Gregor Gysi hat linkes Denken geprägt und wurde zu einem seiner wichtigsten Protagonisten. Hier erzählt er von seinen zahlreichen Leben: als Familienvater, Anwalt, Politiker, Autor und Moderator. Seine Autobiographie ist ein Geschichts-Buch, das die Erschütterungen und Extreme, die Entwürfe und Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts auf sehr persönliche Weise erlebbar macht. "Gregor Gysi ist wohl der amüsanteste und schlagfertigste, auch geistig beweglichste Politiker, der seit Menschengedenken die Bühne der deutschen Öffentlichkeit betreten hat." ZEIT "Erstaunlich, was sich alles ereignen muss, damit irgendwann das eigene Leben entstehen kann." Gregor Gysi
»Es ist eine lehrreiche Geschichte, aus der man viel darüber lernen kann, was im Zusammenwachsen zwischen West und Ost falschgelaufen ist.« Holger Schmale Berliner Zeitung 20191016
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.10.2017Ein
sozialer
Solitär
Gregor Gysis
Autobiografie
zeigt das Leben
eines Mannes,
der an seinen
Idealen festhält
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Im Jahr 1999 traf Gregor Gysi mit Helmut Kohl zusammen. Der Altkanzler zeigte, dass seine Masche, mit anderen Politikern über ihre privaten Verhältnisse zu reden, um lockeren Umgang zu schaffen, nicht aufgesetzt war. Bei dem Treffen mit Gysi, so schreibt dieser in seiner Autobiografie, „erklärte“ Kohl „mir meinen Vater!“: Wenn der sich in der DDR gegen die SED gestellt hätte, wäre er „keiner mehr von den Seinen und mithin sehr einsam geworden unter den eigenen Genossen“.
Wer Gysi hasst, wird auch mit seiner Autobiografie nichts anfangen können. Die Lektüre könnte nämlich zu einem Sinneswandel führen, was alle Leute abschrecken wird, die lieber über Granit laufen als über Sand. Gysi ist eitel, das weiß er selbst. Entsprechend hochtrabend ist der Titel seines Buches: „Ein Leben ist zu wenig“. Clever, wie er ist, kommentiert Gysi das so: Nicht die Eitelkeit sei „das Problem“ der eitlen Leute, „sondern die Frage, ob sie ihre Eitelkeit beherrschen oder von ihr beherrscht werden“. Das Fazit nach der Lektüre: Ohne Eitelkeit hätte Gysi seine letzten fünfzig Jahre vermutlich nicht heil überstanden.
Der Vater war ein echter Kommunist. Der Sohn einer jüdischen Mutter floh in der NS-Zeit nach Frankreich. Unter der Vichy-Regierung wurde er in ein Lager gesperrt. Eines Tages kreuzte ein NS-Offizier auf: Gysi auf den Laster! Das Schlimmste war zu vermuten. Aber was machte der Offizier? Er fuhr Vater Gysi und zwei andere Juden in die unbesetzte Zone, hieß sie aussteigen und sagte, mehr könne er für sie nicht tun.
Vater Gysi hat seinen Sohn und die Tochter Gabriele zum Kommunismus hin erzogen. Der Tochter wurde die restriktive Politik der DDR in den 80er-Jahren zu bunt. Der Vater half bei der Ausreise. Der Sohn blieb beim heruntergestuften Kommunismus, dem Sozialismus, und bei dem Gedanken, dass die „Härte des Kalten Krieges“ und die Unerfahrenheit der Machthaber samt ihrer Selbstgerechtigkeit das politische System der DDR zugrundegerichtet hätten. Der größte Gegner der DDR, so Gysi, sei nicht äußere Feindlichkeit gewesen, sondern das System selbst.
Gysi war immer, wie er schreibt, ein „Einzelgänger mit Gruppensinn“. Das erste ergab sich aus seiner Herkunft: Zu seinen Vorfahren zählen Aristokraten, ein Bankdirektor. Ein Onkel gründete in Rhodesien eine Kommunistische Partei und versicherte seinem Neffen, die Partei habe nie mehr als zwanzig Mitglieder gehabt. Zu Hause in Ost-Berlin war die ganze Welt zu Gast, Leute aus Südafrika, den USA, England, Frankreich. Es gab ein Kindermädchen – eher ungewöhnlich in einem „Arbeiter- und Bauernstaat“. Unter diesen Umständen war Gysi natürlich ein Solitär unter seinen Schulkameraden. Das hat er abzubauen versucht. Was er „Gruppensinn“ nennt, ist das natürliche Bedürfnis eines jungen Menschen, „dazu“ zu gehören. Zwar haben Gysis Eltern sich 1958 scheiden lassen, aber beide gaben ihm mit auf den Weg, dass man nur in der Gemeinschaft gut leben könne. Elitärer als Gysi konnte man in der DDR nicht heranwachsen. Die Mutter war Verlegerin, samt Dienstwagen. Der Vater war Botschafter in Rom, Kulturminister und später zuständig für Kirchenfragen.
