Ein leeres Haus schildert drei Tage aus der Perspektive einer jungen holländischen Jüdin: den 28. Juni 1945, den 25. März 1947 und den 21. April 1950. Übervoll mit traumatischen Erinnerungen, aber auch von innerer Leere sind die, die den Krieg und die Schoah überlebt haben. Die Parallel- geschichten von zwei Jüdinnen erzählen von Wegen, dem zu begegnen: Sepha stellt sich dem Verlust ihrer Familie und hat das Bedürfnis, Leben nachzuholen. Auf der Suche danach, sich selbst wieder zu spüren, droht sie, sich in unerfüllten Liebschaften zu verlieren, flüchtigem Sex, bei dem sie sich immer fremder wird. Das Glück eines selbstbestimmten Sommers unter südfranzösischer Sonne und Träume von Nordafrika tauscht sie gegen die Rückkehr nach Amsterdam ein, zurück in eine nach der Befreiung hastig geschlossene Ehe. Die Freundin Yona zerbricht zusehends an den Verlusten, voller »Selbstmitleid«, wie ihr hart vorgehalten wird. Ein »leeres Haus«, verknüpft mit einem Kafka-Motto, ist wiederkehrendes Motiv: ein fast leeres Haus, in dem sich Illegale verstecken, das Wiedersehen mit dem Elternhaus, eine Traumsequenz mit dem Vater, inmitten eines wie leeren Hauses, und schließlich der Einzug in einen noch leeren Neubau: Illusion eines unbeschwerten Neuanfangs. Marga Minco verbindet ihre beiden Frauenportraits mit den prägenden Ereignissen: dem Überleben in der Illegalität, dem Taumel der Befreiung, der Trauer um die verlorenen Familien. Das Jetzt und das Gestern gehen durch virtuose Rückblenden ständig ineinander über. Angesichts des eigenen Empfindens der »Schuld der Überlebenden« und neuen judenfeindlichen Erfahrungen kann es schwerlich Normalität geben.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2020Ein ausgeraubtes Haus wird wieder bewohnbar
Marga Mincos großartige Romane über ein jüdisches Überleben in den deutsch besetzten Niederlanden
Bostoner Augusthitze. Hirn auf Schmalspur. Im Garten alles verdorrt. In Chicago Glasscherben vor ausgeräumten Geschäften, im Rinnstein eine zertretene Gucci-Brille. Black Lives Matter. In den Krankenhäusern erschöpftes Personal. Von Florida bis Connecticut Corona-Partys. Trauerfeiern im Livestream. Du hast der Frau die Hand geschüttelt? Bist du von der Rolle? Möchten Sie über Marga Minco schreiben? Wer? Minco, Marga, niederländische Autorin, überlebte die Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg, weil sie untertauchte. Jetzt über diese Jahre nachdenken?
Mincos Romanen entströmt die Kälte der Judenfeindschaft und des Hungerwinters 1944/45, aber auch die Lebensenergie sehr junger Frauen und Männer, die als Juden oder Widerstandskämpfer untertauchten. Selten treten einem aus den Werken einer Autorin, die ihre Überlebensgeschichte verarbeitet, Figuren von solcher Intensität und Wirklichkeit entgegen, so dass man bedauert, so rasch die letzte Seite erreicht zu haben. Man verliebt sich sofort in die Erzählerin Sepha, in ihre Klugheit und Klarsicht. Man liebt sie, weil man weiß, dass sie es schaffen wird, ohne etwas zu beschönigen, uns Leser über die Abgründe zu tragen. Wir werden alles sehen, aber wir werden nicht leiden müssen, weil Sepha da ist, die weitererzählt.
Das ungemein positive Lesegefühl ist ein Resultat von Mincos Stil: intelligent, präzise, energiegeladen und von Marlene Müller-Haas erstklassig in ein elegantes und doch ganz junges Deutsch übertragen, als wären die Romane "Das bittere Kraut" und "Ein leeres Haus" erst jetzt entstanden.
