbringen werden: Über mehrere Jahre treffen sie sich immer wieder, um ihr Gespräch fortzusetzen. Steiner, als einer der letzten Benjaminschen Flaneure, rekapituliert das zwanzigste Jahrhundert. Seine Eltern fliehen vor dem wachsenden Antisemitismus in Wien nach Paris, 1940 schafft die Familie es gerade noch rechtzeitig, Frankreich in Richtung New York zu verlassen. Steiners Denken ist von seiner Biographie beeinflusst: seine Liebe für Sprache genauso wie seine Verachtung für die großen Mythen des vergangenen Jahrhunderts, die Psychoanalyse, der Marxismus und der Strukturalismus. Aber Steiner begleitet seine Leser nicht nur bravourös durch die Gedankenwelt des zwanzigsten Jahrhunderts, immer wieder kehrt er zu seiner großen Liebe, der Musik, zurück, die für ihn Ausdruck purer Lebenslust ist.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Weniger wie eine Besprechung, mehr schon wie eine Hommage und durchaus ein bisschen feierlich liest sich, was Rezensent Volker Breidecker zu diesem Gesprächsbuch schreibt. Nach ausführlicher Würdigung der Person und ihrer Verdienste kommt der Rezensent auch auf ein Thema zu sprechen, in dem vielleicht die Aktualität des Bandes zu finden ist: das "Nomadentum", das Steiner als eine für sich angemessene Existenzform ansieht. Und auf die Frage, wie "Fremde" zu behandeln seien, nämlich als Gäste. Wenn die Menschen nicht lernten, sich als Gäste und Gastgeber zu betrachten, so zitiert Breidecker den greisen Lehrer, werde es "zu schrecklichen ethnischen Konflikten und zu Religionskriegen kommen". Über die Gespräche sagt Breidecker nicht viel mehr, als dass sie auch als Denkbewegungen durch ein "Schlendern" und Umherstreifen" und eine glückliche Kunst der Abschweifung gekennzeichnet seien.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.04.2016LITERATUR
Die Kunst, überall zu Hause zu sein
„Ein langer Samstag“, ein Gesprächsbuch, in dem George Steiner, der vom Eros des Lesens, des Liebens und des Schreibens
erzählt, vom Adel des Judentums und dass wir lernen müssen, einander endlich als Gäste und Gastgeber zu begegnen
VON VOLKER BREIDECKER
Der jüdische Witz, von dem George Steiner sagt, dass er ihn sich selbst jeden Morgen von Neuem erzählen muss, um trotz der Nachrichten im Radio „durch den Tag zu kommen“, geht so: Gott hat endgültig genug von uns und verkündet das Kommen einer neuen Sintflut binnen zehn Tagen. Keine Arche werde diesmal auf den Weg gebracht. Aus. Schluss. Feierabend. Aus Rom ruft der Papst die Katholiken auf, sich Gottes Willen zu fügen und das Ende im Gebet zu erwarten. Die Protestanten sagen: Lasset uns beten, zuvor aber unsere Bankkonten ordnen, die Bilanzen müssen stimmen. Der Rabbi hingegen ruft aus: Zehn Tage? Aber das reicht völlig, um das Atmen unter Wasser zu erlernen. George Steiner, der sein zufälliges Glück, der Vernichtung der europäischen Juden mit knapper Not entkommen zu sein, bis heute nicht begreifen kann, hat die Lektion des Rabbi freilich gelernt: „Diese wunderbare Anekdote“, sagt noch der bald 87-Jährige, „gibt mir jeden Tag das Glück und die Kraft weiterzuleben. Und ich glaube fest daran: Zehn Tage, das ist sehr viel.“
Es gibt also noch Hoffnung für die Menschen, auch wenn es nicht leicht ist, unter Wasser zu atmen. Am wenigsten für Flüchtlinge in der Ägäis, in der Adria oder im Golf von Sizilien. Für George Steiner wäre auch dies Gesprächsstoff in diesem Buch gewesen, das wie an einem einzigen langen, nicht enden wollenden Samstag über einen Zeitraum von zwölf Jahren, zwischen 2002 und 2014 entstanden ist – auch in Erwartung eines Sonntags, der vielleicht gar nicht mehr kommt: „Wird der Mensch einen Sonntag erleben?“, fragt Steiner am Ende sich und seine Gesprächspartnerin, die französische Rundfunkjournalistin Laure Adler, und gibt zur Antwort: „Man kann es bezweifeln.“
