Produktdetails
- Verlag: DuMont Buchverlag
- Seitenzahl: 172
- Abmessung: 215mm
- Gewicht: 367g
- ISBN-13: 9783832160005
- ISBN-10: 3832160000
- Artikelnr.: 10311965
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2002Brainstorm und Drang
Lieblose Kabale unter Yuppies: Mirko Bonnés zweiter Roman
Mittlere Helden, die unverdient ins Unglück geraten, sind keine Seltenheit in der Literatur. Nicht einmal Durchschnittlichkeit muß langweilen, selbst Männer ohne Eigenschaften spielten ja schon erste Rollen. Mario Ries in Mirko Bonnés zweitem Roman "Ein langsamer Sturz" hat etwas von einem besseren Jedermann. Beruflich ist er recht erfolgreich, doch lästiger Scheidungsstreß und eine völlig unbeabsichtigte, dumme Affäre werfen ihn schicksalhaft aus der Bahn. Eine gewisse Fallhöhe sowie eine Prise tragischer Schuld machen seinen Sturz also möglich, auch wenn er das nicht wahrhaben will.
Ries arbeitet für eine Hamburger Werbeagentur. Sein Auftrag, für das Projekt "Drei Tore Europas" in Marseille eine Dependance einzurichten und darüber hinaus Izmir als dritte Hafenstadt zu gewinnen, wirkt zunächst wie eine große Chance. Doch eine üble Kabale der Hamburger Zentrale, die von einem gewissen "HH" - für Helge Hoppe - geführt wird, zieht ihm den Deutsch-Türken Hakan Bistal vor. Dieser hat Ries' flüchtiges Verhältnis zu der Kulturbeauftragten Jacquelin Fontaine nach Hamburg kolportiert, die - wie der Name schon sagt - die französischen Finanzquellen für das Projekt sprudeln lassen soll. Ries will deshalb kurz vor dem Abflug nach Izmir - dem "Riesen, der täglich wächst" - seinen Job kündigen. Nach einem heftigen Streit mit Hakan reist er schließlich doch, allerdings mit einer anderen Maschine über Brüssel. Beim Anflug auf Izmir sieht er die Fokker aus Marseille, die er selbst hätte nehmen sollen, zertrümmert auf dem Rollfeld. Sein konkurrierender Kollege verunglückt darin tödlich, Jacquelin Fontaine überlebt die Havarie mit schweren Verletzungen.
Hakans jähem Sturz folgt Marios langsamer. Der Leser begleitet ihn bei seinem dreitägigen Aufenthalt in Izmir. Die Agentur hat zur Einweihung des dortigen Europäischen Kulturinstituts eine illustre Gesellschaft einfliegen lassen, die den krisengeschüttelten Mario in ihre Mitte nimmt. Bonné spart hier nicht mit Personal, um seiner unbändigen Leidenschaft für (anagrammatische) Namenspielereien frönen zu können. Da ist der höchst aufgeräumte Zeremonienmeister Walter von Möllen, der Mario seine Tochter Marina, eine verführerische Badenixe, mit Erfolg anträgt. Die Liebe ist bei aller Kabale also erst einmal gesichert, auch wenn sie die Ausstiegswünsche noch befeuert. Hinzu kommen die heimlich miteinander liierten Reiseleiter, der Türke Erdal - "wie die Schuhcreme" - und die mehrsprachige Silke, who "likes" everything; ferner das Künstler-Duo Grün, wobei der Mann natürlich Udo heißt; schließlich die Hamburger Kulturreferenten Renate und Burkhard Schatz, die ihrem Namen schnäbelnd alle Ehre machen. Die Krönung bildet der französische Schnulzensänger Rhoberto, herangewachsen aus einem provinziellen Robert wie wohl sein Agent Enrico Gubben aus einem schlichten Heinrich.
Doch der Roman erschöpft sich nicht in Namen- und reimenden Wortspielen, mit denen sich der Lyriker Bonné zur Geltung bringt. Seine versiert erzählte Geschichte wäre zwar für sich genommen kaum der Rede wert: Wer interessiert sich schon für Leute, die ständig von "Brainstormen", "Workflow", "Briefing", "Mobbing" oder "Info-Management" brabbeln, mit Handys und Laptops herumfuchteln oder sich ohne Begriff von der türkischen Kultur als Mittler Europas aufspielen, um Geschäfte damit zu machen? Wollen wir wirklich wissen, wie Marios Agentur ihn schaßt, er die schwierige Französin wieder los wird, den toten Kollegen identifiziert, seine Kündigung endgültig beschließt und kurz vor dem Rückflug - etwas simpel symbolisiert - in eine Baugrube stürzt? Von außen betrachtet, erscheint das nicht sonderlich aufregend.
