Sommer 1986. Berlin-Charlottenburg. Ein Mann steht auf der Leiter und streicht die Decke einer Altbauwohnung, in die er mit seiner Gefährtin einziehen will. Da verliert er das Gleichgewicht und stürzt in die Tiefe.
Danach ist nichts mehr, wie es war. Brutaler hätte der Aufbruch zweier Menschen in die gemeinsame Zukunft kaum scheitern können. Doch was wie ein Ende erscheint, geht langsam über in die Erforschung eines unbekannten Kontinents: des eigenen Lebens.
Der Kampf mit der Querschnittslähmung und die erzwungene Verlangsamung des Alltags müssen sich in einer Umgebung behaupten, die sich mit dem Mauerfall rasant verändert. Iranische Oppositionelle, russische Neureiche, Roma-Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien ziehen ein. Jahrzehnte vergehen, die Wohnung im Eckhaus bleibt Beobachtungsstation und Zufluchtsort, ausgesetzt und geschützt zugleich. Unten auf der Straße wird das Leben nicht nur schneller, sondern lauter, roher, gewalttätiger. Dann leert sich das Haus. Am Ende bleibt das alte Liebespaar - und der lebenslange Versuch, standzuhalten.
Nach dem großen Erfolg ihres Romans Das Verschwinden des Philip S. stellt Ulrike Edschmid erneut ihr Vermögen unter Beweis, von der Essenz eines Unglücks zu erzählen. Und von dem anderen Blick auf die Welt, den wir dabei erlernen.
Danach ist nichts mehr, wie es war. Brutaler hätte der Aufbruch zweier Menschen in die gemeinsame Zukunft kaum scheitern können. Doch was wie ein Ende erscheint, geht langsam über in die Erforschung eines unbekannten Kontinents: des eigenen Lebens.
Der Kampf mit der Querschnittslähmung und die erzwungene Verlangsamung des Alltags müssen sich in einer Umgebung behaupten, die sich mit dem Mauerfall rasant verändert. Iranische Oppositionelle, russische Neureiche, Roma-Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien ziehen ein. Jahrzehnte vergehen, die Wohnung im Eckhaus bleibt Beobachtungsstation und Zufluchtsort, ausgesetzt und geschützt zugleich. Unten auf der Straße wird das Leben nicht nur schneller, sondern lauter, roher, gewalttätiger. Dann leert sich das Haus. Am Ende bleibt das alte Liebespaar - und der lebenslange Versuch, standzuhalten.
Nach dem großen Erfolg ihres Romans Das Verschwinden des Philip S. stellt Ulrike Edschmid erneut ihr Vermögen unter Beweis, von der Essenz eines Unglücks zu erzählen. Und von dem anderen Blick auf die Welt, den wir dabei erlernen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2017Nächtliche Ruhestörung
Ulrike Edschmids Roman "Ein Mann, der fällt"
Ein Mann steigt auf eine Leiter und fällt und liegt und steht nicht mehr auf. Das neue Buch von Ulrike Edschmid beginnt mit dem Ende eines Lebensabschnitts, mit einer biographischen Wende, von der aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Handlung strukturiert sind. Auch ihr letzter Roman war von einer Peripetie ausgegangen, vom Tod des Philip S., dem einstigen Lebensgefährten der Autorin, der sich in den sechziger Jahren im linksradikalen Untergrund radikalisierte und 1975 in Köln von der Polizei erschossen wurde. Edschmids autobiographisches Verfahren setzt sich in "Ein Mann, der fällt" fort. Inzwischen liegen die politisch bewegten Jahre in der geteilten Stadt hinter dem Erzählhorizont. Man hat sich ins Private zurückgezogen. Sesshaftigkeit ist angezeigt - Sesshaftigkeit im makabersten Sinne: Der Mann, heißt es, wird nie wieder gehen können.
Zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte er eine heruntergekommene Altbauwohnung an einer West-Berliner Hauptverkehrsstraße gemietet; alles sollte von Hand renoviert werden. Der Mann, so lernt der Leser nach und nach, wird nach ungezählten Stunden Physiotherapie immerhin an Krücken stehen, später sogar daran etwas gehen können. Das Haus hat einen Aufzug, der öfter mal defekt ist, und einen Behindertenparkplatz, auf dem im Laufe der Jahre alle Arten von Autos parken, meistens Gäste des unten befindlichen "Spaniers", bei dem erst ein paar abgerissene Leute aus dem Kiez, dann die West-Berliner Kulturschickeria, später die reichen Russen vom Savignyplatz verkehren. Mehrmals muss ein Lärmmesser ins Haus kommen, um in der Wohnung die Dezibel zu testen, wofür am Tage die nächtliche Lärmkulisse des Spaniers nachgestellt wird - inklusive Hackebeil schwingendem Koch und Flamencotänzer, doch ohne messbares Ergebnis: "Nächtlicher Lärm", sagt der Lärmmesser, "muss nachts gemessen werden."
Man ahnt es, Hauptakteurin dieses Buchs ist weniger die in vielem der Autorin gleichenden Erzählerin, sondern es sind die erzählenden Umstände, denen sie sich darin ausgeliefert sieht. Im Mittelpunkt steht die Stadt, in der sich nicht nur ein in Wittgenstein-Lektüre vertiefter Handwerker verspätete ("Die Welt ist alles, was der Fall ist"), sondern auch ein auf diesen Handwerker wartender Mann, der übermüdet von der Leiter stürzt. Eine Stadt, in der sich schlimme Verkehrsunfälle ereignen, Autobomben der osteuropäischen Automafia zünden und am Ende die Mauer fällt, was nicht als politisches Ereignis berührt wird, sondern phänomenologisch, ablesbar an den Veränderungen im Viertel: Diplomaten beim neuen In-Chinesen auf der Kantstraße, Entmietung repräsentativer Immobilien, die noch vor kurzem koreanische Sekten oder iranische Exilorganisationen beherbergten und jetzt als Spekulationsobjekte dienen.
Vom Fenster der Schicksalswohnung aus schweift der Blick über eine Stadt, die sich permanent verändert. Charlottenburger Witwen müssen ins Heim oder sterben, ein Paar mit Kind streitet und trennt sich. Im Seiteflügel halten die Griechen einmal in der Woche einen Gottesdienst ab. Der serbische Kioskbesitzer fällt einem rechtsradikalen Amokläufer zum Opfer. Der Friseur hängt sich in seiner Frisierstube auf. Ein ehemaliger Heiratsschwindler dient sich in den Kneipen und Privathaushalten des Viertels als Butler an. Eine Roma-Familie wohnt im Hof neben den Mülltonnen.
Nebenbei ereignet sich Welt- oder wenigsten Stadtgeschichte: Die Eiserne Vorhang fällt, der 11. September 2001 ereignet sich, der spektakuläre Rohbau des Jüdischen Museums wird zwei Tage später für Besucher eröffnet, eine Weltkriegsbombe wird an der Kantstraße entschärft. Am Ende - das Haus wurde inzwischen zigmal verkauft - gibt es kaum noch Mieter dort.
Edschmids Roman bleibt stilistisch kühl, fast protokollierend. Anhand von Alltagsszenen und Stadtskizzen wird deutsche Geschichte erzählt, doch so beiläufig und unheroisch, wie sie sich in der Realität oft abspielt: nicht als Big Bang, sondern als Ereignis unter Ereignissen, dessen Folgen im Moment seines Auftretens oft noch gar nicht richtig verstanden sind. Ein bisschen erinnert auch hier der Fall der Mauer an die berühmte Schlussszene aus Sven Regeners "Herr Lehmann", in der ein Haufen West-Berliner Desperados bierselig vor dem Fernseher ihrer Stammkneipe sitzt und einer die nun einzig sinnvolle Bemerkung macht: "Die kommen jetzt alle rüber."
"Ein Mann, der fällt", dieser kleine lakonische Text von Ulrike Edschmid überzeugt nicht aufgrund einer ausgefeilten Sprache, auch nicht aufgrund dramaturgischer Originalität. Der Berliner Alltag ist originell genug. Bei Ulrike Edschmid kommt er ohne jede Kommentierung aus. Der rote Faden ist das mühevolle Laufenlernen des gefallenen Mannes, der auch ein geliebter Mann ist. So hat ihm Ulrike Edschmid einen Liebesroman gewidmet: die Geschichte eines Paares, das zusammenbleibt.