Das ist weniger düster als skeptisch gesagt, und selbst Skepsis und Sarkasmus des Intellektuellen werden bei Steiner stets von einem verschmitzten Lächeln der Ironie begleitet: von Dantes – des Poeten, nicht des sinistren Theologen – „Lächeln der Überzeugung“, hier der Überzeugung desjenigen, der die Lektion des Rabbi beherzigt und unter Wasser zu atmen gelernt hat. Auch als „Luftmensch“, welcher der Schmähung des Juden, die diesem Begriff innewohnt, durch das zugehörige Bekenntnis den Stachel raubt und daraus die Kraft zu Poesie und Poetik schöpft: „Ich selbst liebe den Wind ungemein. Ein Luftmensch zu sein stört mich nicht. Im Gegenteil, das erlaubt mir, Ozeane und Kontinente zu überqueren“, sagt dieser vielleicht letzte große europäische Humanist und Universalgelehrte, der noch jeden Morgen mit der geistigen Übung beginnt, ein paar Sätze Poesie oder Prosa aus der einen in vier andere Sprachen zu übersetzen.
„Rabbi“, sagt Steiner, bedeute einfach nur „Lehrer“. Und Lehrer, der er nach akademischen Stationen in Chicago, Princeton und Genf heute noch in Cambridge ist, heißt für den Vergleichenden Literaturwissenschaftler „Leser“ zu sein. Als solcher sieht sich Steiner, der für akademische Anmaßungen nur Spott übrig hat – weshalb er mit allen Zünften über Kreuz liegt –, in der Rolle eines dankbar Handreichenden, eines Briefträgers – wie in dem berühmten Film „Il Postino“ um Pablo Neruda, dem ein Postillion täglich Berge von Briefen bringt –, der sein „ganzes Leben lang versucht (hat), ein guter Briefträger zu sein, Briefe abzuholen und in die richtigen Kästen zu werfen“. Das Risiko des Irrtums nimmt Steiner stets in Kauf, und fast scheint es, als liebe der Verfasser einer Autobiografie unter dem Titel „Errata“ geradezu die Irrtümer, die, wenn sie den Quellen widerfahren, der Konjekturen bedürfen – dafür ist der Philologe schließlich da. Kein Wunder, dass Steiner im Sinne des Wortes vom Philologen verlangt, ein Liebender zu sein, ein dankbarer obendrein. Deshalb ist in dem auf Augenhöhe geführten Gespräch mit der zuweilen auch Paroli bietenden Laure Adler viel von Eros die Rede, vom Eros des Lesens, des Liebens, des Schreibens.
Dieser Eros durchdringt auch Steiners breiten Raum einnehmende Reflexionen über das Schicksal der Humaniora – was die Deutschen etwas menschen- und erdenfern Geisteswissenschaften nennen – und über sein Judentum, was ihn zu einer Bestimmung des Menschseins in einer gefährdeten Welt bringt, die noch im vorigen Jahrhundert durch Abgründe gegangen ist, die es „einem Wunder“ gleichen lassen, dass es nach mehr als 100 Millionen Toten allein zwischen dem August 1914 und dem Mai 1945 „überhaupt noch eine europäische Zivilisation gibt“. Und dass es in dieser Welt auch noch Juden gibt, nicht nur in Israel, dessen Existenz für Steiner ebenfalls ein „Wunder“ ist, obgleich er mit dem Judenstaat hadert, weil dieser notwendigerweise den „Adel des Judentums“ abgelegt hat, niemals „die Macht besessen zu haben, andere Menschen zu demütigen“. Dieser Preis, sagt Steiner, sei zu hoch, gemessen an der edleren Aufgabe, „unsere (nicht-jüdischen) Mitbürger jene schwierige Kunst zu lehren, überall zu Hause zu sein“.