Gysi hatte viel zu tun, seine Bildung und seine Herkunft zu überspielen. In den späten 60er-Jahren, als der Vater Kulturminister war, musste er sich anhören, ob sein Papa nun dafür sorgen werde, dass man West-Musik nicht mehr hören dürfe. Tatsächlich habe der Papa einiges bewirkt: Er delegierte „Auseinandersetzungen vom Ministerium auf die jeweiligen Künstlerverbände (. . .) Dadurch wurden sie eigenständiger und auch unabhängiger.“
Diese Autobiografie ist ehrlich. Gysi spricht offen über sich. Er hat besten Einblick in die DDR-Verhältnisse. Daher ist sein Buch ein bleibendes Geschichtswerk. Am interessantesten sind die Passagen, in denen er über den Beginn der Partei des Demokratischen Sozialismus, der Nachfolgepartei der SED, berichtet. Ein kregler Typ, der er ist, SED-Mitglied, das er war, kam er in das Amt des Parteivorsitzenden der PDS quasi wie die Jungfrau zum Kind. Heute erklärt er das damit, dass man Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen musste und dass er halt immer noch zum sozialistischen Denken stehe.
1990 begannen viele Jahre dessen, was man auf gut Deutsch „mobbing“ nennt. Dem hochintegren Schriftsteller Stefan Heym, der 1994 Alterspräsident des Bundestags wurde, schrien die Gazetten hinterher, er habe für die Stasi gearbeitet. Das hatte Heym nicht getan, aber den Versuch war es den PDS-Hassern wert. Gysi und der PDS wurde unterstellt, sie hätten sich als Nachfolgepartei der SED das gigantische Vermögen der SED unter den Nagel gerissen. Dazu schreibt Gysi: Frühzeitig seien die Unternehmen der SED „in Volkseigentum überführt“ (also: der Treuhandanstalt übergeben) und „die Geldreserve der Partei an die Regierung überwiesen“ worden. Egon Bahr war an die PDS herangetreten: Es mögen doch bitte alte Immobilien der SPD an seine Partei zurückgegeben werden. Auch das wurde geregelt. Schlagzeilen machte aber nur, dass zwei Leute von der PDS dummerweise versucht hatten, 107 Millionen D-Mark im Ausland in Sicherheit zu bringen. Die Mär, dass die PDS vom Vermögen der SED gelebt habe, ist ein Dauerbrenner.
Am schlimmsten traf es Gysi selbst. Ein Informant der Stasi sei er gewesen, wird bis heute kolportiert; die Bild unterstellte ihm in den 90er-Jahren, Sprengstoffanschläge geplant zu haben. Eines Tages rief der renommierte Hamburger Presseanwalt Heinrich Senfft ihn an: Was er sich denn noch alles bieten lassen wolle? Selbstironisch schreibt Gysi: „An Presserecht und Presserechtsprozesse habe ich – ein Anwalt! – damals überhaupt noch nicht gedacht.“ Fortan vertrat Senfft Gysi. Die allermeisten Prozesse wurden glatt gewonnen.
Wer sämtliche Unterlagen gelesen hat, die die Stasi-Unterlagen-Behörde auf Anfrage – und für rund 600 D-Mark– 2001 in Kopie zur Verfügung stellte, kam zu dem Schluss: Da findet sich nichts, was Gysi belastet. Sogar ein Gysi-Gegner räumte einmal ein, es gebe wirklich nur eine Schwachstelle: Ein Satz, den Gysis Mandant, der Systemkritiker Robert Havemann, bei sich zu Haus geäußert hat, ist bei der Stasi gelandet. Nun, was wissen wir, ob bei Havemann nicht Wanzen angebracht waren? Dessen ungeachtet, hat die Stasi-Unterlagen-Behörde unter ihrem damaligen Chef Joachim Gauck ein Gutachten gegen Gysi verfasst. Das fiel vor Gericht durch; es gab keine Anhaltspunkte, Gregor Gysi zu verfolgen. So viele Anfeindungen über Jahre hin können an einem Menschen nicht spurlos vorbeigehen. Gysi schreibt, dass er mit seinem jetzigen Wissen das Amt des Parteivorsitzenden der PDS nicht noch einmal übernehmen würde.
Die „politischen“ Fälle in seiner DDR-Kanzlei, schreibt Gysi, hätten nicht mehr als fünf Prozent ausgemacht. Für gewöhnlich war er mit Ehescheidungen und anderen zivilrechtlichen sowie mit normalen Straffällen befasst. Was die politischen Fälle anging, hatte er einen direkten Draht zur Abteilung „Staat und Recht“ bei der SED. Die Abteilung „Staat und Recht“war der Stasi vorgesetzt. Als Gysi Ende der 80er-Jahre für einen hohen Kader-Posten vorgeschlagen wurde, hat die Stasi dagegen votiert. Erich Honecker hat er übrigens nie kennengelernt. Überhaupt sei Egon Krenz das einzige Mitglied des Politbüros, das er je getroffen habe – aber da war der Untergang der DDR schon nahe.