Marga Minco wurde am 31. März 1920 als Sara Menco in Nordbrabant in eine orthodoxe jüdische Familie geboren. Schon 1938 begann sie, als Journalistin für eine Zeitung in Breda zu schreiben. Nach der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen im Mai 1940 wurde Minco entlassen. Wegen einer Tuberkulose wurde sie in Utrecht und Amersfoort behandelt. Erst im Herbst 1942 fuhr sie nach Amsterdam, wo ihre Eltern inzwischen im "Jüdischen Viertel" wohnten. Deportationen nach Auschwitz und Sobibor begannen im Juli 1942. Als ihre Eltern abgeholt wurden, entwischte Minco und tauchte unter. Sie hieß nun Marga Faes. Ihre Familie - Eltern, Bruder, Schwester, deren Ehepartner, Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins - wurde ermordet.
Minco heiratete den zwei Jahr älteren Dichter Bert Voeten, den sie seit 1938 kannte und mit dem zusammen sie untergetaucht war. Während Voeten kontinuierlich publizierte (zwölf Bücher zwischen 1944 und 1956), veröffentlichte Minco erst 1957 ihr erstes Buch: "Das bittere Kraut". Es erzählt vom Unglaublichen: ",Glaubst du, dass sie mit uns das Gleiche machen wie . . .?' ,Hier könnte so etwas nie passieren!'" So antwortet der Vater der Tochter. Und dann passiert es: Sterne auf den Mänteln, die Abholung, die Blitzentscheidung der Tochter, durch den Garten abzuhauen, die Irrfahrten zu den Verstecken, der Mut so vieler Niederländer, die Niedertracht so vieler anderer. Der Titel bezieht sich auf die Bitterkräuter, die an Pessach im Gedenken an die Fron in Ägypten gegessen werden.
"Het bittere kruid" wurde ein Bestseller und Mincos Wegbereiter in die Literatur. Fast dreißig Bücher folgten, darunter 1966 auch "Ein leeres Haus," das chronologisch unmittelbar an "Das bittere Kraut" anschließt. Es ist literarisch komplexer gebaut und stilistisch noch sparsamer und schärfer geschnitten. Seine drei Kapitel tragen Daten: 28. Juni 1945, 25. März 1947 und 21. April 1950. Es geht also um das Leben "danach". Im Juni 1945 trampt Sepha mit ihrem Koffer von Friesland zurück nach Amsterdam. An der Landstraße auf das nächste Fahrzeug wartend, trifft sie Yona, deren Namen "Taube" bedeutet. Sie überlebte verborgen in einer engen Dachkammer. Yona und Sepha (vielleicht von Josepha, also "Träumerin", "Deuterin", "Erzählerin") stehen für zwei Formen des Überlebens: allein und mit einem Partner. In Amsterdam finden beide nur noch die leeren, geplünderten Häuser ihrer Familien. In Amsterdam wurden zehntausend jüdische Wohnungen komplett ausgeraubt. Im Hungerwinter wurden Türen, Vertäfelungen, Holzböden herausgerissen und verheizt.
Der materiellen Leere, mit der die Rückkehrer klarkommen müssen, steht die Fülle ihrer Erinnerungen gegenüber, die sie peinigt, lähmt, zermürbt. Im Verweben von Fülle und Leere zeigt sich Marga Mincos literarische Kunst: Assoziationen, ausgelöst durch ein Wort, ein Glas Wein, ein Frühstück, versetzen Sepha unvermittelt in eine andere Zeit. Im Text geht es nahtlos weiter, aber die Situation, obwohl strukturell sehr ähnlich, ist eine andere, die Beteiligten sind andere. Wir leben alle mit erinnerten Welten im Kopf; die eine ruft die andere hervor. Die Glücklichen leben im Bewusstsein der Kontinuität. Yona wird überwältigt vom Schmerz der Diskontinuität.
Sepha kämpft darum, das leere Haus bewohnbar zu machen. Dazu braucht sie 1947 auch eine Auszeit in Collioure bei Perpignan. Matisse malte hier im Sommer 1905. Farben, Sonne, ein attraktiver Mann wirken vorübergehend restaurativ, retten auch Sephas Ehe mit Mark, der als Journalist in Amsterdam um eine Stelle kämpft. Am Ende aber hilft Sepha nur der Umzug in ein ganz neues leeres Haus, radikalste Diskontinuität, um die Erinnerung lang genug in Schach zu halten, um eigene Strukturen zu schaffen.