Aus jüdischer Tradition und in christlich-jüdischem Geist bekennt Steiner sich zu einem Nomadentum, das in dem neu angebrochenen Zeitalter vielleicht nie zuvor gekannter Migrationsbewegungen zeitgemäß wäre: „Ich glaube weder an Pässe – ein lächerliches Ding – noch an Fahnen.“ Ohnehin sind wir alle nur Gäste, Pilger und Besucher auf Erden, die von den Juden lernen können, vielleicht auch selbst „eines Tages die Koffer packen zu müssen“. Im Altgriechischen sei „xenos“ – Fremder – das Wort auch für Gast, für den Geladenen. Und das französische Substantiv „l’hôte“ macht nicht einmal einen Unterschied zwischen dem Gast und dem Gastgeber. Von bedrückender Aktualität ist schließlich Steiners Prognose, „wenn die Menschen nicht lernen, sich als Gäste und Gastgeber zu begegnen, werden sie sich zerstören“, und es werde „zu schrecklichen ethnischen Konflikten und zu Religionskriegen kommen“ – wenn sie nicht schon da sind.
Ein letztes Wort gebührt Steiners auch in diesem Büchlein ob seiner Gedankenfülle beobachtbaren Denkbewegungen, die dem großen Vorgänger Michel de Montaigne ähneln: Diesem war die Sesshaftigkeit ein lästiges Übel, weshalb er sich zum „Schlendern“, zum „Umherstreifen“ und „Umherschweifen“ als den ihm gemäßen Bewegungsformen bekannte: „Ich schweife ab, doch mehr aus Mutwillen denn aus Versehen . . . Ich liebe die hüpfende, springende Gangart der Poesie . . . Mein Stil schlendert einher wie mein Geist.“ Wenn der Soziologe Georg Simmel in seinem berühmten „Exkurs über den Fremden“ diesen als Gast, als einen Geladenen begriffen hat, „der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“, so sind mit dieser letzten Charakterisierung auch George Steiners Denkbewegungen in ihrer existenziellen Substanz begriffen – und dies zum großen Glück für uns dankbare Leser, die wir hoffentlich noch lange an diesem gar nicht sonderlich traurigen, sondern vielmehr lebensfrohen, zuweilen schalkhaften und vor allem von grenzenloser Neugier beseelten Autor unsere helle Freude haben werden.
Von einem, der sein „ganzes
Leben lang versucht (hat), ein
guter Briefträger zu sein.“
„Ich liebe die
hüpfende, springende
Gangart der Poesie.“
Der Meisterleser George Steiner.
Foto: SZ PHOTO / Regina Schmeken
George Steiner: Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler. Aus dem Französischen von Nicolaus Bornhorn. Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Kunst, überall zu Hause zu sein
„Ein langer Samstag“, ein Gesprächsbuch, in dem George Steiner, der vom Eros des Lesens, des Liebens und des Schreibens
erzählt, vom Adel des Judentums und dass wir lernen müssen, einander endlich als Gäste und Gastgeber zu begegnen
VON VOLKER BREIDECKER
Der jüdische Witz, von dem George Steiner sagt, dass er ihn sich selbst jeden Morgen von Neuem erzählen muss, um trotz der Nachrichten im Radio „durch den Tag zu kommen“, geht so: Gott hat endgültig genug von uns und verkündet das Kommen einer neuen Sintflut binnen zehn Tagen. Keine Arche werde diesmal auf den Weg gebracht. Aus. Schluss. Feierabend. Aus Rom ruft der Papst die Katholiken auf, sich Gottes Willen zu fügen und das Ende im Gebet zu erwarten. Die Protestanten sagen: Lasset uns beten, zuvor aber unsere Bankkonten ordnen, die Bilanzen müssen stimmen. Der Rabbi hingegen ruft aus: Zehn Tage? Aber das reicht völlig, um das Atmen unter Wasser zu erlernen. George Steiner, der sein zufälliges Glück, der Vernichtung der europäischen Juden mit knapper Not entkommen zu sein, bis heute nicht begreifen kann, hat die Lektion des Rabbi freilich gelernt: „Diese wunderbare Anekdote“, sagt noch der bald 87-Jährige, „gibt mir jeden Tag das Glück und die Kraft weiterzuleben. Und ich glaube fest daran: Zehn Tage, das ist sehr viel.“