Gysi schreibt, dass er zwar Dissidenten vertreten habe, aber selbst keiner gewesen sei. Er wollte die DDR reformieren (wie übrigens viele seiner „politischen“ Mandanten, angefangen mit Robert Havemann). Schade ist, dass er nicht mehr über Rudolf Bahro geschrieben hat: Der kannte das System und wusste, dass seine Gespräche mit dem Anwalt mitgehört wurden. Also schimpfte Bahro: er benötige eine Schreibmaschine, wie sonst solle er seine Tage rumbringen? Dem Vernehmen nach hatte Bahro wenig später in seiner Zelle eine Schreibmaschine.
Ende der 90er-Jahre war Gysi bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Gast. Ihm wurde das Übliche vorgehalten: Wie könne man die Nachfolge der SED antreten?, blabla . . . Der damalige Wirtschaftsressortleiter hielt sich zurück. Gefragt warum, sagte er: Gysi sei wegen seiner rhetorischen Begabung eine große Bereicherung des Bundestags. Aber die Argumente seien doch schon alle ausgetauscht. Gysi sieht das anders, er sucht die Diskussion.
Der Vater war Kommunist
und hoher DDR-Funktionär,
die Mutter war Verlegerin
Gysi schreibt,
dass er die DDR
reformieren wollte.
Ein Dissident sei er
aber nicht gewesen
Gregor Gysi:
Ein Leben ist zu wenig.
Aufbau-Verlag Berlin 2017. 538 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sozialer
Solitär
Gregor Gysis
Autobiografie
zeigt das Leben
eines Mannes,
der an seinen
Idealen festhält
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Im Jahr 1999 traf Gregor Gysi mit Helmut Kohl zusammen. Der Altkanzler zeigte, dass seine Masche, mit anderen Politikern über ihre privaten Verhältnisse zu reden, um lockeren Umgang zu schaffen, nicht aufgesetzt war. Bei dem Treffen mit Gysi, so schreibt dieser in seiner Autobiografie, „erklärte“ Kohl „mir meinen Vater!“: Wenn der sich in der DDR gegen die SED gestellt hätte, wäre er „keiner mehr von den Seinen und mithin sehr einsam geworden unter den eigenen Genossen“.
Wer Gysi hasst, wird auch mit seiner Autobiografie nichts anfangen können. Die Lektüre könnte nämlich zu einem Sinneswandel führen, was alle Leute abschrecken wird, die lieber über Granit laufen als über Sand. Gysi ist eitel, das weiß er selbst. Entsprechend hochtrabend ist der Titel seines Buches: „Ein Leben ist zu wenig“. Clever, wie er ist, kommentiert Gysi das so: Nicht die Eitelkeit sei „das Problem“ der eitlen Leute, „sondern die Frage, ob sie ihre Eitelkeit beherrschen oder von ihr beherrscht werden“. Das Fazit nach der Lektüre: Ohne Eitelkeit hätte Gysi seine letzten fünfzig Jahre vermutlich nicht heil überstanden.
Der Vater war ein echter Kommunist. Der Sohn einer jüdischen Mutter floh in der NS-Zeit nach Frankreich. Unter der Vichy-Regierung wurde er in ein Lager gesperrt. Eines Tages kreuzte ein NS-Offizier auf: Gysi auf den Laster! Das Schlimmste war zu vermuten. Aber was machte der Offizier? Er fuhr Vater Gysi und zwei andere Juden in die unbesetzte Zone, hieß sie aussteigen und sagte, mehr könne er für sie nicht tun.
Vater Gysi hat seinen Sohn und die Tochter Gabriele zum Kommunismus hin erzogen. Der Tochter wurde die restriktive Politik der DDR in den 80er-Jahren zu bunt. Der Vater half bei der Ausreise. Der Sohn blieb beim heruntergestuften Kommunismus, dem Sozialismus, und bei dem Gedanken, dass die „Härte des Kalten Krieges“ und die Unerfahrenheit der Machthaber samt ihrer Selbstgerechtigkeit das politische System der DDR zugrundegerichtet hätten. Der größte Gegner der DDR, so Gysi, sei nicht äußere Feindlichkeit gewesen, sondern das System selbst.
Gysi war immer, wie er schreibt, ein „Einzelgänger mit Gruppensinn“. Das erste ergab sich aus seiner Herkunft: Zu seinen Vorfahren zählen Aristokraten, ein Bankdirektor. Ein Onkel gründete in Rhodesien eine Kommunistische Partei und versicherte seinem Neffen, die Partei habe nie mehr als zwanzig Mitglieder gehabt. Zu Hause in Ost-Berlin war die ganze Welt zu Gast, Leute aus Südafrika, den USA, England, Frankreich. Es gab ein Kindermädchen – eher ungewöhnlich in einem „Arbeiter- und Bauernstaat“. Unter diesen Umständen war Gysi natürlich ein Solitär unter seinen Schulkameraden. Das hat er abzubauen versucht. Was er „Gruppensinn“ nennt, ist das natürliche Bedürfnis eines jungen Menschen, „dazu“ zu gehören. Zwar haben Gysis Eltern sich 1958 scheiden lassen, aber beide gaben ihm mit auf den Weg, dass man nur in der Gemeinschaft gut leben könne. Elitärer als Gysi konnte man in der DDR nicht heranwachsen. Die Mutter war Verlegerin, samt Dienstwagen. Der Vater war Botschafter in Rom, Kulturminister und später zuständig für Kirchenfragen.
