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In einer faszinierenden Spurensuche wird hier erstmals die unglaubliche Geschichte der Familie Gerhard Richters enthüllt- eine Geschichte, die drei Deutschlands umspannt und in der sich die Lebensläufe von Opfern und Tätern auf dramatische Weise kreuzen.

Produktbeschreibung
In einer faszinierenden Spurensuche wird hier erstmals die unglaubliche Geschichte der Familie Gerhard Richters enthüllt- eine Geschichte, die drei Deutschlands umspannt und in der sich die Lebensläufe von Opfern und Tätern auf dramatische Weise kreuzen.
Autorenporträt
Jürgen Schreiber, geboren 1947, preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor, war bis 2007 Chefreporter beim Tagesspiegel. Er schrieb für das SZ-Magazin, die Stuttgarter Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Schreiber war Gründungsmitglied von Die Woche und erhielt zweimal den Wächter-Preis der deutschen Presse sowie 1991 den Theodor-Wolff-Preis. Bisher sind zwei Bücher von ihm erschienen Ein Maler aus Deutschland, 2005, und Meine Jahre mit Joschka, 2007.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Wie ein Requiem vom Ende einer humanen Welt
Atemlose Spannung: Jürgen Schreibers brillante Biographie des Malers Gerhard Richter / Von Eduard Beaucamp

Spätestens seit seinem Baader-Meinhof-Zyklus von 1988 hat man versucht, aus Gerhard Richter, der in seinem Lebenswerk zahllose Stil-Modalitäten und Maler-Rollen durchgespielt hat, auch einen Historienmaler, ja einen großen Moralisten der deutschen Zeitgeschichte zu machen. Ein kleineres Bild wie "Onkel Rudi" (1965), eine Grisaillenmalerei nach dem Foto eines Oberstleutnants der Wehrmacht auf Heimaturlaub, der später in Frankreich bei der Invasion der Alliierten fiel, avancierte in den neunziger Jahren zu einer Ikone der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Man wußte auch um die besonderen Bewandtnisse eines anrührenden Kinderidylls mit dem Titel "Tante Marianne". Es zeigt das "vermalte" Foto eines vierzehnjährigen Mädchens, das vor sich auf einem Gartentisch ein Baby hält. Es sprach sich herum, daß Richters Tante Marianne dreizehn Jahre später als "Geisteskranke" (Diagnose: Schizophrenie) von den mörderischen Medizinern der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Kampagne umgebracht wurde. Richter hatte das Bild 1965 noch ohne genaue Kenntnis von dem Schicksal seiner Tante gemalt.

"Familie am Meer", ein Großformat aus den Jahr 1964, stützt sich auf ein Urlaubsfoto mit grinsenden Badegästen von 1936: Der dominante Vater ist Richters späterer Schwiegervater, der Dresdner Gynäkologie-Chefarzt Eufinger, der, was bisher nicht bekannt war, SS-Obersturmbannführer und Zuarbeiter des "Euthanasie"-Programms war. Allein in seiner Klinik und unter seiner Regie fanden neunhundert Sterilisierungen statt. Tante Marianne war schon 1938 in Eufingers Klinik operiert worden, bevor sie in diverse sächsische Nervenheilanstalten eingewiesen wurde.

Weiter malte Richter im Jahr 1965 nach einem flüchtigen Zeitungsfoto mit Bildunterschrift - Andy Warhol war damals Richters Vorbild - den "Herrn Heyde", den Hauptstrategen des Tötungsprogramms an geistig Behinderten, nach seiner Verhaftung im Jahr 1959. Heyde, der sich 1964 in seiner Gefängniszelle erhängte, war, wie so viele NS-Verbrecher im Westen (aber auch im Osten), mit Hilfe von Gesinnungsfreunden unter falschem Namen untergetaucht und erst 1959 enttarnt worden.

