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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2013

Vergessen, um weiterleben zu können

Eva Szepesi wurde vor 68 Jahren aus Auschwitz befreit. Lange konnte sie nicht über ihre Erlebnisse sprechen. Erst ein Besuch in der Gedenkstätte gab ihr die Kraft dazu.

Von Canan Topcu

Deutsch spricht Eva Szepesi mit Akzent: Sie rollt das "R" so, wie sie es von ihrer ungarischen Muttersprache gewöhnt ist. Mit ihrer wohlklingenden Stimme nimmt sie ihre Zuhörer mit in die Vergangenheit, in die Zeit, die sie sehr lange ausgeblendet hatte. Wenn Szepesi von ihren Erlebnissen berichtet, dann gerät sie immer wieder ins Stocken. Sie sucht nach Worten, kämpft gegen die Tränen und bewahrt doch Contenance.

Szepesi hat aschblondes Haar und ist sportlich-elegant gekleidet. Sie ist eine alte Dame, der das Alter nicht anzusehen ist. Im vergangenen Herbst sei sie 80 Jahre alt geworden, verrät sie. Wäre da nicht die eintätowierte Nummer auf ihrem Unterarm, deutete äußerlich nichts auf das hin, was ihr Leben bis heute prägt.

Eva Szepesi ist eine Auschwitz-Überlebende. Sie gehörte zu den etwa 400 Kindern, die am 27. Januar 1945 aus dem Konzentrationslager befreit wurden. "Ich konnte über die Zeit vor der Deportation, die Erlebnisse im Lager und die Monate nach der Befreiung lange nicht sprechen", sagt Szepesi. Verdrängen, vergessen, das war für sie - wie für viele Überlebende des Holocaust - die einzige Möglichkeit, den Alltag zu bewältigen und so etwas wie Normalität leben zu können. "Zwar wussten mein Mann und meine Töchter, dass ich in Auschwitz gewesen war, sehr viel mehr aber nicht." Es gab eine unsichtbare Grenze, die von ihrer Familie nicht überschritten wurde - aus Respekt und Scham, aber auch aus Angst vor unvorhersehbaren Folgen.

Heute spricht Eva Szepesi als Zeitzeugin vor Publikum. Sie berichtet Erwachsenen und vor allem Jugendlichen von ihrer Kindheit in Ungarn, von der Flucht als Zwölfjährige in die Slowakei, von der Deportation nach Auschwitz und auch von ihrer Heimkehr nach Budapest. An vieles kann sie sich inzwischen wieder erinnern. Es gibt aber immer noch eine Lücke im Gedächtnis: Die Tage vor und nach der Befreiung am 27. Januar 1945, sie fehlen ihr bis heute.

In Frankfurt lebt Eva Szepesi seit fast 60 Jahren, seit vier Jahrzehnten in derselben Wohnung im Dornbusch, die sie sich neuerdings mit ihrer Tochter Judith teilt. Das Viertel ist der gebürtigen Ungarin zwar nicht zur Heimat, aber zu einem vertrauten Ort geworden. Nicht weit von ihr wohnt Tochter Anita mit ihrer Familie.

Eigentlich sollte es kein Ortswechsel für immer sein, als Eva und Andor Szepesi sich Mitte der fünfziger Jahre in Frankfurt eine Wohnung einrichteten. Doch nach dem ungarischen Volksaufstand im Jahr 1956 beschloss das Ehepaar hierzubleiben. Eva Szepesi war 1955 mit dem gerade einmal drei Jahre alten Töchterchen Judith ihrem Mann an den Main gefolgt. Kennengelernt und geheiratet hatte sie ihn in Budapest. "Andor war Kürschner, wurde aber als Mitarbeiter der ungarischen Handelsvertretung nach Frankfurt entsandt", erzählt sie.

In Frankfurt führte die Familie zunächst ein finanziell sicheres Leben. Das änderte sich, als Andor Szepesi gekündigt wurde. Mit Näharbeiten verdiente Eva, die in Budapest Schneiderin war, das Geld für den Familienunterhalt. Anfang der siebziger Jahre machte ihr Mann seinen Traum war: Er eröffnete ein Pelzgeschäft an der Eschersheimer Landstraße, sie unterstützte ihn. Das Geschäft gibt es noch heute, die jüngste Tochter hat es übernommen. Allzu viel Zeit zum Nachdenken habe sie damals nicht gehabt, sagt Eva Szepesi. "Ich war mit dem Haushalt, der Arbeit im Geschäft und meinen beiden Töchtern Judith und Anita gut beschäftigt."

Wäre da nicht diese Einladung nach Polen gewesen und hätten ihre Töchter sie nicht ermutigt, die Reise anzutreten, dann hätte die Holocaust-Überlebende ihr Schweigen vielleicht noch immer nicht gebrochen. Die Shoah Foundation lud Eva Szepesi aus Anlass des 50. Jahrestags der Befreiung nach Auschwitz ein. Nach der Gedenkfeier wollten Mitarbeiter des Regisseurs Steven Spielberg mit ihr ein Interview führen. Am Abend im Hotel, noch vor den offiziellen Termin, saß Eva Szepesi mit ihren Töchtern und einer Gruppe von Jugendlichen aus Frankfurt zusammen. Benny Bloch, Leiter der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, war auch dabei. Eva Szepesi erinnert sich daran, wie Bloch sie ansprach und bat, von ihrer Kindheit und über ihr Leben zu berichten.

"Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber ich begann zu erzählen." Von ihrer Kindheit in Ungarn, von ihrer Mutter, die sie im Frühjahr 1944 mit einer Tante in die Slowakei geschickt und ihr vorher versprochen hatte, dass sie mit dem Bruder nachkommen werde. Und sie erzählte davon, dass sie nicht nachgekommen waren. "Jahre später erst erfuhr ich, dass auch sie nach Auschwitz deportiert worden waren und nicht überlebt hatten."

Auf der Reise zur Gedenkstätte in Auschwitz seien Erinnerungen hochgekommen, und ihr sei klargeworden, dass sie sich ihrer Geschichte aussetzen müsse, sagt Szepesi heute. Sie suchte dafür den Weg über das Schreiben - was ihr aber nicht leichtfiel, zumal sie ihre Erlebnisse auf Deutsch schildern wollte. Sie besuchte ein Schreibseminar und setzte sich immer wieder an ihre Notizen.

Im Frühjahr 2011 schließlich erschienen ihre Aufzeichnungen als Buch. Der Titel: "Ein Mädchen allein auf der Flucht". Für die Holocaust-Überlebende war das Schreiben eine Form der Therapie. Ihre Töchter und ihre Enkelkinder wissen nun um ihr Leid. Ihr Mann hingegen erfuhr davon nicht mehr. Er starb zwei Jahre bevor Eva Szepesi zu sprechen begann. Sie sagt: "Ich bedauere das sehr."

Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, veranstaltet die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Schwalbach eine Lesung mit Eva Szepesi. Beginn ist um 19.30 Uhr in der Stadtbücherei, Marktplatz 15.

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