Das neueste Werk des Nobelpreisträgers Jon Fosse - über den schmalen Grat zwischen Leben und Tod und eine Begegnung mit dem Licht in tiefer Dunkelheit
Ein Mann setzt sich ins Auto und beginnt zu fahren, ohne zu wissen, wohin er will. Er biegt mal rechts, mal links ab und bleibt schließlich am Ende eines Waldweges stecken. Es dämmert und beginnt zu schneien, doch anstatt umzukehren und Hilfe zu holen, wagt sich der Mann törichterweise in den dunklen Wald hinein. Tiefer und tiefer dringt er vor in die Dunkelheit, bis er sich unweigerlich verirrt. Er ist müde und friert, als ihm tief in der Finsternis des Waldes ein leuchtendes Wesen begegnet.
Eindringlich und traumhaft: Ein Leuchten ist das neueste Werk von Jon Fosse, dem «Beckett des einundzwanzigsten Jahrhunderts» (Le Monde).
Ein Mann setzt sich ins Auto und beginnt zu fahren, ohne zu wissen, wohin er will. Er biegt mal rechts, mal links ab und bleibt schließlich am Ende eines Waldweges stecken. Es dämmert und beginnt zu schneien, doch anstatt umzukehren und Hilfe zu holen, wagt sich der Mann törichterweise in den dunklen Wald hinein. Tiefer und tiefer dringt er vor in die Dunkelheit, bis er sich unweigerlich verirrt. Er ist müde und friert, als ihm tief in der Finsternis des Waldes ein leuchtendes Wesen begegnet.
Eindringlich und traumhaft: Ein Leuchten ist das neueste Werk von Jon Fosse, dem «Beckett des einundzwanzigsten Jahrhunderts» (Le Monde).
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Die Gnade regiert in diesem schmalen Buch Jon Fosses, so Rezensentin Katharina Teutsch. Die Erzählung begleitet einen Mann in der norwegischen Einsamkeit auf seinem Weg in den Wald, wo er mit dem Auto im Schnee stecken bleibt, dann zu Fuß weiterläuft - und seinen Eltern begegnet, lernen wir. Beziehungsweise einer Vision seiner Eltern, denn es geht um Erleuchtung, auch wenn die Fosse insgesamt eher distanziert gegenüberstehende Rezensentin die Dialoge, die diese Elternwesen führen, an Loriot erinnert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2023Der ganze Fosse
auf 80 Seiten
Wem die Romane zu kolossal sind, kann es
erst mal mit der Erzählung „Ein Leuchten“ versuchen.
Seit der Norweger Jon Fosse zum neuen Literaturnobelpreisträger proklamiert wurde, wird sein Werk von allen Seiten mit Ehrfurcht gebietenden Rezeptionsanweisungen umstellt, nicht zuletzt vom Autor selbst, der sich nach seiner Konversion zum Katholizismus als religiöser Schriftsteller geoutet hat. Die Bedeutungsentleerung der Worte in der Liturgie habe es ihm besonders angetan, sagt er.
Und darum gehe es ihm in der Literatur: Schreiben als Gebet. Dem Unsagbaren eine Stimme verleihen. Stille als stummes Sprechen. Das stumme Sprechen hinter der geschriebenen Sprache herbeischreiben. Schreiben als ein in die Stille Hineinhören, sich Voranlauschen. Er schreibe einfach los, extrem schnell, ohne Plan, es sei ein Flow, sagt er.
All das findet sich komprimiert in Fosses Prosa-Hauptwerk, der mehr als tausendseitigen „Heptalogie“. Nicht jeder dürfte sich diesem Summum Opus auf Anhieb gewachsen fühlen. Wer diesen Haupteingang in Jon Fosses literarischen Kosmos scheut, der könnte einen Nebeneingang nehmen. Beispielsweise via „Ein Leuchten“. Dieser knapp 80-seitige Erzähltext ist eine Art Antichambre für unschlüssige Fosse-Novizen, die noch schwanken, ob sie das Innere des Hauptgebäudes betreten möchten oder eher nicht.
Gleich anfangs im Text geht’s ganz hoch hinauf – mit Dantes „Göttlicher Komödie“ auf den Höhenkamm der abendländischen Literatur. Der Ich-Erzähler ist ein Mann, der vom Wege abgekommen ist. Er verirrt sich in einem dunklen Wald und fühlt sich zugleich leer und voller Angst. Es ist allerdings ein sehr nordischer Kiefernwald in spätherbstlicher Dämmerung, das Auto des Mannes hat sich am Ende eines Waldweges festgefahren, die Nacht kommt, es beginnt heftig zu schneien.
Der Mann lässt das Auto stehen und dringt immer tiefer in den Wald ein, bis er völlig jede Orientierung verloren hat. Kälte und Dunkelheit ringsum, schwarzer Wald unter schwarzem Himmel. Der Mann friert und lauscht dem Nichts, und kein Vergil weit und breit, der ihm den Weg hinausweisen könnte.