Es gibt also noch Hoffnung für die Menschen, auch wenn es nicht leicht ist, unter Wasser zu atmen. Am wenigsten für Flüchtlinge in der Ägäis, in der Adria oder im Golf von Sizilien. Für George Steiner wäre auch dies Gesprächsstoff in diesem Buch gewesen, das wie an einem einzigen langen, nicht enden wollenden Samstag über einen Zeitraum von zwölf Jahren, zwischen 2002 und 2014 entstanden ist – auch in Erwartung eines Sonntags, der vielleicht gar nicht mehr kommt: „Wird der Mensch einen Sonntag erleben?“, fragt Steiner am Ende sich und seine Gesprächspartnerin, die französische Rundfunkjournalistin Laure Adler, und gibt zur Antwort: „Man kann es bezweifeln.“
Das ist weniger düster als skeptisch gesagt, und selbst Skepsis und Sarkasmus des Intellektuellen werden bei Steiner stets von einem verschmitzten Lächeln der Ironie begleitet: von Dantes – des Poeten, nicht des sinistren Theologen – „Lächeln der Überzeugung“, hier der Überzeugung desjenigen, der die Lektion des Rabbi beherzigt und unter Wasser zu atmen gelernt hat. Auch als „Luftmensch“, welcher der Schmähung des Juden, die diesem Begriff innewohnt, durch das zugehörige Bekenntnis den Stachel raubt und daraus die Kraft zu Poesie und Poetik schöpft: „Ich selbst liebe den Wind ungemein. Ein Luftmensch zu sein stört mich nicht. Im Gegenteil, das erlaubt mir, Ozeane und Kontinente zu überqueren“, sagt dieser vielleicht letzte große europäische Humanist und Universalgelehrte, der noch jeden Morgen mit der geistigen Übung beginnt, ein paar Sätze Poesie oder Prosa aus der einen in vier andere Sprachen zu übersetzen.
„Rabbi“, sagt Steiner, bedeute einfach nur „Lehrer“. Und Lehrer, der er nach akademischen Stationen in Chicago, Princeton und Genf heute noch in Cambridge ist, heißt für den Vergleichenden Literaturwissenschaftler „Leser“ zu sein. Als solcher sieht sich Steiner, der für akademische Anmaßungen nur Spott übrig hat – weshalb er mit allen Zünften über Kreuz liegt –, in der Rolle eines dankbar Handreichenden, eines Briefträgers – wie in dem berühmten Film „Il Postino“ um Pablo Neruda, dem ein Postillion täglich Berge von Briefen bringt –, der sein „ganzes Leben lang versucht (hat), ein guter Briefträger zu sein, Briefe abzuholen und in die richtigen Kästen zu werfen“. Das Risiko des Irrtums nimmt Steiner stets in Kauf, und fast scheint es, als liebe der Verfasser einer Autobiografie unter dem Titel „Errata“ geradezu die Irrtümer, die, wenn sie den Quellen widerfahren, der Konjekturen bedürfen – dafür ist der Philologe schließlich da. Kein Wunder, dass Steiner im Sinne des Wortes vom Philologen verlangt, ein Liebender zu sein, ein dankbarer obendrein. Deshalb ist in dem auf Augenhöhe geführten Gespräch mit der zuweilen auch Paroli bietenden Laure Adler viel von Eros die Rede, vom Eros des Lesens, des Liebens, des Schreibens.
Dieser Eros durchdringt auch Steiners breiten Raum einnehmende Reflexionen über das Schicksal der Humaniora – was die Deutschen etwas menschen- und erdenfern Geisteswissenschaften nennen – und über sein Judentum, was ihn zu einer Bestimmung des Menschseins in einer gefährdeten Welt bringt, die noch im vorigen Jahrhundert durch Abgründe gegangen ist, die es „einem Wunder“ gleichen lassen, dass es nach mehr als 100 Millionen Toten allein zwischen dem August 1914 und dem Mai 1945 „überhaupt noch eine europäische Zivilisation gibt“. Und dass es in dieser Welt auch noch Juden gibt, nicht nur in Israel, dessen Existenz für Steiner ebenfalls ein „Wunder“ ist, obgleich er mit dem Judenstaat hadert, weil dieser notwendigerweise den „Adel des Judentums“ abgelegt hat, niemals „die Macht besessen zu haben, andere Menschen zu demütigen“. Dieser Preis, sagt Steiner, sei zu hoch, gemessen an der edleren Aufgabe, „unsere (nicht-jüdischen) Mitbürger jene schwierige Kunst zu lehren, überall zu Hause zu sein“.