Vielleicht aber von innen: Durch das personale Erzählen und die gelegentlichen Wechsel in die erlebte Rede gewinnt dieses Durchschnittsschicksal dennoch an Reiz. Man beginnt zu ahnen, was in jenen so uniform wirkenden Begleitern aus Zug und Flugzeug vorgehen mag, auf welche Situationen sie routinierter oder irritierter reagieren, als wir es erwarten würden. Georg Klein hat diese Kunst der Entführung in unvertraute Regionen der alltäglichen Welt zur Meisterschaft getrieben. Dazu fehlt Bonné allerdings noch ein gutes Stück.
Schade auch, daß einige logische Schnitzer keinem Lektor auffielen. So erkundigt sich Mario, der seltsamerweise keine Uhr trägt, in Hamburg nach der Zeit, um eine Telefonverabredung nicht zu verpassen. Daß es da in Izmir schon eine Stunde später ist, wird nicht bedacht. Oder: Hakan ist - wie Bonné - Jahrgang 1965 und kurz vor seinem Tod "knapp über dreißig". Der Roman spielt also noch in den neunziger Jahren, was einen in Euro ausgestellten Spendenscheck sinnlos macht. Das Raffinement, das die Kritik - wenn auch durch eine gewisse Kompliziertheit erkauft - an Bonnés Debüt "Der junge Fordt" lobte, ist im neuen Roman zu eher kurzweiliger Unterhaltung abgeschliffen. Gut für eine Flugreise.
ALEXANDER KOSENINA.
Mirko Bonné: "Ein langsamer Sturz". Roman. DuMont Verlag, Köln 2002. 172 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lieblose Kabale unter Yuppies: Mirko Bonnés zweiter Roman
Mittlere Helden, die unverdient ins Unglück geraten, sind keine Seltenheit in der Literatur. Nicht einmal Durchschnittlichkeit muß langweilen, selbst Männer ohne Eigenschaften spielten ja schon erste Rollen. Mario Ries in Mirko Bonnés zweitem Roman "Ein langsamer Sturz" hat etwas von einem besseren Jedermann. Beruflich ist er recht erfolgreich, doch lästiger Scheidungsstreß und eine völlig unbeabsichtigte, dumme Affäre werfen ihn schicksalhaft aus der Bahn. Eine gewisse Fallhöhe sowie eine Prise tragischer Schuld machen seinen Sturz also möglich, auch wenn er das nicht wahrhaben will.
Ries arbeitet für eine Hamburger Werbeagentur. Sein Auftrag, für das Projekt "Drei Tore Europas" in Marseille eine Dependance einzurichten und darüber hinaus Izmir als dritte Hafenstadt zu gewinnen, wirkt zunächst wie eine große Chance. Doch eine üble Kabale der Hamburger Zentrale, die von einem gewissen "HH" - für Helge Hoppe - geführt wird, zieht ihm den Deutsch-Türken Hakan Bistal vor. Dieser hat Ries' flüchtiges Verhältnis zu der Kulturbeauftragten Jacquelin Fontaine nach Hamburg kolportiert, die - wie der Name schon sagt - die französischen Finanzquellen für das Projekt sprudeln lassen soll. Ries will deshalb kurz vor dem Abflug nach Izmir - dem "Riesen, der täglich wächst" - seinen Job kündigen. Nach einem heftigen Streit mit Hakan reist er schließlich doch, allerdings mit einer anderen Maschine über Brüssel. Beim Anflug auf Izmir sieht er die Fokker aus Marseille, die er selbst hätte nehmen sollen, zertrümmert auf dem Rollfeld. Sein konkurrierender Kollege verunglückt darin tödlich, Jacquelin Fontaine überlebt die Havarie mit schweren Verletzungen.