Eines Tages, so liest man an einer Stelle im Buch, ereignet sich ein Unfall. Ein Taxifahrer hat einen Rentner überfahren. Er bleibt weinend an seine Kühlerhaube gelehnt zurück, nachdem die Rettungskräfte Richtung Krankenhaus weitergefahren sind. Der gefallene Mann beobachtet die Szene vom Fenster aus. Er beschließt, dem Taxifahrer Beistand zu leisten. Schritt für Schritt kämpft er sich, an Krücken gehend, über die befahrene Straße, den Blick konzentriert zu Boden gerichtet, mit fast übermenschlich großer Anstrengung. Aber: "Sein Gehen ist kein Makel. Es hat eine Bedeutung." Als er es endlich geschafft hat, ist das Taxi verschwunden: eine beiläufige Charakterskizze, die noch lange, noch über das niemals nachlassende Rauschen des Verkehrs auf der Kantstraße hinweg, nachhallt.
KATHARINA TEUTSCH
Ulrike Edschmid: "Ein Mann, der fällt". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 188 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrike Edschmids Roman "Ein Mann, der fällt"
Ein Mann steigt auf eine Leiter und fällt und liegt und steht nicht mehr auf. Das neue Buch von Ulrike Edschmid beginnt mit dem Ende eines Lebensabschnitts, mit einer biographischen Wende, von der aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Handlung strukturiert sind. Auch ihr letzter Roman war von einer Peripetie ausgegangen, vom Tod des Philip S., dem einstigen Lebensgefährten der Autorin, der sich in den sechziger Jahren im linksradikalen Untergrund radikalisierte und 1975 in Köln von der Polizei erschossen wurde. Edschmids autobiographisches Verfahren setzt sich in "Ein Mann, der fällt" fort. Inzwischen liegen die politisch bewegten Jahre in der geteilten Stadt hinter dem Erzählhorizont. Man hat sich ins Private zurückgezogen. Sesshaftigkeit ist angezeigt - Sesshaftigkeit im makabersten Sinne: Der Mann, heißt es, wird nie wieder gehen können.
Zusammen mit seiner Lebensgefährtin hatte er eine heruntergekommene Altbauwohnung an einer West-Berliner Hauptverkehrsstraße gemietet; alles sollte von Hand renoviert werden. Der Mann, so lernt der Leser nach und nach, wird nach ungezählten Stunden Physiotherapie immerhin an Krücken stehen, später sogar daran etwas gehen können. Das Haus hat einen Aufzug, der öfter mal defekt ist, und einen Behindertenparkplatz, auf dem im Laufe der Jahre alle Arten von Autos parken, meistens Gäste des unten befindlichen "Spaniers", bei dem erst ein paar abgerissene Leute aus dem Kiez, dann die West-Berliner Kulturschickeria, später die reichen Russen vom Savignyplatz verkehren. Mehrmals muss ein Lärmmesser ins Haus kommen, um in der Wohnung die Dezibel zu testen, wofür am Tage die nächtliche Lärmkulisse des Spaniers nachgestellt wird - inklusive Hackebeil schwingendem Koch und Flamencotänzer, doch ohne messbares Ergebnis: "Nächtlicher Lärm", sagt der Lärmmesser, "muss nachts gemessen werden."
Man ahnt es, Hauptakteurin dieses Buchs ist weniger die in vielem der Autorin gleichenden Erzählerin, sondern es sind die erzählenden Umstände, denen sie sich darin ausgeliefert sieht. Im Mittelpunkt steht die Stadt, in der sich nicht nur ein in Wittgenstein-Lektüre vertiefter Handwerker verspätete ("Die Welt ist alles, was der Fall ist"), sondern auch ein auf diesen Handwerker wartender Mann, der übermüdet von der Leiter stürzt. Eine Stadt, in der sich schlimme Verkehrsunfälle ereignen, Autobomben der osteuropäischen Automafia zünden und am Ende die Mauer fällt, was nicht als politisches Ereignis berührt wird, sondern phänomenologisch, ablesbar an den Veränderungen im Viertel: Diplomaten beim neuen In-Chinesen auf der Kantstraße, Entmietung repräsentativer Immobilien, die noch vor kurzem koreanische Sekten oder iranische Exilorganisationen beherbergten und jetzt als Spekulationsobjekte dienen.