Zwei dieser Bilder sind kleinformatig, die "Tante Marianne" ist mittelgroß, und nur das Urlaubsbild hat monumentale Ausmaße. Die vier Bilder sind die Kronzeugen in einer brillanten Studie des Berliner Journalisten Jürgen Schreiber. Für den Autor ergeben die vier Bilder ein "Requiem, ein Kolossalgemälde vom Zusammenbruch einer humanen Welt". Was zusammenhangslos erscheine, so Schreiber, ergebe doch "ein zusammenhängendes System". Jeder Teil "verweist auf das Ganze": "am Ende sind es Gewißheiten über die bleiche Mutter Deutschland."

Mit Hilfe seiner vier Kronzeugen inszeniert Schreiber mit erzählerischem Geschick sein deutsches Requiem. Mit archäologischer Akribie ergräbt und verdichtet er ein Stück Durchschnittsleben im Dritten Reich, das sich von der bürgerlichen Mittelklasse-Normalität zum kriminellen Alltag verschiebt. Schreiber scheut nicht das Pathos, er ist oft selbst ergriffen ob seiner gespenstischen Funde: "Vor dem Hintergrund des glutroten Scheins über dem brennenden Dresden ist es jetzt an der Zeit, die realen Personen aus ihren Gemälden treten zu lassen, ehe sich ihre Spur vollends verliert."

Der Autor durfte in Gerhard Richters privatem Familienarchiv und seinen Fotoalben stöbern. Er spürte im Leipziger Staatsarchiv die Patientenakte von "Tante Marianne" auf und konnte so ihre Passion exakt rekonstruieren. Er erforschte Richters Herkunft, das Familienmilieu, die Spannung zum Vater, einem Lehrer und kleinen Parteimitglied, der nach dem Krieg nicht wieder auf die Beine kam und sich 1968 nach dem Tod von Richters Mutter umbrachte, während hohe Charge unbehelligt blieben und ein Täter wie Gerhard Richters Schwiegervater, der Chefarzt Eufinger, nach einer dreijährigen Internierung im Lager Mühlberg seine Karriere bis hinein in den Westen fortsetzen konnte und hochgeehrt starb. Schreiber erzählt minutiös die Biographien der Täter und Opfer im Umfeld von "Tante Marianne" und dokumentiert am Ende auch den Dresdner Prozeß gegen die Ärzte und Pfleger des sächsischen "Euthanasie"-Programms von 1947, der mit vier Todesurteilen und hohen Haftstrafen endete.

Man liest das Buch mit fast atemloser Spannung und wachsender Beklemmung. Am Ende hat man das Gefühl, daß der junge Maler Richter 1961 mit der Übersiedlung in den Westen nicht nur die trostlose Deutsche Demokratische Republik hinter sich bringen wollte, sondern vor allem die düstere Vergangenheit. Am Beispiel Richters hebt Jürgen Schreiber einen Stein im Gefüge deutscher Alltagsgeschichte auf, unter dem sich Unrat und Natterngezücht angesammelt haben. Das Erstaunen und Entsetzen darüber ist der Grundton seines Buchs. Dresden aber war überall. Die versteckte, geleugnete, verdrängte Erblast beherrschte Nachkriegsdeutschland.

In den sechziger Jahren, als Richters Bilder entstanden, fanden die trügerisch wiederhergestellte Normalität, die fadenscheinige biedere Idyllik und die verbreitete Unschuldskosmetik ein jähes Ende durch den Eichmann-Prozeß in Jerusalem und das Frankfurter Auschwitz-Tribunal. Unruhe schüttelte die Republik. Die Aufdeckungen brachten die Kinder, die endlich begriffen, was geschehen war, gegen ihre Väter auf. Um 1965 entstanden übrigens nicht nur einige der Richter-Bilder, sondern auch ein so fundamentaler Zyklus wie die "Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze" des Leipziger Malers Werner Tübke, der die Verbrechen der nationalsozialistischen Justiz mit Hilfe avancierter Bildmethoden wie der Bewußtseinsanalyse einkreiste und analysierte.