Hakans jähem Sturz folgt Marios langsamer. Der Leser begleitet ihn bei seinem dreitägigen Aufenthalt in Izmir. Die Agentur hat zur Einweihung des dortigen Europäischen Kulturinstituts eine illustre Gesellschaft einfliegen lassen, die den krisengeschüttelten Mario in ihre Mitte nimmt. Bonné spart hier nicht mit Personal, um seiner unbändigen Leidenschaft für (anagrammatische) Namenspielereien frönen zu können. Da ist der höchst aufgeräumte Zeremonienmeister Walter von Möllen, der Mario seine Tochter Marina, eine verführerische Badenixe, mit Erfolg anträgt. Die Liebe ist bei aller Kabale also erst einmal gesichert, auch wenn sie die Ausstiegswünsche noch befeuert. Hinzu kommen die heimlich miteinander liierten Reiseleiter, der Türke Erdal - "wie die Schuhcreme" - und die mehrsprachige Silke, who "likes" everything; ferner das Künstler-Duo Grün, wobei der Mann natürlich Udo heißt; schließlich die Hamburger Kulturreferenten Renate und Burkhard Schatz, die ihrem Namen schnäbelnd alle Ehre machen. Die Krönung bildet der französische Schnulzensänger Rhoberto, herangewachsen aus einem provinziellen Robert wie wohl sein Agent Enrico Gubben aus einem schlichten Heinrich.
Doch der Roman erschöpft sich nicht in Namen- und reimenden Wortspielen, mit denen sich der Lyriker Bonné zur Geltung bringt. Seine versiert erzählte Geschichte wäre zwar für sich genommen kaum der Rede wert: Wer interessiert sich schon für Leute, die ständig von "Brainstormen", "Workflow", "Briefing", "Mobbing" oder "Info-Management" brabbeln, mit Handys und Laptops herumfuchteln oder sich ohne Begriff von der türkischen Kultur als Mittler Europas aufspielen, um Geschäfte damit zu machen? Wollen wir wirklich wissen, wie Marios Agentur ihn schaßt, er die schwierige Französin wieder los wird, den toten Kollegen identifiziert, seine Kündigung endgültig beschließt und kurz vor dem Rückflug - etwas simpel symbolisiert - in eine Baugrube stürzt? Von außen betrachtet, erscheint das nicht sonderlich aufregend.
Vielleicht aber von innen: Durch das personale Erzählen und die gelegentlichen Wechsel in die erlebte Rede gewinnt dieses Durchschnittsschicksal dennoch an Reiz. Man beginnt zu ahnen, was in jenen so uniform wirkenden Begleitern aus Zug und Flugzeug vorgehen mag, auf welche Situationen sie routinierter oder irritierter reagieren, als wir es erwarten würden. Georg Klein hat diese Kunst der Entführung in unvertraute Regionen der alltäglichen Welt zur Meisterschaft getrieben. Dazu fehlt Bonné allerdings noch ein gutes Stück.
Schade auch, daß einige logische Schnitzer keinem Lektor auffielen. So erkundigt sich Mario, der seltsamerweise keine Uhr trägt, in Hamburg nach der Zeit, um eine Telefonverabredung nicht zu verpassen. Daß es da in Izmir schon eine Stunde später ist, wird nicht bedacht. Oder: Hakan ist - wie Bonné - Jahrgang 1965 und kurz vor seinem Tod "knapp über dreißig". Der Roman spielt also noch in den neunziger Jahren, was einen in Euro ausgestellten Spendenscheck sinnlos macht. Das Raffinement, das die Kritik - wenn auch durch eine gewisse Kompliziertheit erkauft - an Bonnés Debüt "Der junge Fordt" lobte, ist im neuen Roman zu eher kurzweiliger Unterhaltung abgeschliffen. Gut für eine Flugreise.
ALEXANDER KOSENINA.
Mirko Bonné: "Ein langsamer Sturz". Roman. DuMont Verlag, Köln 2002. 172 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.07.2002Halb-Outsider
Marina ist hübscher: Mirko Bonnés
Roman „Ein langsamer Sturz”
„Noch in der Luft, bevor seine Maschine sicher landete, sah er durchs Bordfenster, dass auf dem Nachbarrollfeld ein Unfall passiert war.” Ein guter erster Satz, eine sofort vorstellbare Situation. Das große Propellerflugzeug, das der Mann sieht, liegt halb auf dem Grasstreifen, halb auf der Piste: „Über die Rumpfunterseite schlängelten sich silberne Furchen, mächtige Kratzer, Spuren vom Schlittern.” Anschaulich beschrieben. Wie reagiert der Mann? „Kein Grund zu jubeln. Unverletzt besah er sich das Wrack wie einer, der vom Himmel gefallen kommt. Er konnte Arme und Beine bewegen, doch gerade das kam ihm unwirklich vor. Als lande er in einem Zwischenreich.” Die zuerst etwas gesucht wirkende Identifikation liest sich überzeugender, wenn man weiß, dass Mario Ries, der Held von Mirko Bonnés neuem Roman „Ein langsamer Sturz” in der verunglückten Maschine hätte sitzen sollen.
