Martin Walsers Roman über Goethes letzte Liebe - vielleicht sein größter überhaupt
Der 73-jährige Goethe - Witwer und so berühmt, dass sein Diener Stadelmann heimlich Haare von ihm verkauft - liebt die 19-jährige Ulrike von Levetzow. 1823 in Marienbad werden Blicke getauscht, Worte gewechselt, die beiden küssen einander auf die Goethe’sche Art. Er sagt: Beim Küssen kommt es nicht auf die Münder, die Lippen an, sondern auf die Seelen. «Das war sein Zustand: Ulrike oder nichts.» Aber sein Alter holt ihn ein. Auf einem Kostümball stürzt er, und bei einem Tanztee will sie ein Jüngerer verführen. Der Heiratsantrag, den er Ulrike trotzdem macht, erreicht sie erst, als ihre Mutter mit ihr nach Karlsbad weiterreisen will. Goethe, mal hoffend, mal verzweifelnd, schreibt die «Marienbader Elegie». Zurück in Weimar, lässt ihn die eifersüchtige Schwiegertochter Ottilie nicht mehr aus den Augen. Martin Walsers neuer Roman erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe: bewegend, aufwühlend und zart. Die Glaubwürdigkeit, die Wucht der Empfindungen und ihres Ausdrucks - das alles zeugt von einer Kraft und (Sprach-)Leidenschaft ohne Beispiel.
Der 73-jährige Goethe - Witwer und so berühmt, dass sein Diener Stadelmann heimlich Haare von ihm verkauft - liebt die 19-jährige Ulrike von Levetzow. 1823 in Marienbad werden Blicke getauscht, Worte gewechselt, die beiden küssen einander auf die Goethe’sche Art. Er sagt: Beim Küssen kommt es nicht auf die Münder, die Lippen an, sondern auf die Seelen. «Das war sein Zustand: Ulrike oder nichts.» Aber sein Alter holt ihn ein. Auf einem Kostümball stürzt er, und bei einem Tanztee will sie ein Jüngerer verführen. Der Heiratsantrag, den er Ulrike trotzdem macht, erreicht sie erst, als ihre Mutter mit ihr nach Karlsbad weiterreisen will. Goethe, mal hoffend, mal verzweifelnd, schreibt die «Marienbader Elegie». Zurück in Weimar, lässt ihn die eifersüchtige Schwiegertochter Ottilie nicht mehr aus den Augen. Martin Walsers neuer Roman erzählt die Geschichte einer unmöglichen Liebe: bewegend, aufwühlend und zart. Die Glaubwürdigkeit, die Wucht der Empfindungen und ihres Ausdrucks - das alles zeugt von einer Kraft und (Sprach-)Leidenschaft ohne Beispiel.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Tief bewegt zeigt sich Joachim Kaiser über den Roman eines berühmten alten Mannes über einen anderen berühmten alten Mann. Martin Walsers Goethe-Roman steckt für ihn übervoll mit "Erstaunlichem". Und ist gar nicht peinlich, wie Kaiser versichert, sondern anmutig in der Schilderung von Goethes später "Liebes-Passion" zu Ulrike von Levetzow. Walsers Sprachgewalt findet Kaiser hier auf ihrem Höhepunkt, die Darstellung inspirierter noch als in Thomas Manns "Lotte". So "authentisch geglückt" Goethes Passion durch "lebendigstes Zeitkolorit" und "Dichter-Gescheitheit" dem Rezensenten auch erscheint, so eindeutig ist es für ihn eine Schöpfung "Walser'scher Spiritualität, Bilder- und Übertreibungsfülle". Gut so, meint Kaiser, der dem Autor "sprachliche Anachronismen" und eine, wie er zu denken gibt, nicht unproplematische Drift hin zum "grimmigen Goethe-Essay" im Schlussteil durchgehen lässt. Lieber als ödes Historisieren ist Kaiser das allemal, zumal der Stil des Meisters eh "unerfindbar, unnachahmlich" sei.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2008Augenkraft, die nichts verbergen kann
Lieben, ohne geliebt zu werden, das dürfte es nicht geben: "Ein liebender Mann", Martin Walsers neuer Roman über die letzte Leidenschaft Johann Wolfgang von Goethes, als Vorabdruck in der F.A.Z.