Stattdessen geschieht ein Leuchten in der Finsternis. Erst nur ein weißer Umriss, dann eine Gestalt, „selbstleuchtend in ihrer Weißheit“ und „wundersam schön anzusehen“. Die Gestalt legt dem Mann die Hand auf die Schulter, „schwer und doch irgendwie leicht“. Wärme strahlt von ihr aus, der Mann friert nicht mehr. „Jau so war es.“ War diese Gestalt ein Mensch oder ein Gespenst? „Vielleicht, vielleicht, vielleicht war sie schlicht und einfach ein Engel, vielleicht ein von Gott gesandter Engel.“
Im Weiterirren hat der Mann das Gefühl, dass jemand neben oder hinter ihm geht. Auf die Fragen des Mannes antwortet dieser Jemand: „Ich bin, der ich bin.“ Doch ehe der Mann weiter darüber nachdenken kann, wo er diese Antwort schon mal gehört oder gelesen hat, nähern sich ihm neue Gestalten: „Jau, jau, vielleicht könnten es zwei Menschen sein, die da gegangen kommen.“
Hand in Hand erscheinen ein Mann und eine Frau: „Jau das ist ein älteres Ehepaar.“ Die beiden leuchten nicht, doch an der Art, wie die Frau mit dem Mann zankt, erkennt der Erzähler seine Eltern. Das Gekeife der Mutter stört ihn: „Ich möchte, dass es ganz still ist, ich möchte der Stille lauschen. In der Stille ist Gott zu hören. Jedenfalls hat das mal jemand so gesagt.“
Eine weitere Gestalt taucht plötzlich hinter den Bäumen auf: Ein Mann im schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzem Schlips steht barfuß im Schnee und schaut den Erzähler an: „Jau tut er.“ Auch die Eltern sind jetzt barfuß und kommen langsam auf den Erzähler zu: „Jau das tun sie.“ Jetzt fehlt nur noch der Leuchtengel von vorhin, und da ist er auch schon: „Jau, jau jetzt kann ich die weiße Gestalt wieder sehen.“ Die Gestalt ist da, aber sie ist auch „irgendwie nirgends, sie ist irgendwie nur um sie herum“.
Der Ensemble-Schluss der Erzählung steht dann stilistisch ganz im Zeichen des Irgendwie, in gezählt zwanzigfacher Wiederholung: „Alles ist irgendwie einfach nur da, es gibt irgendwie nichts mehr, eine Leere, ein Nichts.“ Allerdings ein leuchtendes, atmendes Nichts, das in atemlosem Gestammel sagbar gemacht werden soll, irgendwie. Der erste Verdacht, hier würden die Nahtod-Bücher der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross satirisch verulkt, erübrigt sich, denn Jon Fosse hat keinen Humor.
Einigen wir uns also auf einen Zwitter zwischen realistischer Albtraum-Erzählung einer nordischen Irrfahrt und christlicher Todes-Allegorie. Fosses Eigenbau-Abart von Écriture automatique zeigt sich hier seinem spirituellen Anspruch leider nicht gewachsen, denn diesen Text kennzeichnen besondere Ausdrucksdürftigkeit und Variationsarmut eines extrem begrenzten Vokabulars. Wenn Gotteserfahrung sich nicht anders ausdrücken lässt, wäre Atheismus allemal vorzuziehen.
SIGRID LÖFFLER
Diesen Text kennzeichnet
eine besondere
Ausdrucksdürftigkeit
Hier wurde Jon Fosse geboren, hier leben seine Romanfiguren: der Hardangerfjord in Norwegen.
Foto: Morten Rustad/Getty
Jon Fosse: Ein Leuchten. Erzählung. Aus dem
Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
80 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
auf 80 Seiten
Wem die Romane zu kolossal sind, kann es
erst mal mit der Erzählung „Ein Leuchten“ versuchen.
Seit der Norweger Jon Fosse zum neuen Literaturnobelpreisträger proklamiert wurde, wird sein Werk von allen Seiten mit Ehrfurcht gebietenden Rezeptionsanweisungen umstellt, nicht zuletzt vom Autor selbst, der sich nach seiner Konversion zum Katholizismus als religiöser Schriftsteller geoutet hat. Die Bedeutungsentleerung der Worte in der Liturgie habe es ihm besonders angetan, sagt er.
Und darum gehe es ihm in der Literatur: Schreiben als Gebet. Dem Unsagbaren eine Stimme verleihen. Stille als stummes Sprechen. Das stumme Sprechen hinter der geschriebenen Sprache herbeischreiben. Schreiben als ein in die Stille Hineinhören, sich Voranlauschen. Er schreibe einfach los, extrem schnell, ohne Plan, es sei ein Flow, sagt er.
All das findet sich komprimiert in Fosses Prosa-Hauptwerk, der mehr als tausendseitigen „Heptalogie“. Nicht jeder dürfte sich diesem Summum Opus auf Anhieb gewachsen fühlen. Wer diesen Haupteingang in Jon Fosses literarischen Kosmos scheut, der könnte einen Nebeneingang nehmen. Beispielsweise via „Ein Leuchten“. Dieser knapp 80-seitige Erzähltext ist eine Art Antichambre für unschlüssige Fosse-Novizen, die noch schwanken, ob sie das Innere des Hauptgebäudes betreten möchten oder eher nicht.