Das Motiv des eben noch seinem Schicksal Entkommenen ist gut bekannt. Wie auch das Spiel mit dem Buchtitel, das schon auf Seite 15 verdeutlicht wird: „Sein Sturz hatte wie ein gewöhnliches Straucheln angefangen.” Statt also auf dem Flughafen Izmir Bruch zu landen, wie sein tödlich verunglückter Kollege Hakan, der ihm in seiner Hamburger Agentur in letzter Zeit vorgezogen worden war, darf Mario Ries, der für das Dreihafenstädte-Programm Hamburg-Marseille- Izmir Kultur-PR macht, das ganze Buch hindurch trudeln, schlittern, stürzen.
Kränkliche Misanthropie
Schon hier wird deutlich, dass dieser Mario kein Heros ist, sondern eher ein Würstchen, ein Angestellter eben, der in einem allenfalls halb befriedigenden Organisationsjob immer unglücklicher agiert, dem selbst zum heldischen Loser-Dasein jede Begabung fehlt: In Hamburg lebt Mario unglücklich getrennt von seiner Freundin und seiner kleinen Tochter. In Marseille fängt er betrunken mit der Frau vom Fremdenverkehrsamt etwas an, die wie Hakan in der verunglückten Maschine saß, aber verletzt überlebt hat. All das bereitet Mario Magenschmerzen.
Nicht nur durch seine Nähe zur Tourismusindustrie ist Bonnés Figur verwandt mit Michel, dem Helden von Houellebecqs jüngstem Roman „Plattform”. Auch dessen kränkliche Misanthropie, dessen Tendenz zu sozial nicht korrekten Gedanken und Verhaltensweisen teilt er: In Südfrankreich verzichtet Mario gern auf den Mont St. Victoire-Trip; statt dem „Landesinneren” hat er sich beim ersten Izmir-Besuch mit Exfreundin Rebecca lieber Schuhe angesehen; und, nein, „er wusste nicht, worin sich Kurden von Türken unterscheiden und wollte es auch gar nicht wissen.” Mario ist allerdings kein offener Anti-68er-Pöbler wie Michel, wirkt gemäßigt apathisch, kennt, wahrnehmungsschwach, das überall angepriesene Fremde aus „den Medien”.
Die Parallele zu Houellebecqs Michel bedeutet nicht Kopie. Eher zeigt sie eine wachsende soziale Relevanz dieses Typus von Misanthrop, des nicht unintelligenten Halb-Outsiders unter sich gern glücklich gebenden Funktionären der Dienstleistungsindustrie. Mario wie Michel sind keine Hirngeburten, sondern platt wirklichkeitsgetreue Figuren in platt realistischen Romanen. Der heutige kleinbürgerliche „Fremde” weiß leidlich funktionierende Sozialversicherungen hinter sich. Sein Absturz erfolgt per Flugzeug oder durch Depression aufgrund verarmter sozialer Kontakte, trotz laufender „Meetings”.
Abstöpseln
Wie verheerend die Gesellschaft als öde Reisegruppe wirkt, hat schon Michel, aber auch sein Schöpfer Houellebecq erlebt. „Plattform” scheitert unter anderem an der Trostlosigkeit, die sich ergibt, wenn einer das ebenso trost- wie beziehungslose Milieu des Massentourismus in aller Breite realistisch darzustellen versucht. Und einen ähnlichen Fehler begeht auch Mirko Bonné (der in diesem Jahr beim Klagenfurther Bachmann-Wettbewerb den dritten, den Ernst-Willner-Preis erhielt). Nach einem geglückten Anfang, den man sofort als Beitrag zum in der deutschsprachigen Literatur bekanntlich seltenen Genre des ebenso intelligenten wie realistischen Unterhaltungsromans akzeptiert, verliert er sich nach einem guten Drittel des Romans in die kleinteilige Darstellung eines Milieus, dessen Erbärmlichkeit man schon nach drei bis vier einfallslosen Dialogen begriffen hat.