So bezwingend und vielschichtig die Darstellung des Buches auch ist, sie läßt dennoch viele Fragen offen: Sind die Bilder Richters wirklich die große Gewissenserforschung und Schuldabrechnung, das Stück "Trauerarbeit", das wir in der westdeutschen Nachkriegskunst so schmerzlich vermissen? Fügen sie sich zum "kolossalen deutschen Requiem"? Hinter dem gutgelaunten Urlaubsbild von "Onkel Rudi" steckt ein millionenfaches Soldatenschicksal. Die Familie am Meer hat Richter ohne Kenntnis der Schuld und Verstrickung seines Schwiegervaters Eufinger gemalt. Als Richter 1965 das Kinderfoto von Tante Marianne aus dem Familienalbum herausfischte, mag er an traurige Erinnerungen im Kreise seiner Familie gedacht haben, ohne doch die genauen Umstände ihres Todes zu kennen. Aber daß hier intuitiv die "Figur des Todes" und die "Tragödie" "eingemalt" sei, darf bezweifelt werden.

Wo die Evidenz der Bilder fehlt, suggeriert oder erzwingt Schreiber Zusammenhänge. Richter, so behauptet er einmal, habe "die Wahrheit herbeigemalt". Oder er schreibt: Der Künstler "lernte im Alter von 73 zu verstehen, was es bedeutet, sie (die Tante Marianne als Kind) mit 33 gemalt zu haben". Schließlich rettet sich der Autor ins Paradox: "Trotzdem liefert Richter Beiträge zur Aufklärung, auch deshalb, weil er nichts erklärt und die Deutungen anderen überantwortete."

Der nachhelfende interpretatorische Übereifer resultiert zweifellos auch aus einer konstitutionellen Schwäche oder trotzigen Eigenart von Richters Kunst. Der Maler ist nicht müde geworden zu versichern, und er hat dies in scharfsinnigen Kommentaren immer wieder von neuem begründet, daß er für seine Kunst jedes Urteil, jede Tendenz, jede Absicht, jeden Sinn, jede Eindeutigkeit und Wahrheit, vor allem aber jede Idee und Ideologie und jeden verbindlichen und zwanghaften Stil ablehne. "Der Schein", so schreibt er noch 1989, "ist mein Lebensthema." Und: Der Maler "sieht den Schein der Dinge und wiederholt ihn, das heißt, ohne die Dinge selbst herzustellen, stellt er nur ihren Schein her". Die Fotografie, sein Hauptinstrument, ist der perfekte Schein: Sie entlastet von der Wirklichkeit und ihrer Ergründung. Jürgen Schreibers Bohrungen gelingt es, hinter die Fotos und Richters Fotomalerei zu blicken und dahinter der Wirklichkeit habhaft zu werden. Im Dienste der Aufklärung übertrifft sein Buch die Bilder Richters, die allenfalls Fingerzeige und Wegweiser bieten.

Richter ist ein Meister der Indifferenz, der Verweigerung und Neutralisierung jeder Aussage, ein Virtuose des "Zermalens" und "Vermalens" der Motive, wie er selbst sein Verfahren nennt. Seine Grisaille-Technik der sechziger Jahre ist keineswegs dem "deutschen Requiem" vorbehalten. Zwischen 1964 und 1970 entwickelt der Künstler in dieser Manier ein krauses Repertoire, das in seiner Mischung jede Tendenz und Botschaft durchkreuzt: Motorboote, Stuka-Flieger, Akte nach pornographischen Vorlagen, eine Dame in Robe, Brigitte Bardot mit Mutter, Kühe, Hirsche, "Horst mit Hund", eine "Klorolle" als Anspielung auf Duchamp, Sargträger oder die "Lernschwestern", die Opfer eines Massenmörders in den Vereinigten Staaten wurden. Nicht zuletzt entsteht 1966 ein wunderschönes Hauptwerk wie der "Akt, der die Treppe herabsteigt", das Bildnis seiner ersten Frau Ema, der Tochter des furchtbaren Chefarztes, für das Richter zum ersten Mal die Farbfotografie einsetzt.

