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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Eine windige Geschichte
Wolf Jobst Siedler berichtet aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit / Von Mechthild Küpper

Auf der zweiten Seite seiner Memoiren gesteht Wolf Jobst Siedler: "Meinen Freunden fiel ich später oft genug auf die Nerven, wenn ich meinem Hang nachgab, die ersten oder letzten Absätze oder ganze Seiten von Romanen aus dem Gedächtnis herzusagen." Das ist eine zutreffende Beobachtung, denn den ersten Satz aus Thomas Manns "Joseph" als ersten Satz von Siedlers Erinnerungen zu lesen, pikiert und irritiert zuverlässig jeden Leser. "Der Brunnen der Vergangenheit" macht einen erst auf die Tatsache aufmerksam, daß durch die knapp vierhundert Seiten hindurch Zitate anderer Autoren saftiger und sprechender sind als Siedlers eigene Bemerkungen. Die eigenen Gedanken und Erinnerungen kommen ihm selbst matt und "merkwürdig fern", "verblaßt" und "konturenlos" vor. An Heinrich Manns schwerem Brocken "Ein Zeitalter wird besichtigt" orientiert sich der Titel "Ein Leben wird besichtigt"; der Untertitel "In der Welt der Eltern" stellt das Unternehmen in die Nähe von Proust. Verleger verstehen es, Bücher verführerisch wirken zu lassen.

Auf die Memoiren von Wolf Jobst Siedler hatten seine Leser - als erfolgreicher Verleger und Publizist hat er viele - sich wie auf einen Leckerbissen gefreut. Wer nach der Wiedervereinigung nach Berlin zog, lernte von ihm, was die Stadt war und was sie geworden ist. Er war für viele erste Adresse und blieb geistiger Stadtführer. Siedler ist ein schöner Mann, eine elegante Erscheinung, eine Präsenz. In den letzten Jahren prägte ein attraktiver Ton - verweht! dahin! vergangen! - seine Aufsätze, und seinen Lebensbericht stellte man sich entsprechend genüßlich vor.

Siedler wurde 1926 geboren, in dem Haus in Dahlem, in dem er heute noch lebt. Als siebzehnjähriger Schüler und Marinehelfer wurde er 1943 wegen unvorsichtiger Bemerkungen gegen das Regime verhaftet, zusammen mit Ernst Jünger, dem Sohn des Schriftstellers. Der, sein "einziger wirklicher Freund", fiel 1944 bei Carrara. Siedler wurde verwundet, geriet in britische Gefangenschaft und verbrachte als Kriegsgefangener zweieinhalb Jahre in Afrika. 1947 kehrte er heim nach Berlin, studierte an der Humboldt-Universität und der Freien Universität und begann, immer noch blutjung, eine strahlende Karriere als Publizist und Verleger. Von ihr ist zwar häufig die Rede, sie ist aber nicht Gegenstand dieses Berichts. Der endet irgendwann, in Siedlers Zeit als Feuilletonchef des "Tagesspiegel". Wann das war, wann überhaupt etwas stattfand, ist bei der Lektüre schwer auszumachen. Die Erzählung gerät wie gesprochene Sprache vom Hölzchen aufs Stöckchen, selten wird der Weg durchs Ungefähre durch Zahlen oder Daten markiert. So erfährt man weder die Chronik eines Lebens, noch versteht man, was Siedler sein will, wer er ist, wie die Menschen waren, denen er sich nahe fühlt.

Siedler sieht sich als Abkömmling vieler berühmter Leute. Genannt werden der Bildhauer Gottfried Schadow, die Schriftstellerin Fanny Lewald und die Bankiersfamilie Gerson, doch sollte man es mit der Verwandtschaft nicht genauer nehmen als Siedler selbst, der schreibt: "Nicht die zeitliche Distanz entschied über das Maß der Nähe, sondern die Unverwechselbarkeit der Erinnerung, die mit dem Verstreichen der Zeit immer anschaulicher wurde." Redigiert hat diese Erinnerungen der Sohn, WJS junior, und so wundert man sich erst, daß sein Vater über ihn berichtet, er habe sich als Junge mehr "jüdisches Blut" gewünscht, weil er damit "vielleicht intelligenter" wäre, und staunt dann, daß dieser Lektor so etwas stehen ließ.

Die Verehrung alles Jüdischen ist ein ebenso beständiges, aber unerklärtes Motiv wie die Besessenheit mit dem Osten, den "verlorenen Provinzen", und wie die "Bubertät", die Obsession mit Buber, die schon in den späten vierziger Jahren der Kritiker Friedrich Luft nur für eine Marotte hielt. Bemerkungen wie "beide verweht, Pommern wie Juden, was würde man geben, sie wiederzuhaben", würde man im freundschaftlichen Gespräch am Kamin vielleicht durchgehen lassen. In der Auskunft des Verlegers Siedler über seine Herkunft und geistige Heimat sind sie befremdlich. Die Lektüre seiner fahrigen Memoiren legt die Vermutung nahe, daß von dort, wo jeder das deutsche Bürgertum vermuten würde - in der Welt von Siedlers Eltern - außer einem gewissen Habitus nichts dergleichen zu überliefern war.

Wolf Jobst Siedler: "Ein Leben wird besichtigt". In der Welt der Eltern. Siedler Verlag, Berlin 2000. 384 S., 40 Abb., geb., 49,90 DM.

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