Der Umstand, dass Männer gern die erste Liebe einer Frau und Frauen die letzte große Liebe eines Mannes sein wollen, hat schon zu vielen Tragödien geführt, im Leben wie in der Literatur. Cervantes, Italo Svevo und Nabokov haben uns Lieben mit Altersgefälle vorgeführt, gerade hat Philip Roth in "Exit Ghost" eindringlich gezeigt, wie eine junge Frau mit dem Anbranden verzweifelter Hoffnung umzugehen versteht, und auch Martin Walser hat die berauschende Wirkung unbekümmert junger Weiblichkeit auf ältere Herren schon einige Male untersucht. Dass sich erfolgreiche Männer mit jungen Frauen belohnen, ist allenthalben zu beobachten: ein ewiges Phänomen der Natur, ein großes Thema der Gegenwart.
Goethe war dank lebhafter Praxis mit Marianne von Willemer, Sylvie von Ziegesar, Bettina Brentano und nicht zuletzt seiner Frau Christiane Experte, was den Umgang mit junger Muse angeht, und begegnete dem Problem im "Mann von fünfzig Jahren" tragikomisch-offensiv. Doch erst jetzt, zweihundert Jahre später, erfährt er am eigenen Leib, was er damals angerichtet hat: "Du hast noch nie, nie, nie gelitten. Bis jetzt waren es immer die anderen, die gelitten haben." Ausgerechnet Martin Walser schenkt seinem "Literaturheiligen" Goethe einen Roman als Wiedergutmachung: "Ein Roman, den ihm keiner und keine streitig machen konnte. Ein Roman, der Ulrike und ihn legitimierte. Nicht nur in Weimar. In der Welt. Der Titel stand sofort auf dem Blatt: Ein liebender Mann".
"Ein liebender Mann", den wir von heute an im Feuilleton abdrucken, ist trotz seines Helden kein Goethe-, sondern ein Walser-Roman geworden, der zarteste, unerbittlichste und versöhnlichste, den er geschrieben hat. Zugleich ist es der Triumphzug einer Wahlverwandtschaft, denn so, wie Goethe sich in seiner "Marienbader Elegie" schonungslos Rechenschaft ablegt über seine Liebe zu Ulrike von Levetzow, befragt sich hier auch Walser, getreu seinem früheren Bekenntnis, jedes seiner Bücher sei für ihn "eine Art Schaufel, mit der ich mich selbst umgrabe".
Sommer des Jahres 1823. Goethe, den besorgte Weimarer Zeitgenossen noch im Februar des Jahres dem Tod nahe gesehen hatten, ist nach Marienbad gereist, wo er, wie schon in den Jahren zuvor, auch auf Amalie von Levetzow und ihre Töchter trifft. Doch diesmal steht ihm der Sinn weniger nach der ansehnlichen und geistreichen Gesellschaft des ganzen Quartetts als ausschließlich und umfassend nach jener der Ältesten, Ulrike. Bestürzt, berückt, erfährt er die Wirkung der einzigen Waffe, die erlaubt ist: Amors Pfeil.