Man kann in Richters Sinn-Boykott eine tiefe Skepsis, ja Verzweiflung angesichts einer undurchdringlichen und überwältigenden Wirklichkeit sehen. Nichts ist seiner Kunst fremder als Aufklärung und Moralismus. Die Bilder verweigern jede Evidenz und verwertbare Mitteilung. Nichts ist leichter, als eine Probe aufs Exempel zu machen: Man stelle sich eine Galerie der grauen Bilder Richters vor. Ohne Kommentar wäre nicht herauszufinden, wo die Täter und wo die Opfer, wo die Bösen und wo die Guten stecken. Zu dieser Bewertung bedürfte es des Kommentars.

Die Bilder erzählen auch nichts von den Geschicken seiner Figuren. Das Bild "Tante Marianne" gibt nicht Tante Mariannes Schicksal preis. Als zeit- und sittengeschichtliches Begleitbuch ist Schreibers bestürzende Reportage nützlich und erhellend. Doch die spezifische Ästhetik der Bilder muß es verfehlen. So verwundert es nicht, daß sich Richter mißverstanden fühlt und von Schreibers Darstellung distanziert.

Jürgen Schreiber: "Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter." Das Drama einer Familie. Pendo Verlag, München, Zürich 2005. 304 S., Abb., geb., 22,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2005