Aus jüdischer Tradition und in christlich-jüdischem Geist bekennt Steiner sich zu einem Nomadentum, das in dem neu angebrochenen Zeitalter vielleicht nie zuvor gekannter Migrationsbewegungen zeitgemäß wäre: „Ich glaube weder an Pässe – ein lächerliches Ding – noch an Fahnen.“ Ohnehin sind wir alle nur Gäste, Pilger und Besucher auf Erden, die von den Juden lernen können, vielleicht auch selbst „eines Tages die Koffer packen zu müssen“. Im Altgriechischen sei „xenos“ – Fremder – das Wort auch für Gast, für den Geladenen. Und das französische Substantiv „l’hôte“ macht nicht einmal einen Unterschied zwischen dem Gast und dem Gastgeber. Von bedrückender Aktualität ist schließlich Steiners Prognose, „wenn die Menschen nicht lernen, sich als Gäste und Gastgeber zu begegnen, werden sie sich zerstören“, und es werde „zu schrecklichen ethnischen Konflikten und zu Religionskriegen kommen“ – wenn sie nicht schon da sind.
Ein letztes Wort gebührt Steiners auch in diesem Büchlein ob seiner Gedankenfülle beobachtbaren Denkbewegungen, die dem großen Vorgänger Michel de Montaigne ähneln: Diesem war die Sesshaftigkeit ein lästiges Übel, weshalb er sich zum „Schlendern“, zum „Umherstreifen“ und „Umherschweifen“ als den ihm gemäßen Bewegungsformen bekannte: „Ich schweife ab, doch mehr aus Mutwillen denn aus Versehen . . . Ich liebe die hüpfende, springende Gangart der Poesie . . . Mein Stil schlendert einher wie mein Geist.“ Wenn der Soziologe Georg Simmel in seinem berühmten „Exkurs über den Fremden“ diesen als Gast, als einen Geladenen begriffen hat, „der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“, so sind mit dieser letzten Charakterisierung auch George Steiners Denkbewegungen in ihrer existenziellen Substanz begriffen – und dies zum großen Glück für uns dankbare Leser, die wir hoffentlich noch lange an diesem gar nicht sonderlich traurigen, sondern vielmehr lebensfrohen, zuweilen schalkhaften und vor allem von grenzenloser Neugier beseelten Autor unsere helle Freude haben werden.
Von einem, der sein „ganzes
Leben lang versucht (hat), ein
guter Briefträger zu sein.“
„Ich liebe die
hüpfende, springende
Gangart der Poesie.“
Der Meisterleser George Steiner.
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George Steiner: Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler. Aus dem Französischen von Nicolaus Bornhorn. Hoffmann und Campe, Hamburg 2016. 160 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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»Eine graziöse Konversations-Promenade durch sein Leben.« Alexander Kluv Jüdische Allgemeine, 17.03.2016
Zunächst, so schreibt Mara Delius, sei sie skeptisch gewesen, ob sich ein Denker wie George Steiner überhaupt begreifen lasse anhand eines in Buchform gebrachten Gesprächs, wie es die französische Kulturjournalistin Laure Adler geführt hat. Die Kritikerin fürchtete gar eine "intellektuelle Homestory". Doch die Angst sei unbegründet gewesen, gibt Delius nach der Lektüre zu. Auf einen mit Anekdoten gespickten Abriss von Steiners Leben folge in dem schmalen Band die Aufforderung zum Rückzug ins Denken. Doch dabei sei der Philosoph und Kulturkritiker kein Mann der Intellektualismen, so Delius, seine Liebe zum Wort bleibe stets lebendig und lebensnah. So hat die Rezensentin dieses in ihren Augen "wohlkomponierte Gespräch" ganz offensichtlich mit großem Gewinn gelesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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