Gysi hatte viel zu tun, seine Bildung und seine Herkunft zu überspielen. In den späten 60er-Jahren, als der Vater Kulturminister war, musste er sich anhören, ob sein Papa nun dafür sorgen werde, dass man West-Musik nicht mehr hören dürfe. Tatsächlich habe der Papa einiges bewirkt: Er delegierte „Auseinandersetzungen vom Ministerium auf die jeweiligen Künstlerverbände (. . .) Dadurch wurden sie eigenständiger und auch unabhängiger.“
Diese Autobiografie ist ehrlich. Gysi spricht offen über sich. Er hat besten Einblick in die DDR-Verhältnisse. Daher ist sein Buch ein bleibendes Geschichtswerk. Am interessantesten sind die Passagen, in denen er über den Beginn der Partei des Demokratischen Sozialismus, der Nachfolgepartei der SED, berichtet. Ein kregler Typ, der er ist, SED-Mitglied, das er war, kam er in das Amt des Parteivorsitzenden der PDS quasi wie die Jungfrau zum Kind. Heute erklärt er das damit, dass man Verantwortung für die Vergangenheit übernehmen musste und dass er halt immer noch zum sozialistischen Denken stehe.
1990 begannen viele Jahre dessen, was man auf gut Deutsch „mobbing“ nennt. Dem hochintegren Schriftsteller Stefan Heym, der 1994 Alterspräsident des Bundestags wurde, schrien die Gazetten hinterher, er habe für die Stasi gearbeitet. Das hatte Heym nicht getan, aber den Versuch war es den PDS-Hassern wert. Gysi und der PDS wurde unterstellt, sie hätten sich als Nachfolgepartei der SED das gigantische Vermögen der SED unter den Nagel gerissen. Dazu schreibt Gysi: Frühzeitig seien die Unternehmen der SED „in Volkseigentum überführt“ (also: der Treuhandanstalt übergeben) und „die Geldreserve der Partei an die Regierung überwiesen“ worden. Egon Bahr war an die PDS herangetreten: Es mögen doch bitte alte Immobilien der SPD an seine Partei zurückgegeben werden. Auch das wurde geregelt. Schlagzeilen machte aber nur, dass zwei Leute von der PDS dummerweise versucht hatten, 107 Millionen D-Mark im Ausland in Sicherheit zu bringen. Die Mär, dass die PDS vom Vermögen der SED gelebt habe, ist ein Dauerbrenner.
Am schlimmsten traf es Gysi selbst. Ein Informant der Stasi sei er gewesen, wird bis heute kolportiert; die Bild unterstellte ihm in den 90er-Jahren, Sprengstoffanschläge geplant zu haben. Eines Tages rief der renommierte Hamburger Presseanwalt Heinrich Senfft ihn an: Was er sich denn noch alles bieten lassen wolle? Selbstironisch schreibt Gysi: „An Presserecht und Presserechtsprozesse habe ich – ein Anwalt! – damals überhaupt noch nicht gedacht.“ Fortan vertrat Senfft Gysi. Die allermeisten Prozesse wurden glatt gewonnen.
Wer sämtliche Unterlagen gelesen hat, die die Stasi-Unterlagen-Behörde auf Anfrage – und für rund 600 D-Mark– 2001 in Kopie zur Verfügung stellte, kam zu dem Schluss: Da findet sich nichts, was Gysi belastet. Sogar ein Gysi-Gegner räumte einmal ein, es gebe wirklich nur eine Schwachstelle: Ein Satz, den Gysis Mandant, der Systemkritiker Robert Havemann, bei sich zu Haus geäußert hat, ist bei der Stasi gelandet. Nun, was wissen wir, ob bei Havemann nicht Wanzen angebracht waren? Dessen ungeachtet, hat die Stasi-Unterlagen-Behörde unter ihrem damaligen Chef Joachim Gauck ein Gutachten gegen Gysi verfasst. Das fiel vor Gericht durch; es gab keine Anhaltspunkte, Gregor Gysi zu verfolgen. So viele Anfeindungen über Jahre hin können an einem Menschen nicht spurlos vorbeigehen. Gysi schreibt, dass er mit seinem jetzigen Wissen das Amt des Parteivorsitzenden der PDS nicht noch einmal übernehmen würde.