Walser erzählt diese Liebesgeschichte als ein Blickfeuer, das mit dem ersten Satz Glut erzeugt: "Als er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen." Und fährt fort, uns den darauf folgenden Flirt als den eines Paares auf Augenhöhe zu schildern. Ulrikes "steter Blick" bleibt in seinem und verwandelt ihn, den Mineraliensucher, in einen Augenforscher. Da wird geschaut, dass einem die Augen übergehen: "Jetzt Ulrikes Augenkraft. Diese nichts verbergen könnenden Augen . . . Für ihn waren es erzählerische Augen." Überhaupt ist diese Ulrike ein fabelschönes Wesen: hübsch, aber nicht gekünstelt; geistreich mit einem Stick ins Kecke, aber nicht vorlaut; kokett, aber nicht eitel. Mit ihren neunzehn Jahren hat sie nichts Kindliches mehr an sich, sondern erscheint nicht nur Walsers Goethe, sondern auch dem Leser als selbstbewusste, im Urteil erstaunlich unabhängige junge Frau, die sich nicht an die eheerfahrene schöne Mutter hält, als der große Dichter ihr seine Zuneigung immer unverhohlener zeigt. Im Gegenteil: Das nur für die tuschelnden Außenstehenden so ungleiche Paar genießt es, sich miteinander zu zeigen. Jeder für den anderen eine Trophäe, sie bei ihm untergehakt, promenieren sie stundenlang.
Doch so glänzend Walser dieses Porträt einer bemerkenswerten jungen Frau auch gelungen ist - Goethe ist es, den er sich anverwandelt. Im Schatten junger Mädchenblüte wird der einstige Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters zu einem heroisch Liebenden: Goethe in love. Gerade er, der schon so oft so gut im Liebesentzug war, fällt nun ausgerechnet im Alter von dreiundsiebzig Jahren in dieses Gefühl hinein wie in einen Honigtopf. Und suhlt sich noch im Schmerz.
Das ist, vergegenwärtigt man sich die "Marienbader Elegie", die wir heute auf unserer letzten Feuilletonseite abdrucken, keinesfalls Walsersche Übertreibung. Den ersten Entwurf des Gedichts schrieb Goethe in der Kutsche nieder, die ihn von den böhmischen Bädern, den Orten seiner Niederlage, zurück nach Weimar brachte, mit Bleistift - und wer dieses Dokument, einen der Schätze des Freien Deutsche Hochstifts in Frankfurt, betrachtet, mag erahnen, was für schwere Stunden diese Verse hervorgebracht haben.
Walser hat diesen für seine Verhältnisse eher schmalen Roman ungewohnt streng komponiert. Im ersten Teil bangt man mit dem himmelhoch jauchzenden Goethe, im zweiten leidet man mit dem zu Tode betrübten. Grandios, wie Walser den Dichter entgegen aller Wahrscheinlichkeit Mut fassen lässt, als sein Arzt eine dreißig Jahre Jüngere heiratet; wie er von Sorglosigkeit erfasst wird auf einem Kostümball, da Ulrike als Lotte und Goethe als Werther auftreten. Ohne Absprache ist es zu dieser Rollenverteilung gekommen, und Goethe tanzt im Glück: "Und noch nie, seit sie sich kannten, waren sie gleich alt gewesen. Jetzt waren sie's." Doch die erhebende Zuversicht, dass seine Gefühle erwidert werden könnten, ist nicht von Dauer. "Lieben, ohne geliebt zu werden, das dürfte es nicht geben. Diesen gemeinsten Schicksalspfusch hatte er noch nicht erfahren gehabt, dafür wurde Ulrike von Levetzow geboren und gebildet."
