Wolf Jobst Siedler war sieben, als Hitler die Macht ergriff, und er erinnert sich genau, wie die Familie die Autokavalkade Hindenburgs und Hitlers bei der Rückkehr vom "Tag von Potsdam" sah. Siedler erinnert sich seiner Kindheit und Jugend, als Deutschland auf den Krieg zuging, den aber kaum jemand voraussah. Sein Vater, ehemals ein kaiserlicher Diplomat und inzwischen ein Industriesyndikus, entstammte der Welt des konservativen Bürgertums, war aber als Anhänger der Demokratischen Partei entschieden gegen die neuen Machthaber. In dieser Atmosphäre konservativer Liberalität wuchs der Sohn auf, erst in den Schulen und Gymnasien Berlins, dann in Internaten in Schloss Ettersburg und in Spiekeroog, wo der Sohn Ernst Jüngers sein bester Freund wurde. Zur Jahreswende 1943/44 verhaftete man die beiden Siebzehnjährigen als Rädelsführer einer jugendlichen Widerstandsgruppe. Gemeinsam verbrachten sie mehrere Monate im Gefängnis, bis sie zur "Frontbewährung" begnadigt wurden. An der italienischen Front fiel der Freund in den ersten Tagen, offensichtlich auf einem Himmelsfahrtkommando; Siedler verbrachte nach seiner Verwundung einige Monate in verschiedenen Lazaretten in Italien. Fronterlebnisse, Gefangenschaft und Jahre in Afrika schließen Siedlers Jugendzeit ab. Ende 1947 kehrt der Zweiundzwanzigjährige in seine zerstörte Vaterstadt Berlin zurück.
Als Siebzehnjähriger ging Wolf Jobst Siedler zu Gustaf Gründgens ins Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und zu Heinrich George ins Schillertheater. Dort sah er Grabbes "Hannibal": Der punische Feldherr trinkt den Giftbecher und beantwortet die Frage seines schwarzen Sklaven, was wohl nach dem Trunk sein werde, mit dem Satz: "Was soll schon sein? Aus der Welt werden wir nicht fallen, wir sind einmal drin." Das war das Lebensgefühl des jungen Siedler zwischen Gefängnis und Front, von dem der Autor aus der Nähe des Erlebten und der Distanz der Erinnerung auf unvergleichliche Weise berichtet.
Als Siebzehnjähriger ging Wolf Jobst Siedler zu Gustaf Gründgens ins Schauspielhaus am Gendarmenmarkt und zu Heinrich George ins Schillertheater. Dort sah er Grabbes "Hannibal": Der punische Feldherr trinkt den Giftbecher und beantwortet die Frage seines schwarzen Sklaven, was wohl nach dem Trunk sein werde, mit dem Satz: "Was soll schon sein? Aus der Welt werden wir nicht fallen, wir sind einmal drin." Das war das Lebensgefühl des jungen Siedler zwischen Gefängnis und Front, von dem der Autor aus der Nähe des Erlebten und der Distanz der Erinnerung auf unvergleichliche Weise berichtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Eine windige Geschichte
Wolf Jobst Siedler berichtet aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit / Von Mechthild Küpper
Auf der zweiten Seite seiner Memoiren gesteht Wolf Jobst Siedler: "Meinen Freunden fiel ich später oft genug auf die Nerven, wenn ich meinem Hang nachgab, die ersten oder letzten Absätze oder ganze Seiten von Romanen aus dem Gedächtnis herzusagen." Das ist eine zutreffende Beobachtung, denn den ersten Satz aus Thomas Manns "Joseph" als ersten Satz von Siedlers Erinnerungen zu lesen, pikiert und irritiert zuverlässig jeden Leser. "Der Brunnen der Vergangenheit" macht einen erst auf die Tatsache aufmerksam, daß durch die knapp vierhundert Seiten hindurch Zitate anderer Autoren saftiger und sprechender sind als Siedlers eigene Bemerkungen. Die eigenen Gedanken und Erinnerungen kommen ihm selbst matt und "merkwürdig fern", "verblaßt" und "konturenlos" vor. An Heinrich Manns schwerem Brocken "Ein Zeitalter wird besichtigt" orientiert sich der Titel "Ein Leben wird besichtigt"; der Untertitel "In der Welt der Eltern" stellt das Unternehmen in die Nähe von Proust. Verleger verstehen es, Bücher verführerisch wirken zu lassen.
Auf die Memoiren von Wolf Jobst Siedler hatten seine Leser - als erfolgreicher Verleger und Publizist hat er viele - sich wie auf einen Leckerbissen gefreut. Wer nach der Wiedervereinigung nach Berlin zog, lernte von ihm, was die Stadt war und was sie geworden ist. Er war für viele erste Adresse und blieb geistiger Stadtführer. Siedler ist ein schöner Mann, eine elegante Erscheinung, eine Präsenz. In den letzten Jahren prägte ein attraktiver Ton - verweht! dahin! vergangen! - seine Aufsätze, und seinen Lebensbericht stellte man sich entsprechend genüßlich vor.