Die „politischen“ Fälle in seiner DDR-Kanzlei, schreibt Gysi, hätten nicht mehr als fünf Prozent ausgemacht. Für gewöhnlich war er mit Ehescheidungen und anderen zivilrechtlichen sowie mit normalen Straffällen befasst. Was die politischen Fälle anging, hatte er einen direkten Draht zur Abteilung „Staat und Recht“ bei der SED. Die Abteilung „Staat und Recht“war der Stasi vorgesetzt. Als Gysi Ende der 80er-Jahre für einen hohen Kader-Posten vorgeschlagen wurde, hat die Stasi dagegen votiert. Erich Honecker hat er übrigens nie kennengelernt. Überhaupt sei Egon Krenz das einzige Mitglied des Politbüros, das er je getroffen habe – aber da war der Untergang der DDR schon nahe.
Gysi schreibt, dass er zwar Dissidenten vertreten habe, aber selbst keiner gewesen sei. Er wollte die DDR reformieren (wie übrigens viele seiner „politischen“ Mandanten, angefangen mit Robert Havemann). Schade ist, dass er nicht mehr über Rudolf Bahro geschrieben hat: Der kannte das System und wusste, dass seine Gespräche mit dem Anwalt mitgehört wurden. Also schimpfte Bahro: er benötige eine Schreibmaschine, wie sonst solle er seine Tage rumbringen? Dem Vernehmen nach hatte Bahro wenig später in seiner Zelle eine Schreibmaschine.
Ende der 90er-Jahre war Gysi bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Gast. Ihm wurde das Übliche vorgehalten: Wie könne man die Nachfolge der SED antreten?, blabla . . . Der damalige Wirtschaftsressortleiter hielt sich zurück. Gefragt warum, sagte er: Gysi sei wegen seiner rhetorischen Begabung eine große Bereicherung des Bundestags. Aber die Argumente seien doch schon alle ausgetauscht. Gysi sieht das anders, er sucht die Diskussion.
Der Vater war Kommunist
und hoher DDR-Funktionär,
die Mutter war Verlegerin
Gysi schreibt,
dass er die DDR
reformieren wollte.
Ein Dissident sei er
aber nicht gewesen
Gregor Gysi:
Ein Leben ist zu wenig.
Aufbau-Verlag Berlin 2017. 538 Seiten, 24 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.01.2018Mit sich und seinem Leben im Reinen
Vom Parteifunktionär zum Talkshowstar - die Autobiographie Gregor Gysis
"Wir haben gefeiert, gelacht, Konflikte ausgetragen. Eine Existenz der drückenden Enge war es trotz der Mauer nicht. Das Leben ist eben stets reicher, als es später in einer bestimmten Art der Geschichtsschreibung gewesen sein soll. Dann nämlich, wenn im Nachhinein die Vielfalt unzähliger lebendiger Biographien nur noch politischen Tendenzen zugerechnet werden soll. Was unser Leben prägte, ihm Kraft und Substanz gab, es bleibt Besitz, im Positiven wie im Negativen." Diese Sicht auf die DDR-Wirklichkeit und das Plädoyer für die Akzeptanz spezifisch ostdeutscher Lebenswege im wiedervereinigten Deutschland ist ein zentrales Thema der unlängst erschienenen Autobiographie von Gregor Gysi, der am 16. Januar seinen 70. Geburtstag feiert. Die Frage nach dem Wert der eigenen Biographie und die pauschale Geringschätzung ostdeutscher Lebenswege im wiedervereinigten Deutschland beschäftigt viele ehemalige DDR-Bürger. Dies ist bis zu einem gewissen Grad unabhängig davon, ob einer nun prominent ist oder nicht, ob er oppositionell, angepasst oder gar Systemträger war oder ob sich seine Einstellung zum SED-Staat im Laufe der Zeit gewandelt hat. So spricht sich beispielsweise auch der ehemalige Oppositionelle und heutige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, für eine "differenzierte Bewertung von Biographien" aus. In seiner Autobiographie "Wir Angepassten" schreibt auch er vom "normalen Leben" in der DDR, indem man "zur Schule gegangen ist," "Berufe erlernt, Familien gegründet" und "Weihnachten gefeiert" hat. "Wir haben gelebt. Auch in der Diktatur schien die Sonne." Im Gegensatz zu Gysi betont Jahn jedoch die Brüche in seiner und vielen anderen Biographien, die Zerrissenheit zwischen Anpassung und Widerstand. Diese Brüche kannte Gysi nicht, er war konstant ein Vertreter der Nomenklatura, wenn auch ein sehr origineller und scharfsinniger.
Gysis Leben in der DDR war von Geburt an ein privilegiertes - seine Eltern, beide eher großbürgerlicher Herkunft, gehörten zur "kommunistischen Aristokratie" des SED-Staates: Der Vater, Klaus Gysi, seit 1931 KPD-Mitglied, war unter anderem Kultusminister, Botschafter in Italien und Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR; die Mutter, Irene Gysi geb. Lessing, war mit ihrem Mann im kommunistischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv und nach 1949 unter anderem Abteilungsleiterin im Ministerium für Kultur der DDR.