Als "Tagebuch innerer Zustände" hat Goethe seine Elegie einmal bezeichnet, und das entspricht auch Walsers "Liebendem Mann". Dass er aus den Quellen schöpft und allenthalben Bezüge zwischen Werk und Autor unterbringt, wie etwa Goethes entsetzliches Leiden an einer prominenten Zahnlücke, die er selbst zuvor dem Major im "Mann von fünfzig Jahren" hatte angedeihen lassen, kann bei einem Schriftsteller dieses Kalibers nicht erstaunen. Erstaunen auch nicht, dass er keine Hemmungen hat, Goethe als Folie einer Abrechnung mit sich selbst zu benutzen. Denn Walser wäre nicht Walser, mutig weit über die Grenzen des Üblichen und Schicklichen hinaus, wäre "Ein liebender Mann" auch nur der angedeutete Versuch, eine "Lotte in Weimar" für unsere Zeit zu schaffen. So wenig wie Daniel Kehlmann mit "Die Vermessung der Welt" einen historischen Roman geschrieben hat, hat es Walser mit "Ein liebender Mann" getan. Wie er Goethe auftreten, reden, nachdenken, sich betrachten lässt, erinnert eher an Kehlmann als an Thomas Mann. Es ist jedoch purer, reiner, beglückender Walser-Sound: "Daran, dass man alt wird, stirbt man nicht. Schreib's auf. Schlimm ist, nicht mehr lieben zu dürfen. Lieben darfst du noch, du musst dich nur daran gewöhnen, nicht mehr, nie mehr geliebt zu werden."
Anders als "Lotte in Weimar" atmet "Ein liebender Mann" nichts Lustspielhaftes. Hier ist nicht die Dichtung groß und die Wirklichkeit klein, sondern hier ist alles groß, weil real. Walser geht es nicht darum, Goethe aufzuwärmen, sondern um einen Modellfall von Liebe. Jene der bittersten Art: unerwiderte. Und um einen Modellfall von Leben: Alter. Wie Goethe einmal Ulrikes Blicke im Rücken spürt, als sich ihre Wege trennen und er hin- und hergerissen ist zwischen der Angst, dass sie ihm nachschauen und seinen Gang und seine Haltung alt finden könnte, und der Furcht, dass sie ihm womöglich gar nicht nachsehen könne, ist von einer Wucht, wie sie Walser kein junger deutscher Schriftsteller nachmacht, und auch kein älterer.
Ulrike von Levetzow war Goethes letzte Liebe. Dass er ihre erste oder ihre einzige war, ja dass er überhaupt eine Liebe für sie war, hat sie bis zu ihrem Tod 1899 stets abgestritten. Dass sie dennoch unverheiratet blieb, könnte, Walser zufolge, auch mit ihrer Skepsis gegenüber dem Ehestand zusammenhängen. Die Goethe teilt: "Die Ehe ist nur da notwendig, wo einer der beiden es weniger ernst meint als der andere." Trotzdem lässt er sich zu einem Antrag in aller Förmlichkeit hinreißen - der abschlägig beschieden wird.
Am Boden der Hoffnung aber ist Poesie. Was Wilhelm von Humboldt, den Goethe zum allerersten Leser der "Elegie" erkor, seiner Frau schrieb, gilt auch für Walsers Roman: "Es erreicht nicht nur das Schönste, was er je gemacht hat, sondern übertrifft es vielleicht, weil es die Frische der Phantasie, wie er sie nur je hatte, mit der künstlerischen Vollendung verbindet, die doch nur langer Erfahrung eigen ist." Vom kommenden Montag an werden wir dem leidenschaftlich rührenden Buch von Walser einen Reading Room im Internet widmen, der den Roman durch Artikel, Kommentare und Diskussionen zwischen Literaturwissenschaftlern wie Thomas Anz, Friedemann Bedürftig, Wolfgang Frühwald, Helmuth Kiesel und Bernhard Schäfer und seinen Lesern substantiell ergänzt.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lieben, ohne geliebt zu werden, das dürfte es nicht geben: "Ein liebender Mann", Martin Walsers neuer Roman über die letzte Leidenschaft Johann Wolfgang von Goethes, als Vorabdruck in der F.A.Z.