Ähnlich gelangweilt wie Ries seine Papp-Kollegen aus der europäischen Kultur-Event-Produktion wahrnimmt, wirkt auch Bonnés Präsentation seiner vielen Nebenfiguren. Keine beansprucht das Interesse des Lesers, aber brav müssen einmal in Gang gesetzte Handlungen abgestöpselt werden. Eine selbst auferlegte Verpflichtung, in der sich Bonné verheddert, in der seiner Sprache, die anfangs einiges leistet, schnell die Luft ausgeht: „Walter machte ein Nickerchen, kam jedoch rechtzeitig zu sich, um Zeuge zu werden, wie Udo Grün auf dem Platz des Reiseleiters sitzend zu großer Form auflief und durchs Mikrofon ausgedachte Sehenswürdigkeiten schilderte. Silke mit Schweißhalbkreisen unter den Achseln chauffierte den Bus geduldig durch die Vorstadtstaus, nur ab und an hörte man sie keuchen (...).” Silke, genau, das ist die Frau, die über das Kurden-Problem Bescheid weiß. Marina heisst die Hübschere.
HANS-PETER KUNISCH
MIRKO BONNÉ: Ein langsamer Sturz. Roman. Du Mont Verlag, Köln 2002. 172 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Marina ist hübscher: Mirko Bonnés
Roman „Ein langsamer Sturz”
„Noch in der Luft, bevor seine Maschine sicher landete, sah er durchs Bordfenster, dass auf dem Nachbarrollfeld ein Unfall passiert war.” Ein guter erster Satz, eine sofort vorstellbare Situation. Das große Propellerflugzeug, das der Mann sieht, liegt halb auf dem Grasstreifen, halb auf der Piste: „Über die Rumpfunterseite schlängelten sich silberne Furchen, mächtige Kratzer, Spuren vom Schlittern.” Anschaulich beschrieben. Wie reagiert der Mann? „Kein Grund zu jubeln. Unverletzt besah er sich das Wrack wie einer, der vom Himmel gefallen kommt. Er konnte Arme und Beine bewegen, doch gerade das kam ihm unwirklich vor. Als lande er in einem Zwischenreich.” Die zuerst etwas gesucht wirkende Identifikation liest sich überzeugender, wenn man weiß, dass Mario Ries, der Held von Mirko Bonnés neuem Roman „Ein langsamer Sturz” in der verunglückten Maschine hätte sitzen sollen.
Das Motiv des eben noch seinem Schicksal Entkommenen ist gut bekannt. Wie auch das Spiel mit dem Buchtitel, das schon auf Seite 15 verdeutlicht wird: „Sein Sturz hatte wie ein gewöhnliches Straucheln angefangen.” Statt also auf dem Flughafen Izmir Bruch zu landen, wie sein tödlich verunglückter Kollege Hakan, der ihm in seiner Hamburger Agentur in letzter Zeit vorgezogen worden war, darf Mario Ries, der für das Dreihafenstädte-Programm Hamburg-Marseille- Izmir Kultur-PR macht, das ganze Buch hindurch trudeln, schlittern, stürzen.
Kränkliche Misanthropie
Schon hier wird deutlich, dass dieser Mario kein Heros ist, sondern eher ein Würstchen, ein Angestellter eben, der in einem allenfalls halb befriedigenden Organisationsjob immer unglücklicher agiert, dem selbst zum heldischen Loser-Dasein jede Begabung fehlt: In Hamburg lebt Mario unglücklich getrennt von seiner Freundin und seiner kleinen Tochter. In Marseille fängt er betrunken mit der Frau vom Fremdenverkehrsamt etwas an, die wie Hakan in der verunglückten Maschine saß, aber verletzt überlebt hat. All das bereitet Mario Magenschmerzen.
Nicht nur durch seine Nähe zur Tourismusindustrie ist Bonnés Figur verwandt mit Michel, dem Helden von Houellebecqs jüngstem Roman „Plattform”. Auch dessen kränkliche Misanthropie, dessen Tendenz zu sozial nicht korrekten Gedanken und Verhaltensweisen teilt er: In Südfrankreich verzichtet Mario gern auf den Mont St. Victoire-Trip; statt dem „Landesinneren” hat er sich beim ersten Izmir-Besuch mit Exfreundin Rebecca lieber Schuhe angesehen; und, nein, „er wusste nicht, worin sich Kurden von Türken unterscheiden und wollte es auch gar nicht wissen.” Mario ist allerdings kein offener Anti-68er-Pöbler wie Michel, wirkt gemäßigt apathisch, kennt, wahrnehmungsschwach, das überall angepriesene Fremde aus „den Medien”.