Gysi beschreibt seinen Lebens- und Karriereweg im Spannungsfeld von Staatsloyalität und systemimmanenten Handlungsspielräumen, die er mal für sich und mal für andere, auch seine Mandanten, zu nutzen vermochte. Er nimmt nicht zu Unrecht für sich in Anspruch, mit Cleverness manchem Apparatschik ein Schnippchen geschlagen zu haben, was er noch heute zu genießen scheint. Als Bespiel führt er der Leserschaft vor Augen, wie er die wiederholten Versuche, ihn zum Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) einzuziehen, letztlich erfolgreich konterkarierte.
Aber dies war nur eine Seite des Lebens des Gregor Gysi in der DDR, wenn auch die sympathischere. Entscheidender für die Beurteilung seiner Rolle ist jedoch seine politische Loyalität zum SED-Regime, seine konsequent verfolgte Karriere und nicht zuletzt das dafür notwendige Durchsetzungsvermögen mit komplementärer Anpassungsbereitschaft: Er war jüngstes Mitglied des "Berliner Rechtsanwaltskollegiums", avancierte 1988 zu dessen Vorsitzendem und Mitte 1989 zum Vorsitzenden des "Rates der Vorsitzenden der Rechtsanwälte" in der gesamten DDR. Bereits Ende der siebziger Jahre war er einer der bekanntesten Rechtsanwälte der DDR. Eine solche, weitgehend reibungslos verlaufende Karriere wäre ohne seinen familiären Hintergrund, bei dem der Eintritt in die "Sozialistische Einheitspartei" (SED) unmittelbar nach dem Erreichen der Volljährigkeit gleichsam eine Selbstverständlichkeit war, kaum denkbar gewesen: "Es war meine feste Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen", so Gysi. Das allein hätte aber nicht gereicht. Aktives Engagement für die Sache des Staatssozialismus war gefordert: So war er während des Studiums an der Humboldt-Universität FDJ-Sekretär und Mitglied der Sektionsparteileitung. Während seiner Anwaltstätigkeit wurde er Parteisekretär der Grundorganisation des "Berliner Rechtsanwaltskollegiums" - eine politische Schlüsselfunktion, die ihn in den Kreis der Nomenklaturkader, also der zukünftigen Partei- und Staatselite der DDR aufsteigen ließ.
Dass es gerade Gregor Gysi war, der in der Phase des Zusammenbruchs der DDR im Herbst/Winter 1989 das Überleben der SED durch Transformation und Erneuerung organisieren und sichern würde, war nicht vorhersehbar. Dennoch entbehrte es nicht einer gewissen Logik: Gysi war prominent und vor allem eloquent, kein engstirniger Parteikader, sondern wie geschaffen, um im Wendeherbst von der SED zu retten, was noch zu retten war. Erst in dieser Umbruchsphase kamen seine Talente richtig zur Geltung: Intellektuelle Beweglichkeit, rhetorisches Talent und taktisches Geschick waren jetzt gefragte Eigenschaften - und die brachte Gysi zweifellos mit. Sie bestimmten auch sein zweites Leben als Berufspolitiker und machten ihn zum Talkshowstar.
Ein Zuckerschlecken war sein öffentliches Leben im vereinigten Deutschland aber trotzdem nicht. Ausgiebig schildert Gysi Schmähungen und Arroganz, die ihm als Parteivorsitzenden der SED-Nachfolgepartei PDS im Deutschen Bundestag, aber auch sonst in der Öffentlichkeit entgegenschlugen. Diese Reaktionen vor allem von Abgeordneten der etablierten Parteien wirken im Rückblick ziemlich überzogen, sie unterstreichen eindrücklich, wie lang der Weg zur gesamtdeutschen politischen Normalität war. Gysi spricht vom Bundestag der neunziger Jahre als einer "Kampfarena", in der die Abgeordneten seiner Partei "wo es nur ging, geringschätzig behandelt und ausgrenzt" wurden - ein teilweise wenig rühmliches Stück gesamtdeutscher Parlamentsgeschichte. Schwarz-Weiß-Malerei entwertete auch das "gelebte Leben" einfacher, ehemals mehr oder weniger angepasster DDR-Bürger. Gysi betont nicht ganz zu Unrecht: "So wuchs auch das Gefühl der Demütigung, weil DDR-Geschichte regelmäßig reduziert wurde auf Helden- und Stasigeschichten, Widerstand und Mitläuferschaft. Dazwischen nichts?"
Wer allerdings von Gysis Autobiographie eine eigene kritische Auseinandersetzung mit der DDR und eine wirklich selbstkritische Reflexion seiner eigenen Rolle erwartet hat, wird weitgehend enttäuscht. Der Rechtsanwalt und Kollegiumsfunktionär Gysi erscheint als zäher und pfiffiger Streiter für Rechtsstaatlichkeit im SED-Staat. Das ist nicht völlig falsch, aber nur die halbe Wahrheit, wie eine kürzlich erschienene Monographie über die Rechtsanwaltschaft der DDR zeigt, in der auch seine regimekonformen Schattenseiten deutlich werden. Vor diesem Hintergrund erzählt uns Gysi sein Leben mit einer geradezu irritierenden Leichtigkeit. Im Hinblick auf die Frage der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit serviert er dem Leser erwartbar die altbekannte Version. Gleiches gilt für den Verbleib von Resten des SED-Vermögens.