Der Umstand, dass Männer gern die erste Liebe einer Frau und Frauen die letzte große Liebe eines Mannes sein wollen, hat schon zu vielen Tragödien geführt, im Leben wie in der Literatur. Cervantes, Italo Svevo und Nabokov haben uns Lieben mit Altersgefälle vorgeführt, gerade hat Philip Roth in "Exit Ghost" eindringlich gezeigt, wie eine junge Frau mit dem Anbranden verzweifelter Hoffnung umzugehen versteht, und auch Martin Walser hat die berauschende Wirkung unbekümmert junger Weiblichkeit auf ältere Herren schon einige Male untersucht. Dass sich erfolgreiche Männer mit jungen Frauen belohnen, ist allenthalben zu beobachten: ein ewiges Phänomen der Natur, ein großes Thema der Gegenwart.
Goethe war dank lebhafter Praxis mit Marianne von Willemer, Sylvie von Ziegesar, Bettina Brentano und nicht zuletzt seiner Frau Christiane Experte, was den Umgang mit junger Muse angeht, und begegnete dem Problem im "Mann von fünfzig Jahren" tragikomisch-offensiv. Doch erst jetzt, zweihundert Jahre später, erfährt er am eigenen Leib, was er damals angerichtet hat: "Du hast noch nie, nie, nie gelitten. Bis jetzt waren es immer die anderen, die gelitten haben." Ausgerechnet Martin Walser schenkt seinem "Literaturheiligen" Goethe einen Roman als Wiedergutmachung: "Ein Roman, den ihm keiner und keine streitig machen konnte. Ein Roman, der Ulrike und ihn legitimierte. Nicht nur in Weimar. In der Welt. Der Titel stand sofort auf dem Blatt: Ein liebender Mann".
"Ein liebender Mann", den wir von heute an im Feuilleton abdrucken, ist trotz seines Helden kein Goethe-, sondern ein Walser-Roman geworden, der zarteste, unerbittlichste und versöhnlichste, den er geschrieben hat. Zugleich ist es der Triumphzug einer Wahlverwandtschaft, denn so, wie Goethe sich in seiner "Marienbader Elegie" schonungslos Rechenschaft ablegt über seine Liebe zu Ulrike von Levetzow, befragt sich hier auch Walser, getreu seinem früheren Bekenntnis, jedes seiner Bücher sei für ihn "eine Art Schaufel, mit der ich mich selbst umgrabe".
Sommer des Jahres 1823. Goethe, den besorgte Weimarer Zeitgenossen noch im Februar des Jahres dem Tod nahe gesehen hatten, ist nach Marienbad gereist, wo er, wie schon in den Jahren zuvor, auch auf Amalie von Levetzow und ihre Töchter trifft. Doch diesmal steht ihm der Sinn weniger nach der ansehnlichen und geistreichen Gesellschaft des ganzen Quartetts als ausschließlich und umfassend nach jener der Ältesten, Ulrike. Bestürzt, berückt, erfährt er die Wirkung der einzigen Waffe, die erlaubt ist: Amors Pfeil.
Walser erzählt diese Liebesgeschichte als ein Blickfeuer, das mit dem ersten Satz Glut erzeugt: "Als er sie sah, hatte sie ihn schon gesehen." Und fährt fort, uns den darauf folgenden Flirt als den eines Paares auf Augenhöhe zu schildern. Ulrikes "steter Blick" bleibt in seinem und verwandelt ihn, den Mineraliensucher, in einen Augenforscher. Da wird geschaut, dass einem die Augen übergehen: "Jetzt Ulrikes Augenkraft. Diese nichts verbergen könnenden Augen . . . Für ihn waren es erzählerische Augen." Überhaupt ist diese Ulrike ein fabelschönes Wesen: hübsch, aber nicht gekünstelt; geistreich mit einem Stick ins Kecke, aber nicht vorlaut; kokett, aber nicht eitel. Mit ihren neunzehn Jahren hat sie nichts Kindliches mehr an sich, sondern erscheint nicht nur Walsers Goethe, sondern auch dem Leser als selbstbewusste, im Urteil erstaunlich unabhängige junge Frau, die sich nicht an die eheerfahrene schöne Mutter hält, als der große Dichter ihr seine Zuneigung immer unverhohlener zeigt. Im Gegenteil: Das nur für die tuschelnden Außenstehenden so ungleiche Paar genießt es, sich miteinander zu zeigen. Jeder für den anderen eine Trophäe, sie bei ihm untergehakt, promenieren sie stundenlang.