Gleich anfangs im Text geht’s ganz hoch hinauf – mit Dantes „Göttlicher Komödie“ auf den Höhenkamm der abendländischen Literatur. Der Ich-Erzähler ist ein Mann, der vom Wege abgekommen ist. Er verirrt sich in einem dunklen Wald und fühlt sich zugleich leer und voller Angst. Es ist allerdings ein sehr nordischer Kiefernwald in spätherbstlicher Dämmerung, das Auto des Mannes hat sich am Ende eines Waldweges festgefahren, die Nacht kommt, es beginnt heftig zu schneien.
Der Mann lässt das Auto stehen und dringt immer tiefer in den Wald ein, bis er völlig jede Orientierung verloren hat. Kälte und Dunkelheit ringsum, schwarzer Wald unter schwarzem Himmel. Der Mann friert und lauscht dem Nichts, und kein Vergil weit und breit, der ihm den Weg hinausweisen könnte.
Stattdessen geschieht ein Leuchten in der Finsternis. Erst nur ein weißer Umriss, dann eine Gestalt, „selbstleuchtend in ihrer Weißheit“ und „wundersam schön anzusehen“. Die Gestalt legt dem Mann die Hand auf die Schulter, „schwer und doch irgendwie leicht“. Wärme strahlt von ihr aus, der Mann friert nicht mehr. „Jau so war es.“ War diese Gestalt ein Mensch oder ein Gespenst? „Vielleicht, vielleicht, vielleicht war sie schlicht und einfach ein Engel, vielleicht ein von Gott gesandter Engel.“
Im Weiterirren hat der Mann das Gefühl, dass jemand neben oder hinter ihm geht. Auf die Fragen des Mannes antwortet dieser Jemand: „Ich bin, der ich bin.“ Doch ehe der Mann weiter darüber nachdenken kann, wo er diese Antwort schon mal gehört oder gelesen hat, nähern sich ihm neue Gestalten: „Jau, jau, vielleicht könnten es zwei Menschen sein, die da gegangen kommen.“
Hand in Hand erscheinen ein Mann und eine Frau: „Jau das ist ein älteres Ehepaar.“ Die beiden leuchten nicht, doch an der Art, wie die Frau mit dem Mann zankt, erkennt der Erzähler seine Eltern. Das Gekeife der Mutter stört ihn: „Ich möchte, dass es ganz still ist, ich möchte der Stille lauschen. In der Stille ist Gott zu hören. Jedenfalls hat das mal jemand so gesagt.“
Eine weitere Gestalt taucht plötzlich hinter den Bäumen auf: Ein Mann im schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarzem Schlips steht barfuß im Schnee und schaut den Erzähler an: „Jau tut er.“ Auch die Eltern sind jetzt barfuß und kommen langsam auf den Erzähler zu: „Jau das tun sie.“ Jetzt fehlt nur noch der Leuchtengel von vorhin, und da ist er auch schon: „Jau, jau jetzt kann ich die weiße Gestalt wieder sehen.“ Die Gestalt ist da, aber sie ist auch „irgendwie nirgends, sie ist irgendwie nur um sie herum“.
Der Ensemble-Schluss der Erzählung steht dann stilistisch ganz im Zeichen des Irgendwie, in gezählt zwanzigfacher Wiederholung: „Alles ist irgendwie einfach nur da, es gibt irgendwie nichts mehr, eine Leere, ein Nichts.“ Allerdings ein leuchtendes, atmendes Nichts, das in atemlosem Gestammel sagbar gemacht werden soll, irgendwie. Der erste Verdacht, hier würden die Nahtod-Bücher der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross satirisch verulkt, erübrigt sich, denn Jon Fosse hat keinen Humor.
Einigen wir uns also auf einen Zwitter zwischen realistischer Albtraum-Erzählung einer nordischen Irrfahrt und christlicher Todes-Allegorie. Fosses Eigenbau-Abart von Écriture automatique zeigt sich hier seinem spirituellen Anspruch leider nicht gewachsen, denn diesen Text kennzeichnen besondere Ausdrucksdürftigkeit und Variationsarmut eines extrem begrenzten Vokabulars. Wenn Gotteserfahrung sich nicht anders ausdrücken lässt, wäre Atheismus allemal vorzuziehen.
SIGRID LÖFFLER
Diesen Text kennzeichnet
eine besondere
Ausdrucksdürftigkeit
Hier wurde Jon Fosse geboren, hier leben seine Romanfiguren: der Hardangerfjord in Norwegen.
Foto: Morten Rustad/Getty
Jon Fosse: Ein Leuchten. Erzählung. Aus dem
Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
80 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Fosses nobelpreiswürdige Seelenkunde hat einen starken metaphysischen Sog. Katharina Teutsch Die Zeit 20231214