Trotzdem liest man das Buch gerne, es ist gut geschrieben und bietet anschauliche Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt eines Protagonisten, der in zwei politischen Systemen an vorderster Front mitspielte. Dass Talent, Persönlichkeit und individuelle Leistung hierbei eine wesentliche Rolle spielten, wird überdeutlich. Man tut dem Autor sicherlich nicht unrecht, wenn man ihm ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein unterstellt. Eitelkeit dürfte er nicht zu den Todsünden rechnen. Gregor Gysi ist offensichtlich mit sich und seinem Leben im Reinen.
DANIELA MÜNKEL
Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2017. 583 S., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Parteifunktionär zum Talkshowstar - die Autobiographie Gregor Gysis
"Wir haben gefeiert, gelacht, Konflikte ausgetragen. Eine Existenz der drückenden Enge war es trotz der Mauer nicht. Das Leben ist eben stets reicher, als es später in einer bestimmten Art der Geschichtsschreibung gewesen sein soll. Dann nämlich, wenn im Nachhinein die Vielfalt unzähliger lebendiger Biographien nur noch politischen Tendenzen zugerechnet werden soll. Was unser Leben prägte, ihm Kraft und Substanz gab, es bleibt Besitz, im Positiven wie im Negativen." Diese Sicht auf die DDR-Wirklichkeit und das Plädoyer für die Akzeptanz spezifisch ostdeutscher Lebenswege im wiedervereinigten Deutschland ist ein zentrales Thema der unlängst erschienenen Autobiographie von Gregor Gysi, der am 16. Januar seinen 70. Geburtstag feiert. Die Frage nach dem Wert der eigenen Biographie und die pauschale Geringschätzung ostdeutscher Lebenswege im wiedervereinigten Deutschland beschäftigt viele ehemalige DDR-Bürger. Dies ist bis zu einem gewissen Grad unabhängig davon, ob einer nun prominent ist oder nicht, ob er oppositionell, angepasst oder gar Systemträger war oder ob sich seine Einstellung zum SED-Staat im Laufe der Zeit gewandelt hat. So spricht sich beispielsweise auch der ehemalige Oppositionelle und heutige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Roland Jahn, für eine "differenzierte Bewertung von Biographien" aus. In seiner Autobiographie "Wir Angepassten" schreibt auch er vom "normalen Leben" in der DDR, indem man "zur Schule gegangen ist," "Berufe erlernt, Familien gegründet" und "Weihnachten gefeiert" hat. "Wir haben gelebt. Auch in der Diktatur schien die Sonne." Im Gegensatz zu Gysi betont Jahn jedoch die Brüche in seiner und vielen anderen Biographien, die Zerrissenheit zwischen Anpassung und Widerstand. Diese Brüche kannte Gysi nicht, er war konstant ein Vertreter der Nomenklatura, wenn auch ein sehr origineller und scharfsinniger.
Gysis Leben in der DDR war von Geburt an ein privilegiertes - seine Eltern, beide eher großbürgerlicher Herkunft, gehörten zur "kommunistischen Aristokratie" des SED-Staates: Der Vater, Klaus Gysi, seit 1931 KPD-Mitglied, war unter anderem Kultusminister, Botschafter in Italien und Staatssekretär für Kirchenfragen der DDR; die Mutter, Irene Gysi geb. Lessing, war mit ihrem Mann im kommunistischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten aktiv und nach 1949 unter anderem Abteilungsleiterin im Ministerium für Kultur der DDR.
Gysi beschreibt seinen Lebens- und Karriereweg im Spannungsfeld von Staatsloyalität und systemimmanenten Handlungsspielräumen, die er mal für sich und mal für andere, auch seine Mandanten, zu nutzen vermochte. Er nimmt nicht zu Unrecht für sich in Anspruch, mit Cleverness manchem Apparatschik ein Schnippchen geschlagen zu haben, was er noch heute zu genießen scheint. Als Bespiel führt er der Leserschaft vor Augen, wie er die wiederholten Versuche, ihn zum Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA) einzuziehen, letztlich erfolgreich konterkarierte.