Die Grautöne der Blumenwiese
Investigative Kunstbetrachtung: Jürgen Schreiber liest die Familienbilder Gerhard Richters wie einen politischen Kriminalroman
Von Burkhard Müller
Noch mehr als auf Bewunderung gründet sich der Ruhm Gerhard Richters auf Dankbarkeit: dass er die bildende Kunst aus den müden Sackgassen der Moderne und Postmoderne herausgeführt, dass er dem Bild in ihr wieder eine geachtete Stellung verschafft hat. Denn dass die Abstraktion an die Wand fahren musste, war, sobald sie Gas gab, offensichtlich; schon ihre Gründungsakte, das schwarze Quadrat Malewitschs und die farbigen Faxen Kandinskys, boten sich dar als Belege der Ausweglosigkeit: der Öde, oder, insofern man ihr zu entgehen trachtete, der baren Willkür, manchmal auch, wie beim abstrakten Expressionismus, beider polarer Übel auf einmal. Auch bei den Versuchen, den fotografischen Medien ihr Monopol auf die Gegenstände zu entreißen, war immer ein Haken gewesen, der Haken des handwerklichen Ehrgeizes in einer voll mechanisierten Umgebung.
Dass man mit Pinseln ganz genau so weit kommen kann wie mit Knipsen, taten die Fotorealisten dar; aber als Produktionsmethode wies es ungefähr so weit in die Zukunft, wie wenn es einem Schlosser gelingt, hämmernd und feilend „auch” einen Automotor zu bauen. Selbst bei der Pop-Art, die das industriell erzeugte Bild mit offenen Armen begrüßte - endlich! wie man meinte -, sah die produktive Praxis so aus, dass der Künstler in seiner Klause saß und das Raster des Zeitungsdrucks in schablonierten Tupfen per Hand nacherschuf.
So weit muss man schon ausholen, wenn man sich klarmachen will, was Richter treibt und leistet. In der erschreckenden Kontingenz, die der Fotografie und ihrer schnellen Mechanik innewohnt, entdeckt er nicht ein Zuviel, das durch gleichsam reuige Beflissenheit eingeholt werden müsste, wie die Fotorealisten es wollten, sondern ein rätselhaftes Zuwenig. Dass der Fotoapparat gesehen, aber nicht geblickt hat, dass man darum auf das fertige Foto erst wieder blicken muss wie auf ein Stück Welt, und doch nur vage Auskunft erhält, immer dunkler und vager, je genauer man hinschaut - diese Erfahrung erschließt und wiederholt sich für Richter in der Verneinung, der Vernichtung des Rands. Denn die Ränder erst rufen, indem sie sie umfangen, die Gegenstände ins Dasein; Ränder in die Welt zu blicken ist der schöpferische Akt des menschlichen Auges.
Mit seinem Schwamm, den er in einem ganz bestimmten zähen Antrocknungszustand der Farbe gleichmäßig über die Leinwand zieht, wiederholt Richter das Automatische der fotografischen Optik und Chemie und entdeckt das Geheimnis ihrer verwaschenen Neutralität. Unter dieser Voraussetzung kann er an die vormodernen Traditionen der Malerei anknüpfen: das Blumenstück, die Madonna, in seinen wunderbaren Bildern der „Lesenden” die verschlossene Anmut der Frauen Vermeers. Auch seine abstrakten Bilder bringt Richter sozusagen fotografisch hervor, indem er das Wahllose der Farbkleckse über den immerselben Kamm der Nachbehandlung schert: Das brettartige Gerät, das hinterher über die Leinwand streicht, hat den Gleichmut von Linse und Dunkelkammer zu vertreten, wobei es aus den bloßen bunten Batzen notwendige und verwirrend deutliche Strukturen erzeugt, wie Wolken. So treffen die alten Widersacher Gegenständlichkeit und Abstraktion im Prinzip der gewissermaßen gewalzten Fläche zusammen.
Befreit steht der Betrachter vor Richters Landschaften. Wenn das Auge bislang darauf geeicht war, für schön zu halten, was die Malerei des 16. bis 19. Jahrhunderts ihm als schön gezeigt hat, so konnte das Hirn dahinter gar nicht anders, als aus dem real vorhandenen Terrain all die Asphaltbänder, Leitplanken und Verkehrsschilder wegzurechnen, um Genuss zu finden; das kostet viel unbewusste Energie und bereitet Unlust. Richters Technik hebt die Schranke im Innern des Betrachters, sie erlöst die Landschaft zu jenem unzerstückelten Ganzen, als das sie nicht mehr wahrgenommen werden konnte, und verzaubert sie zugleich. Hierher rührt die Dankbarkeit, von der oben die Rede war.