Doch so glänzend Walser dieses Porträt einer bemerkenswerten jungen Frau auch gelungen ist - Goethe ist es, den er sich anverwandelt. Im Schatten junger Mädchenblüte wird der einstige Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters zu einem heroisch Liebenden: Goethe in love. Gerade er, der schon so oft so gut im Liebesentzug war, fällt nun ausgerechnet im Alter von dreiundsiebzig Jahren in dieses Gefühl hinein wie in einen Honigtopf. Und suhlt sich noch im Schmerz.
Das ist, vergegenwärtigt man sich die "Marienbader Elegie", die wir heute auf unserer letzten Feuilletonseite abdrucken, keinesfalls Walsersche Übertreibung. Den ersten Entwurf des Gedichts schrieb Goethe in der Kutsche nieder, die ihn von den böhmischen Bädern, den Orten seiner Niederlage, zurück nach Weimar brachte, mit Bleistift - und wer dieses Dokument, einen der Schätze des Freien Deutsche Hochstifts in Frankfurt, betrachtet, mag erahnen, was für schwere Stunden diese Verse hervorgebracht haben.
Walser hat diesen für seine Verhältnisse eher schmalen Roman ungewohnt streng komponiert. Im ersten Teil bangt man mit dem himmelhoch jauchzenden Goethe, im zweiten leidet man mit dem zu Tode betrübten. Grandios, wie Walser den Dichter entgegen aller Wahrscheinlichkeit Mut fassen lässt, als sein Arzt eine dreißig Jahre Jüngere heiratet; wie er von Sorglosigkeit erfasst wird auf einem Kostümball, da Ulrike als Lotte und Goethe als Werther auftreten. Ohne Absprache ist es zu dieser Rollenverteilung gekommen, und Goethe tanzt im Glück: "Und noch nie, seit sie sich kannten, waren sie gleich alt gewesen. Jetzt waren sie's." Doch die erhebende Zuversicht, dass seine Gefühle erwidert werden könnten, ist nicht von Dauer. "Lieben, ohne geliebt zu werden, das dürfte es nicht geben. Diesen gemeinsten Schicksalspfusch hatte er noch nicht erfahren gehabt, dafür wurde Ulrike von Levetzow geboren und gebildet."
Als "Tagebuch innerer Zustände" hat Goethe seine Elegie einmal bezeichnet, und das entspricht auch Walsers "Liebendem Mann". Dass er aus den Quellen schöpft und allenthalben Bezüge zwischen Werk und Autor unterbringt, wie etwa Goethes entsetzliches Leiden an einer prominenten Zahnlücke, die er selbst zuvor dem Major im "Mann von fünfzig Jahren" hatte angedeihen lassen, kann bei einem Schriftsteller dieses Kalibers nicht erstaunen. Erstaunen auch nicht, dass er keine Hemmungen hat, Goethe als Folie einer Abrechnung mit sich selbst zu benutzen. Denn Walser wäre nicht Walser, mutig weit über die Grenzen des Üblichen und Schicklichen hinaus, wäre "Ein liebender Mann" auch nur der angedeutete Versuch, eine "Lotte in Weimar" für unsere Zeit zu schaffen. So wenig wie Daniel Kehlmann mit "Die Vermessung der Welt" einen historischen Roman geschrieben hat, hat es Walser mit "Ein liebender Mann" getan. Wie er Goethe auftreten, reden, nachdenken, sich betrachten lässt, erinnert eher an Kehlmann als an Thomas Mann. Es ist jedoch purer, reiner, beglückender Walser-Sound: "Daran, dass man alt wird, stirbt man nicht. Schreib's auf. Schlimm ist, nicht mehr lieben zu dürfen. Lieben darfst du noch, du musst dich nur daran gewöhnen, nicht mehr, nie mehr geliebt zu werden."