Minco selbst aber zog mutig in das alte leere Haus und gab dem Leben ihrer Familie, dem Leben der Amsterdamer Juden klug und energisch eine literarische Form. Im kommenden Herbst wird der verdienstvolle Arco Verlag dann noch Mincos Roman "Nachgelassene Tage" von 1997 herausbringen. Im vergangenen März feierte Marga Minco ihren hundertsten Geburtstag. Man kann sich also noch persönlich bei ihr bedanken für ein Lebenswerk, das schwierigste Erfahrungen plastisch nachvollziehbar vermittelt und ihre langsame Bewältigung skizziert. Man nimmt daraus wohl eine Menge mit in diese schwierigen Tage des Sommers 2020.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Marga Minco: "Das bittere Kraut". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco Verlag, Wuppertal 2020. 96 S., geb., 18,- [Euro].
Marga Minco: "Ein leeres Haus". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco Verlag, Wuppertal 2020. 172 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marga Mincos großartige Romane über ein jüdisches Überleben in den deutsch besetzten Niederlanden
Bostoner Augusthitze. Hirn auf Schmalspur. Im Garten alles verdorrt. In Chicago Glasscherben vor ausgeräumten Geschäften, im Rinnstein eine zertretene Gucci-Brille. Black Lives Matter. In den Krankenhäusern erschöpftes Personal. Von Florida bis Connecticut Corona-Partys. Trauerfeiern im Livestream. Du hast der Frau die Hand geschüttelt? Bist du von der Rolle? Möchten Sie über Marga Minco schreiben? Wer? Minco, Marga, niederländische Autorin, überlebte die Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg, weil sie untertauchte. Jetzt über diese Jahre nachdenken?
Mincos Romanen entströmt die Kälte der Judenfeindschaft und des Hungerwinters 1944/45, aber auch die Lebensenergie sehr junger Frauen und Männer, die als Juden oder Widerstandskämpfer untertauchten. Selten treten einem aus den Werken einer Autorin, die ihre Überlebensgeschichte verarbeitet, Figuren von solcher Intensität und Wirklichkeit entgegen, so dass man bedauert, so rasch die letzte Seite erreicht zu haben. Man verliebt sich sofort in die Erzählerin Sepha, in ihre Klugheit und Klarsicht. Man liebt sie, weil man weiß, dass sie es schaffen wird, ohne etwas zu beschönigen, uns Leser über die Abgründe zu tragen. Wir werden alles sehen, aber wir werden nicht leiden müssen, weil Sepha da ist, die weitererzählt.
Das ungemein positive Lesegefühl ist ein Resultat von Mincos Stil: intelligent, präzise, energiegeladen und von Marlene Müller-Haas erstklassig in ein elegantes und doch ganz junges Deutsch übertragen, als wären die Romane "Das bittere Kraut" und "Ein leeres Haus" erst jetzt entstanden.
Marga Minco wurde am 31. März 1920 als Sara Menco in Nordbrabant in eine orthodoxe jüdische Familie geboren. Schon 1938 begann sie, als Journalistin für eine Zeitung in Breda zu schreiben. Nach der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen im Mai 1940 wurde Minco entlassen. Wegen einer Tuberkulose wurde sie in Utrecht und Amersfoort behandelt. Erst im Herbst 1942 fuhr sie nach Amsterdam, wo ihre Eltern inzwischen im "Jüdischen Viertel" wohnten. Deportationen nach Auschwitz und Sobibor begannen im Juli 1942. Als ihre Eltern abgeholt wurden, entwischte Minco und tauchte unter. Sie hieß nun Marga Faes. Ihre Familie - Eltern, Bruder, Schwester, deren Ehepartner, Onkel, Tanten, Cousinen, Cousins - wurde ermordet.
Minco heiratete den zwei Jahr älteren Dichter Bert Voeten, den sie seit 1938 kannte und mit dem zusammen sie untergetaucht war. Während Voeten kontinuierlich publizierte (zwölf Bücher zwischen 1944 und 1956), veröffentlichte Minco erst 1957 ihr erstes Buch: "Das bittere Kraut". Es erzählt vom Unglaublichen: ",Glaubst du, dass sie mit uns das Gleiche machen wie . . .?' ,Hier könnte so etwas nie passieren!'" So antwortet der Vater der Tochter. Und dann passiert es: Sterne auf den Mänteln, die Abholung, die Blitzentscheidung der Tochter, durch den Garten abzuhauen, die Irrfahrten zu den Verstecken, der Mut so vieler Niederländer, die Niedertracht so vieler anderer. Der Titel bezieht sich auf die Bitterkräuter, die an Pessach im Gedenken an die Fron in Ägypten gegessen werden.