Besonders reichen Stoff aber findet Richter in alten Familienfotos. Ein einzelnes von ihnen hat Jürgen Schreiber herausgegriffen, um dessen Geschichte auf die Spur zu kommen. Wenn man im Klappentext liest, dass Schreiber einer „der besten investigativen Journalisten Deutschlands” sei, so neigt man erst einmal zu Argwohn: Was könnte ein solcher einem künstlerischen Werk hinzufügen als Nebensächlichkeiten? Hier jedoch täuscht man sich gewaltig.
Das Bild, an dem Schreiber ansetzt und dem er eine unglaubliche Geschichte entlockt, ist Richters Gemälde„Mutter und Kind” von 1965. Unverkennbar hat es eine um Jahrzehnte ältere private Fotografie in sich aufgenommen. Zu sehen ist eine junge Frau mit einem Säugling auf dem Arm inmitten eines Gartens. Richter selbst hatte das Seinige dazu beigetragen, den historischen Ort des Bildes zu verunklären. Dargestellt waren tatsächlich Marianne, die jüngere Schwester seiner Mutter, damals vierzehn, und - er selber im zarten Alter von vier Monaten, also in Wahrheit Tante und Neffe. Schreiber jedoch taucht durch dieses verheimlichte private Unterfutter noch tiefer hinab; er gewinnt Richters Vertrauen, sucht ihn daheim auf, bekommt das handliche Original des großformatigen Ölgemäldes gezeigt und stellt fest, wie wenig der Maler von den Hintergründen dieses Fotos aus seiner eigenen Sammlung weiß. Richter sagt, er wüsste gern, wer das Bild aufgenommen hat, denn dessen pyramidaler Aufbau wie bei einer Pietà verrate Begabung für Komposition; die Beschriftung auf der Rückseite, vermutet er, könnte von seiner Mutter stammen.
Marianne war ein rundes Jahrzehnt nach dieser Aufnahme umgekommen: als Schizophrene vergast in der Anstalt Sonnenstein, Pirna, am 16. Februar 1945, einen Tag nach der Zerstörung Dresdens. Schreiber, der sich aufmacht, den Leidensweg Mariannes durch die NS-Psychiatrie zu erforschen, stößt auf eine Koinzidenz, aus der sich der Gehalt seines Buchs entwickelt: Derjenige Mediziner, der die Zwangssterilisierung Mariannes einige Jahre vor ihrem Tod in die Wege geleitet hat, ist niemand anderes als Richters nachmaliger Schwiegervater Heinrich Eufinger, in dessen Villa der Maler mit seiner Frau fast ein Jahrzehnt lang, bis zu seiner Flucht aus der DDR kurz vor dem Mauerbau 1961, wohnen wird. In Richters Tochter Betty mischen sich die Gene von Täter und Opfer.
Aus dem doppelten Gesichtspunkt, den diese Entdeckung eröffnet, gewinnt Schreiber eine Art stereoskopischen Blick auf die flache Leinwand des Gemäldes; er zwingt aus ihr die Tiefe der Geschichte hervor. Richter selbst wusste nichts von der Vorgeschichte des SS-Obersturmbannführers Eufinger, der nach 1945 zwar einige Zeit im Kriegsverbrecherlager Mühlberg verschwand, aber es vorzog, zu lügen, er sei in Bautzen und mithin ein unschuldig Verfolgter gewesen. Schon bald setzte er seine Karriere als Gynäkologe und Krankenhauschef auch im Sozialismus fort. Wie konnte das dem jungen Richter verborgen bleiben? Darauf weiß Schreiber eine einfache Antwort: „Richter vermied die Fragen, Eufinger die Antworten.” Schwiegervater und Schwiegersohn liebten sich keineswegs; aber sie mussten irgendwie miteinander auskommen; und Richter wusste die materiellen Annehmlichkeiten im Schoß dieser Familie durchaus zu schätzen. So sah sie aus, die Kontinuität über die Stunde Null hinweg, bei Alt und Jung, in Ost und West (denn nicht nur Richter, auch Eufinger setzte sich in die BRD ab und gelangte ein drittes Mal zu Amt und Würden). Eufinger lieferte wiederholt die Vorlage zu Richters Bildern; am berühmtesten ist „Familie am Meer”, nach einem Foto aus dem Jahr 1936, wo der Vater sich machtvoll schützend über Frau und zwei Kinder beugt, alle in Badedress. Über diesem breitstirnig strahlenden Antlitz schwebt etwas begriffslos Ungutes, das man zunächst nicht verorten kann; erfährt man, dass es der Schwiegervater ist, so setzt man es auf Rechnung der gespannten Beziehung; erst Schreibers Forschungen jedoch dringen durch zur Schicht des SS-Karrieristen, der, anders als eine Reihe seiner Freunde und Fachkollegen beim Dresdner Euthanasie-Prozess von 1946, dank seiner Wendigkeit dem Galgen entging. Auch solche Zusammenhänge dürfte Richter meinen, wenn er sagt, seine Bilder seien klüger als er.