Siedler wurde 1926 geboren, in dem Haus in Dahlem, in dem er heute noch lebt. Als siebzehnjähriger Schüler und Marinehelfer wurde er 1943 wegen unvorsichtiger Bemerkungen gegen das Regime verhaftet, zusammen mit Ernst Jünger, dem Sohn des Schriftstellers. Der, sein "einziger wirklicher Freund", fiel 1944 bei Carrara. Siedler wurde verwundet, geriet in britische Gefangenschaft und verbrachte als Kriegsgefangener zweieinhalb Jahre in Afrika. 1947 kehrte er heim nach Berlin, studierte an der Humboldt-Universität und der Freien Universität und begann, immer noch blutjung, eine strahlende Karriere als Publizist und Verleger. Von ihr ist zwar häufig die Rede, sie ist aber nicht Gegenstand dieses Berichts. Der endet irgendwann, in Siedlers Zeit als Feuilletonchef des "Tagesspiegel". Wann das war, wann überhaupt etwas stattfand, ist bei der Lektüre schwer auszumachen. Die Erzählung gerät wie gesprochene Sprache vom Hölzchen aufs Stöckchen, selten wird der Weg durchs Ungefähre durch Zahlen oder Daten markiert. So erfährt man weder die Chronik eines Lebens, noch versteht man, was Siedler sein will, wer er ist, wie die Menschen waren, denen er sich nahe fühlt.
Siedler sieht sich als Abkömmling vieler berühmter Leute. Genannt werden der Bildhauer Gottfried Schadow, die Schriftstellerin Fanny Lewald und die Bankiersfamilie Gerson, doch sollte man es mit der Verwandtschaft nicht genauer nehmen als Siedler selbst, der schreibt: "Nicht die zeitliche Distanz entschied über das Maß der Nähe, sondern die Unverwechselbarkeit der Erinnerung, die mit dem Verstreichen der Zeit immer anschaulicher wurde." Redigiert hat diese Erinnerungen der Sohn, WJS junior, und so wundert man sich erst, daß sein Vater über ihn berichtet, er habe sich als Junge mehr "jüdisches Blut" gewünscht, weil er damit "vielleicht intelligenter" wäre, und staunt dann, daß dieser Lektor so etwas stehen ließ.
Die Verehrung alles Jüdischen ist ein ebenso beständiges, aber unerklärtes Motiv wie die Besessenheit mit dem Osten, den "verlorenen Provinzen", und wie die "Bubertät", die Obsession mit Buber, die schon in den späten vierziger Jahren der Kritiker Friedrich Luft nur für eine Marotte hielt. Bemerkungen wie "beide verweht, Pommern wie Juden, was würde man geben, sie wiederzuhaben", würde man im freundschaftlichen Gespräch am Kamin vielleicht durchgehen lassen. In der Auskunft des Verlegers Siedler über seine Herkunft und geistige Heimat sind sie befremdlich. Die Lektüre seiner fahrigen Memoiren legt die Vermutung nahe, daß von dort, wo jeder das deutsche Bürgertum vermuten würde - in der Welt von Siedlers Eltern - außer einem gewissen Habitus nichts dergleichen zu überliefern war.
Wolf Jobst Siedler: "Ein Leben wird besichtigt". In der Welt der Eltern. Siedler Verlag, Berlin 2000. 384 S., 40 Abb., geb., 49,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wolf Jobst Siedler berichtet aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit / Von Mechthild Küpper
Auf der zweiten Seite seiner Memoiren gesteht Wolf Jobst Siedler: "Meinen Freunden fiel ich später oft genug auf die Nerven, wenn ich meinem Hang nachgab, die ersten oder letzten Absätze oder ganze Seiten von Romanen aus dem Gedächtnis herzusagen." Das ist eine zutreffende Beobachtung, denn den ersten Satz aus Thomas Manns "Joseph" als ersten Satz von Siedlers Erinnerungen zu lesen, pikiert und irritiert zuverlässig jeden Leser. "Der Brunnen der Vergangenheit" macht einen erst auf die Tatsache aufmerksam, daß durch die knapp vierhundert Seiten hindurch Zitate anderer Autoren saftiger und sprechender sind als Siedlers eigene Bemerkungen. Die eigenen Gedanken und Erinnerungen kommen ihm selbst matt und "merkwürdig fern", "verblaßt" und "konturenlos" vor. An Heinrich Manns schwerem Brocken "Ein Zeitalter wird besichtigt" orientiert sich der Titel "Ein Leben wird besichtigt"; der Untertitel "In der Welt der Eltern" stellt das Unternehmen in die Nähe von Proust. Verleger verstehen es, Bücher verführerisch wirken zu lassen.