"Het bittere kruid" wurde ein Bestseller und Mincos Wegbereiter in die Literatur. Fast dreißig Bücher folgten, darunter 1966 auch "Ein leeres Haus," das chronologisch unmittelbar an "Das bittere Kraut" anschließt. Es ist literarisch komplexer gebaut und stilistisch noch sparsamer und schärfer geschnitten. Seine drei Kapitel tragen Daten: 28. Juni 1945, 25. März 1947 und 21. April 1950. Es geht also um das Leben "danach". Im Juni 1945 trampt Sepha mit ihrem Koffer von Friesland zurück nach Amsterdam. An der Landstraße auf das nächste Fahrzeug wartend, trifft sie Yona, deren Namen "Taube" bedeutet. Sie überlebte verborgen in einer engen Dachkammer. Yona und Sepha (vielleicht von Josepha, also "Träumerin", "Deuterin", "Erzählerin") stehen für zwei Formen des Überlebens: allein und mit einem Partner. In Amsterdam finden beide nur noch die leeren, geplünderten Häuser ihrer Familien. In Amsterdam wurden zehntausend jüdische Wohnungen komplett ausgeraubt. Im Hungerwinter wurden Türen, Vertäfelungen, Holzböden herausgerissen und verheizt.
Der materiellen Leere, mit der die Rückkehrer klarkommen müssen, steht die Fülle ihrer Erinnerungen gegenüber, die sie peinigt, lähmt, zermürbt. Im Verweben von Fülle und Leere zeigt sich Marga Mincos literarische Kunst: Assoziationen, ausgelöst durch ein Wort, ein Glas Wein, ein Frühstück, versetzen Sepha unvermittelt in eine andere Zeit. Im Text geht es nahtlos weiter, aber die Situation, obwohl strukturell sehr ähnlich, ist eine andere, die Beteiligten sind andere. Wir leben alle mit erinnerten Welten im Kopf; die eine ruft die andere hervor. Die Glücklichen leben im Bewusstsein der Kontinuität. Yona wird überwältigt vom Schmerz der Diskontinuität.
Sepha kämpft darum, das leere Haus bewohnbar zu machen. Dazu braucht sie 1947 auch eine Auszeit in Collioure bei Perpignan. Matisse malte hier im Sommer 1905. Farben, Sonne, ein attraktiver Mann wirken vorübergehend restaurativ, retten auch Sephas Ehe mit Mark, der als Journalist in Amsterdam um eine Stelle kämpft. Am Ende aber hilft Sepha nur der Umzug in ein ganz neues leeres Haus, radikalste Diskontinuität, um die Erinnerung lang genug in Schach zu halten, um eigene Strukturen zu schaffen.
Minco selbst aber zog mutig in das alte leere Haus und gab dem Leben ihrer Familie, dem Leben der Amsterdamer Juden klug und energisch eine literarische Form. Im kommenden Herbst wird der verdienstvolle Arco Verlag dann noch Mincos Roman "Nachgelassene Tage" von 1997 herausbringen. Im vergangenen März feierte Marga Minco ihren hundertsten Geburtstag. Man kann sich also noch persönlich bei ihr bedanken für ein Lebenswerk, das schwierigste Erfahrungen plastisch nachvollziehbar vermittelt und ihre langsame Bewältigung skizziert. Man nimmt daraus wohl eine Menge mit in diese schwierigen Tage des Sommers 2020.
SUSANNE KLINGENSTEIN
Marga Minco: "Das bittere Kraut". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco Verlag, Wuppertal 2020. 96 S., geb., 18,- [Euro].
Marga Minco: "Ein leeres Haus". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco Verlag, Wuppertal 2020. 172 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Susanne Klingenstein hält Marga Mincos zweiten Roman für literarisch komplexer und stilistisch sparsamer als das Debüt der Autorin von 1957. Wie die Autorin von den ersten Nachkriegsjahren erzählt, von zwei Frauen, die ins geplünderte Amsterdam zurückkehren und deren assoziativ getriggerte Erinnerungen ihre Schätze sind, findet Klingenstein stark. Es geht um Überwältigung und Diskontinuität im Angesicht der Geschichte, Erfahrungen, die der Text laut Klingenstein "plastisch nachvollziehbar" macht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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