Schreiber verfügt über zwei eminente Fähigkeiten, die sein Projekt tragen. Die eine, die investigative Hartnäckigkeit, die sich vom zähen Widerstand der Ämter und Krankenhäuser nicht einschüchtern lässt und mit Gummistiefeln durch die überfluteten sächsischen Archive des Jahres 2002 watet, liegt auf der Hand. Als ebenso wichtig aber erweist sich sein Vermögen, Bilder, gemalte wie fotografierte, anzuschauen und zu versprachlichen, so dass der Leser, der ein zweites Mal hinblickt, sagen muss: Wahrhaftig, so ist es! Das Porträt eines Arztes aus Eufingers Umkreis schildert er so: „Auftritt Schmorl, 29 Jahre alt, in Herrscherpose, blaue Fliege, die Linke in die Hüfte gestemmt mit gut sichtbarem Siegelring, in der Rechten einen Pfirsich. Die Mundwinkel heruntergezogen, mokanter Ausdruck und bei mir sofort die Vorstellung weckend, wie er vor Patienten wichtigtuerisch herumfuchtelt und auf den Fersen wippt.”
Das Hochzeitsfoto von Richters Eltern liest er mit dem aufmerksamen Ernst des Wissens, wie selten und darum wie bedeutsam für die proletarische oder kleinbürgerliche Einzelexistenz solche Bilder sind, und dass keiner der Abgebildeten mehr lebt. Auch Marianne ist dabei; sie ist, wie Schreiber festhält, trotz des Backfischalters die hübschere Braut. „Das Foto ist ein einmaliges Dokument, alle halten den Atem an, keiner möchte in falscher Pose überrascht werden bei diesem Zusammensein, das sich nie mehr wiederholen sollte. So ein Tag wird strahlend erinnert, wolkenlos. Der Volksmund kennt zwei Sprüche zu diesem Anlass: ‘So jung kommen wir nie mehr zusammen!’ Aber auch: ‘Unter jedem Dach ein Ach!’” Die Gefrorenheit des Bildes im Augenblick seines Zustandekommens wird so wiederum in den Strom der Geschichte hineingeschmolzen, ein Vorgang, zu dem die bildende Kunst der Hilfe des Worts bedarf.
Der Weg geht jedoch auch in die Gegenrichtung. Schreiber sucht Mariannes letzte Lebens- und schließliche Grabstätte auf, die entlegene Heilanstalt Großschweidnitz, wo ihre auf Haferflockengröße geschredderten, verbrannten Überreste zusammen mit denen von 5000 anderen ermordeten Geisteskranken unter einer unschuldigen Blumenwiese ruhen. Diese Wiese fotografiert er. Das Bild, mit seinen vielen mittleren Grautönen, mit seinen Margeritenköpfen, die in unterschiedlichen Graden der Unschärfe über dem Gras schweben, und dem lichtdurchbrochenen Laubwerk der Bäume im Hintergrund, scheint wie von Gerhard Richter erschaffen. Aber Richter war noch nie dort. Diese Stelle wartet auf ihn.
Jürgen Schreiber
Ein Maler aus Deutschland
Gerhard Richter - Das Drama seiner Familie. Pendo Verlag, München und Zürich 2005, 304 Seiten, 22,50 Euro.
Gerhard Richter
Foto: imago
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Im Reportagestil habe der Autor sein Gerhard Richter-Porträt verfasst, konstatiert Rezensent Georg Imdahl, und das habe Vor- und Nachteile zugleich. Dank der detektivartig nacherzählten Recherche zu Richters Leben und insbesondere zu den Hintergründen einiger seiner Bilder biete das Buch eine spannende Lektüre. Dieser "Reportagestil" neige auf der anderen Seite aber auch zu Spekulationen und "unnötig reißerischen" Passagen. Unnötig, weil der Autor viele historische Fakten herausgefunden habe, die auch Richter nicht bekannt waren, der aber gleichwohl den "Jargon" von Schreibers Darstellung als aufgebauscht kritisiert hätte. Der Autor habe speziell den Leidensweg von Richters Tante Marianne Schönfelder "minuziös rekonstruiert". Sie wurde 1945 in einem Lager ermordet, nachdem sie seit 1937 als so genannte Schizophrene in die "Mühlen der Euthanasie" geraten sei. Nach einem Foto habe Richter das bekannte Porträt "Tante Marianne" gemalt, auf dem er selbst als Baby zu sehen ist. Auf dem Bild "Familie am Meer" sei ein weiteres Familienmitglied zu sehen, der Naziarzt Heinrich Eufinger, der für bis zu tausend Zwangssterilisationen verantwortlich gewesen sei. Interessant sei nun, so der Rezensent, dass Richter diese historischen Zusammenhänge in seiner Familiengeschichte zur Zeit der Entstehung von "Familie am Meer" nicht gewusst habe. Richters auf dem Buchumschlag zitierter Satz: "Meine Bilder sind klüger als ich" sei deshalb mehr als ein "betörend geheimnisvoller Satz".

© Perlentaucher Medien GmbH
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