Auf die Memoiren von Wolf Jobst Siedler hatten seine Leser - als erfolgreicher Verleger und Publizist hat er viele - sich wie auf einen Leckerbissen gefreut. Wer nach der Wiedervereinigung nach Berlin zog, lernte von ihm, was die Stadt war und was sie geworden ist. Er war für viele erste Adresse und blieb geistiger Stadtführer. Siedler ist ein schöner Mann, eine elegante Erscheinung, eine Präsenz. In den letzten Jahren prägte ein attraktiver Ton - verweht! dahin! vergangen! - seine Aufsätze, und seinen Lebensbericht stellte man sich entsprechend genüßlich vor.
Siedler wurde 1926 geboren, in dem Haus in Dahlem, in dem er heute noch lebt. Als siebzehnjähriger Schüler und Marinehelfer wurde er 1943 wegen unvorsichtiger Bemerkungen gegen das Regime verhaftet, zusammen mit Ernst Jünger, dem Sohn des Schriftstellers. Der, sein "einziger wirklicher Freund", fiel 1944 bei Carrara. Siedler wurde verwundet, geriet in britische Gefangenschaft und verbrachte als Kriegsgefangener zweieinhalb Jahre in Afrika. 1947 kehrte er heim nach Berlin, studierte an der Humboldt-Universität und der Freien Universität und begann, immer noch blutjung, eine strahlende Karriere als Publizist und Verleger. Von ihr ist zwar häufig die Rede, sie ist aber nicht Gegenstand dieses Berichts. Der endet irgendwann, in Siedlers Zeit als Feuilletonchef des "Tagesspiegel". Wann das war, wann überhaupt etwas stattfand, ist bei der Lektüre schwer auszumachen. Die Erzählung gerät wie gesprochene Sprache vom Hölzchen aufs Stöckchen, selten wird der Weg durchs Ungefähre durch Zahlen oder Daten markiert. So erfährt man weder die Chronik eines Lebens, noch versteht man, was Siedler sein will, wer er ist, wie die Menschen waren, denen er sich nahe fühlt.
Siedler sieht sich als Abkömmling vieler berühmter Leute. Genannt werden der Bildhauer Gottfried Schadow, die Schriftstellerin Fanny Lewald und die Bankiersfamilie Gerson, doch sollte man es mit der Verwandtschaft nicht genauer nehmen als Siedler selbst, der schreibt: "Nicht die zeitliche Distanz entschied über das Maß der Nähe, sondern die Unverwechselbarkeit der Erinnerung, die mit dem Verstreichen der Zeit immer anschaulicher wurde." Redigiert hat diese Erinnerungen der Sohn, WJS junior, und so wundert man sich erst, daß sein Vater über ihn berichtet, er habe sich als Junge mehr "jüdisches Blut" gewünscht, weil er damit "vielleicht intelligenter" wäre, und staunt dann, daß dieser Lektor so etwas stehen ließ.
Die Verehrung alles Jüdischen ist ein ebenso beständiges, aber unerklärtes Motiv wie die Besessenheit mit dem Osten, den "verlorenen Provinzen", und wie die "Bubertät", die Obsession mit Buber, die schon in den späten vierziger Jahren der Kritiker Friedrich Luft nur für eine Marotte hielt. Bemerkungen wie "beide verweht, Pommern wie Juden, was würde man geben, sie wiederzuhaben", würde man im freundschaftlichen Gespräch am Kamin vielleicht durchgehen lassen. In der Auskunft des Verlegers Siedler über seine Herkunft und geistige Heimat sind sie befremdlich. Die Lektüre seiner fahrigen Memoiren legt die Vermutung nahe, daß von dort, wo jeder das deutsche Bürgertum vermuten würde - in der Welt von Siedlers Eltern - außer einem gewissen Habitus nichts dergleichen zu überliefern war.
Wolf Jobst Siedler: "Ein Leben wird besichtigt". In der Welt der Eltern. Siedler Verlag, Berlin 2000. 384 S., 40 Abb., geb., 49,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Gleich einem Bildungsroman, dessen Beweggrund der Krieg ist, hat Wolf Jobst Siedler seine Autobiografie angelegt, schreibt Karin Wieland. Der Autor schildere zunächst die gepflegte bürgerliche Welt im Diplomatenhaus seiner Eltern, ihre Resistenz gegen den aufkeimenden Nationalsozialismus, der für Siedler immer ein Kleinbürger-Phänomen geblieben sei, `was auch immer die Forschung behaupte`, so die Rezensentin. Mit Kriegsbeginn sei diese Welt für Siedler verschwunden. `Ruhig und unprätentiös` schreibe er über seine `Hinwendung zu einer anderen Moderne`, die Freundschaft mit Ernst Jüngers Sohn, ihre gemeinsame Zeit in Haft aufgrund einer Denunziation und schließlich seine zweijährige Kriegsgefangenschaft in Afrika. Wieland kritisiert lediglich, dass Siedler seine Aufzeichnungen immer wieder durch Einschübe seiner späteren Erfolge unterbricht, die jedoch dem `existentiellen Ernst` der Kriegserfahrungen nach Ansicht der Rezensentin nicht angemessen sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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