Aber dies war nur eine Seite des Lebens des Gregor Gysi in der DDR, wenn auch die sympathischere. Entscheidender für die Beurteilung seiner Rolle ist jedoch seine politische Loyalität zum SED-Regime, seine konsequent verfolgte Karriere und nicht zuletzt das dafür notwendige Durchsetzungsvermögen mit komplementärer Anpassungsbereitschaft: Er war jüngstes Mitglied des "Berliner Rechtsanwaltskollegiums", avancierte 1988 zu dessen Vorsitzendem und Mitte 1989 zum Vorsitzenden des "Rates der Vorsitzenden der Rechtsanwälte" in der gesamten DDR. Bereits Ende der siebziger Jahre war er einer der bekanntesten Rechtsanwälte der DDR. Eine solche, weitgehend reibungslos verlaufende Karriere wäre ohne seinen familiären Hintergrund, bei dem der Eintritt in die "Sozialistische Einheitspartei" (SED) unmittelbar nach dem Erreichen der Volljährigkeit gleichsam eine Selbstverständlichkeit war, kaum denkbar gewesen: "Es war meine feste Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen", so Gysi. Das allein hätte aber nicht gereicht. Aktives Engagement für die Sache des Staatssozialismus war gefordert: So war er während des Studiums an der Humboldt-Universität FDJ-Sekretär und Mitglied der Sektionsparteileitung. Während seiner Anwaltstätigkeit wurde er Parteisekretär der Grundorganisation des "Berliner Rechtsanwaltskollegiums" - eine politische Schlüsselfunktion, die ihn in den Kreis der Nomenklaturkader, also der zukünftigen Partei- und Staatselite der DDR aufsteigen ließ.
Dass es gerade Gregor Gysi war, der in der Phase des Zusammenbruchs der DDR im Herbst/Winter 1989 das Überleben der SED durch Transformation und Erneuerung organisieren und sichern würde, war nicht vorhersehbar. Dennoch entbehrte es nicht einer gewissen Logik: Gysi war prominent und vor allem eloquent, kein engstirniger Parteikader, sondern wie geschaffen, um im Wendeherbst von der SED zu retten, was noch zu retten war. Erst in dieser Umbruchsphase kamen seine Talente richtig zur Geltung: Intellektuelle Beweglichkeit, rhetorisches Talent und taktisches Geschick waren jetzt gefragte Eigenschaften - und die brachte Gysi zweifellos mit. Sie bestimmten auch sein zweites Leben als Berufspolitiker und machten ihn zum Talkshowstar.
Ein Zuckerschlecken war sein öffentliches Leben im vereinigten Deutschland aber trotzdem nicht. Ausgiebig schildert Gysi Schmähungen und Arroganz, die ihm als Parteivorsitzenden der SED-Nachfolgepartei PDS im Deutschen Bundestag, aber auch sonst in der Öffentlichkeit entgegenschlugen. Diese Reaktionen vor allem von Abgeordneten der etablierten Parteien wirken im Rückblick ziemlich überzogen, sie unterstreichen eindrücklich, wie lang der Weg zur gesamtdeutschen politischen Normalität war. Gysi spricht vom Bundestag der neunziger Jahre als einer "Kampfarena", in der die Abgeordneten seiner Partei "wo es nur ging, geringschätzig behandelt und ausgrenzt" wurden - ein teilweise wenig rühmliches Stück gesamtdeutscher Parlamentsgeschichte. Schwarz-Weiß-Malerei entwertete auch das "gelebte Leben" einfacher, ehemals mehr oder weniger angepasster DDR-Bürger. Gysi betont nicht ganz zu Unrecht: "So wuchs auch das Gefühl der Demütigung, weil DDR-Geschichte regelmäßig reduziert wurde auf Helden- und Stasigeschichten, Widerstand und Mitläuferschaft. Dazwischen nichts?"
Wer allerdings von Gysis Autobiographie eine eigene kritische Auseinandersetzung mit der DDR und eine wirklich selbstkritische Reflexion seiner eigenen Rolle erwartet hat, wird weitgehend enttäuscht. Der Rechtsanwalt und Kollegiumsfunktionär Gysi erscheint als zäher und pfiffiger Streiter für Rechtsstaatlichkeit im SED-Staat. Das ist nicht völlig falsch, aber nur die halbe Wahrheit, wie eine kürzlich erschienene Monographie über die Rechtsanwaltschaft der DDR zeigt, in der auch seine regimekonformen Schattenseiten deutlich werden. Vor diesem Hintergrund erzählt uns Gysi sein Leben mit einer geradezu irritierenden Leichtigkeit. Im Hinblick auf die Frage der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit serviert er dem Leser erwartbar die altbekannte Version. Gleiches gilt für den Verbleib von Resten des SED-Vermögens.
Trotzdem liest man das Buch gerne, es ist gut geschrieben und bietet anschauliche Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt eines Protagonisten, der in zwei politischen Systemen an vorderster Front mitspielte. Dass Talent, Persönlichkeit und individuelle Leistung hierbei eine wesentliche Rolle spielten, wird überdeutlich. Man tut dem Autor sicherlich nicht unrecht, wenn man ihm ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein unterstellt. Eitelkeit dürfte er nicht zu den Todsünden rechnen. Gregor Gysi ist offensichtlich mit sich und seinem Leben im Reinen.
DANIELA MÜNKEL
Gregor Gysi: Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie.
Aufbau Verlag, Berlin 2017. 583 S., 24,- [Euro].
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» Gysi ist eine spektakuläre Figur. Gesegnet mit Freund und Feind, mit großer Klappe und einer Rhetorik, die nicht so schnell ihresgleichen findet. « Wolfgang Hübner Neues Deutschland 20180116