Die Parallele zu Houellebecqs Michel bedeutet nicht Kopie. Eher zeigt sie eine wachsende soziale Relevanz dieses Typus von Misanthrop, des nicht unintelligenten Halb-Outsiders unter sich gern glücklich gebenden Funktionären der Dienstleistungsindustrie. Mario wie Michel sind keine Hirngeburten, sondern platt wirklichkeitsgetreue Figuren in platt realistischen Romanen. Der heutige kleinbürgerliche „Fremde” weiß leidlich funktionierende Sozialversicherungen hinter sich. Sein Absturz erfolgt per Flugzeug oder durch Depression aufgrund verarmter sozialer Kontakte, trotz laufender „Meetings”.
Abstöpseln
Wie verheerend die Gesellschaft als öde Reisegruppe wirkt, hat schon Michel, aber auch sein Schöpfer Houellebecq erlebt. „Plattform” scheitert unter anderem an der Trostlosigkeit, die sich ergibt, wenn einer das ebenso trost- wie beziehungslose Milieu des Massentourismus in aller Breite realistisch darzustellen versucht. Und einen ähnlichen Fehler begeht auch Mirko Bonné (der in diesem Jahr beim Klagenfurther Bachmann-Wettbewerb den dritten, den Ernst-Willner-Preis erhielt). Nach einem geglückten Anfang, den man sofort als Beitrag zum in der deutschsprachigen Literatur bekanntlich seltenen Genre des ebenso intelligenten wie realistischen Unterhaltungsromans akzeptiert, verliert er sich nach einem guten Drittel des Romans in die kleinteilige Darstellung eines Milieus, dessen Erbärmlichkeit man schon nach drei bis vier einfallslosen Dialogen begriffen hat.
Ähnlich gelangweilt wie Ries seine Papp-Kollegen aus der europäischen Kultur-Event-Produktion wahrnimmt, wirkt auch Bonnés Präsentation seiner vielen Nebenfiguren. Keine beansprucht das Interesse des Lesers, aber brav müssen einmal in Gang gesetzte Handlungen abgestöpselt werden. Eine selbst auferlegte Verpflichtung, in der sich Bonné verheddert, in der seiner Sprache, die anfangs einiges leistet, schnell die Luft ausgeht: „Walter machte ein Nickerchen, kam jedoch rechtzeitig zu sich, um Zeuge zu werden, wie Udo Grün auf dem Platz des Reiseleiters sitzend zu großer Form auflief und durchs Mikrofon ausgedachte Sehenswürdigkeiten schilderte. Silke mit Schweißhalbkreisen unter den Achseln chauffierte den Bus geduldig durch die Vorstadtstaus, nur ab und an hörte man sie keuchen (...).” Silke, genau, das ist die Frau, die über das Kurden-Problem Bescheid weiß. Marina heisst die Hübschere.
HANS-PETER KUNISCH
MIRKO BONNÉ: Ein langsamer Sturz. Roman. Du Mont Verlag, Köln 2002. 172 Seiten, 17,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Mirko Bonnés Roman "Ein langsamer Sturz" Roman hat Rezensent Friedhelm Rathjen vor allem wegen seiner Sprache überzeugt. Das Geschehen um die Hauptfigur Mario Ries, der für eine Hamburger Agentur in Izmir eine Dependance aufbauen soll, und dabei mit allerlei "Ranküne, Gehässigkeit, (...) Mobbing, Dissing" von seiten seiner Kollegen zu kämpfen hat, entpuppt sich für Rathjen "spätestens beim Versuch der Nacherzählung als Nicht-Geschehen". Was geschehe, sei eigentlich nur der Taumel der Hauptfigur, deren erratische Aktionen die allumgreifende Lethargie, die sie befangen halte, nicht zu durchdringen vermögen. "Je länger wir Mirko Bonnés Buch lesen", beschreibt Rathjen die eigentliche Qualität des Romans, "desto klarer wird, dass das rudimentäre Geschehen einzig und allein der Suche nach Sätzen dient." Wo im Grunde nichts passiere oder das, was passiere, vage und zähflüssig bleibe, gewinne die Sprache die Oberhand. Als "größten Vorzug" des Romans nennt Rathjen daher, dass Mirko Bonnés Prosa nie glatt und eingängig werde. "Das Geheimnis dieser Prosa", resümiert der Rezensent, "ist die Unerschrockenheit, mit der sie abstrakte, wabernde und inhaltslose Konzepte in konkretes Sprechen zu überführen vermag."
© Perlentaucher Medien GmbH
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