Anders als "Lotte in Weimar" atmet "Ein liebender Mann" nichts Lustspielhaftes. Hier ist nicht die Dichtung groß und die Wirklichkeit klein, sondern hier ist alles groß, weil real. Walser geht es nicht darum, Goethe aufzuwärmen, sondern um einen Modellfall von Liebe. Jene der bittersten Art: unerwiderte. Und um einen Modellfall von Leben: Alter. Wie Goethe einmal Ulrikes Blicke im Rücken spürt, als sich ihre Wege trennen und er hin- und hergerissen ist zwischen der Angst, dass sie ihm nachschauen und seinen Gang und seine Haltung alt finden könnte, und der Furcht, dass sie ihm womöglich gar nicht nachsehen könne, ist von einer Wucht, wie sie Walser kein junger deutscher Schriftsteller nachmacht, und auch kein älterer.
Ulrike von Levetzow war Goethes letzte Liebe. Dass er ihre erste oder ihre einzige war, ja dass er überhaupt eine Liebe für sie war, hat sie bis zu ihrem Tod 1899 stets abgestritten. Dass sie dennoch unverheiratet blieb, könnte, Walser zufolge, auch mit ihrer Skepsis gegenüber dem Ehestand zusammenhängen. Die Goethe teilt: "Die Ehe ist nur da notwendig, wo einer der beiden es weniger ernst meint als der andere." Trotzdem lässt er sich zu einem Antrag in aller Förmlichkeit hinreißen - der abschlägig beschieden wird.
Am Boden der Hoffnung aber ist Poesie. Was Wilhelm von Humboldt, den Goethe zum allerersten Leser der "Elegie" erkor, seiner Frau schrieb, gilt auch für Walsers Roman: "Es erreicht nicht nur das Schönste, was er je gemacht hat, sondern übertrifft es vielleicht, weil es die Frische der Phantasie, wie er sie nur je hatte, mit der künstlerischen Vollendung verbindet, die doch nur langer Erfahrung eigen ist." Vom kommenden Montag an werden wir dem leidenschaftlich rührenden Buch von Walser einen Reading Room im Internet widmen, der den Roman durch Artikel, Kommentare und Diskussionen zwischen Literaturwissenschaftlern wie Thomas Anz, Friedemann Bedürftig, Wolfgang Frühwald, Helmuth Kiesel und Bernhard Schäfer und seinen Lesern substantiell ergänzt.
FELICITAS VON LOVENBERG
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Tief bewegt zeigt sich Joachim Kaiser über den Roman eines berühmten alten Mannes über einen anderen berühmten alten Mann. Martin Walsers Goethe-Roman steckt für ihn übervoll mit "Erstaunlichem". Und ist gar nicht peinlich, wie Kaiser versichert, sondern anmutig in der Schilderung von Goethes später "Liebes-Passion" zu Ulrike von Levetzow. Walsers Sprachgewalt findet Kaiser hier auf ihrem Höhepunkt, die Darstellung inspirierter noch als in Thomas Manns "Lotte". So "authentisch geglückt" Goethes Passion durch "lebendigstes Zeitkolorit" und "Dichter-Gescheitheit" dem Rezensenten auch erscheint, so eindeutig ist es für ihn eine Schöpfung "Walser'scher Spiritualität, Bilder- und Übertreibungsfülle". Gut so, meint Kaiser, der dem Autor "sprachliche Anachronismen" und eine, wie er zu denken gibt, nicht unproplematische Drift hin zum "grimmigen Goethe-Essay" im Schlussteil durchgehen lässt. Lieber als ödes Historisieren ist Kaiser das allemal, zumal der Stil des Meisters eh "unerfindbar, unnachahmlich" sei.
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