Vom Fenster der Schicksalswohnung aus schweift der Blick über eine Stadt, die sich permanent verändert. Charlottenburger Witwen müssen ins Heim oder sterben, ein Paar mit Kind streitet und trennt sich. Im Seiteflügel halten die Griechen einmal in der Woche einen Gottesdienst ab. Der serbische Kioskbesitzer fällt einem rechtsradikalen Amokläufer zum Opfer. Der Friseur hängt sich in seiner Frisierstube auf. Ein ehemaliger Heiratsschwindler dient sich in den Kneipen und Privathaushalten des Viertels als Butler an. Eine Roma-Familie wohnt im Hof neben den Mülltonnen.
Nebenbei ereignet sich Welt- oder wenigsten Stadtgeschichte: Die Eiserne Vorhang fällt, der 11. September 2001 ereignet sich, der spektakuläre Rohbau des Jüdischen Museums wird zwei Tage später für Besucher eröffnet, eine Weltkriegsbombe wird an der Kantstraße entschärft. Am Ende - das Haus wurde inzwischen zigmal verkauft - gibt es kaum noch Mieter dort.
Edschmids Roman bleibt stilistisch kühl, fast protokollierend. Anhand von Alltagsszenen und Stadtskizzen wird deutsche Geschichte erzählt, doch so beiläufig und unheroisch, wie sie sich in der Realität oft abspielt: nicht als Big Bang, sondern als Ereignis unter Ereignissen, dessen Folgen im Moment seines Auftretens oft noch gar nicht richtig verstanden sind. Ein bisschen erinnert auch hier der Fall der Mauer an die berühmte Schlussszene aus Sven Regeners "Herr Lehmann", in der ein Haufen West-Berliner Desperados bierselig vor dem Fernseher ihrer Stammkneipe sitzt und einer die nun einzig sinnvolle Bemerkung macht: "Die kommen jetzt alle rüber."
"Ein Mann, der fällt", dieser kleine lakonische Text von Ulrike Edschmid überzeugt nicht aufgrund einer ausgefeilten Sprache, auch nicht aufgrund dramaturgischer Originalität. Der Berliner Alltag ist originell genug. Bei Ulrike Edschmid kommt er ohne jede Kommentierung aus. Der rote Faden ist das mühevolle Laufenlernen des gefallenen Mannes, der auch ein geliebter Mann ist. So hat ihm Ulrike Edschmid einen Liebesroman gewidmet: die Geschichte eines Paares, das zusammenbleibt.
Eines Tages, so liest man an einer Stelle im Buch, ereignet sich ein Unfall. Ein Taxifahrer hat einen Rentner überfahren. Er bleibt weinend an seine Kühlerhaube gelehnt zurück, nachdem die Rettungskräfte Richtung Krankenhaus weitergefahren sind. Der gefallene Mann beobachtet die Szene vom Fenster aus. Er beschließt, dem Taxifahrer Beistand zu leisten. Schritt für Schritt kämpft er sich, an Krücken gehend, über die befahrene Straße, den Blick konzentriert zu Boden gerichtet, mit fast übermenschlich großer Anstrengung. Aber: "Sein Gehen ist kein Makel. Es hat eine Bedeutung." Als er es endlich geschafft hat, ist das Taxi verschwunden: eine beiläufige Charakterskizze, die noch lange, noch über das niemals nachlassende Rauschen des Verkehrs auf der Kantstraße hinweg, nachhallt.
KATHARINA TEUTSCH
Ulrike Edschmid: "Ein Mann, der fällt". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 188 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.04.2017Die Therapie
des Architekten
Ulrike Edschmid berichtet von
einem „Mann, der fallen kann“
Es sollte etwas beginnen, ein gemeinsames Leben in einer gemeinsamen Wohnung, Mitte der achtziger Jahre in Westberlin. Dann aber fällt der Mann von der Leiter und aus dem euphorischen Aufbruch ist plötzlicher Stillstand geworden. Querschnittslähmung, sagen die Ärzte, Sie werden nie wieder laufen können. So richtet die Frau, die diese Geschichte erzählt, und bei der es sich fraglos um die Autorin Ulrike Edschmid selbst handelt, die Wohnung ein, macht aus dem heruntergekommenen Altbau einen Platz, an dem in Zukunft auch ihr offenbar zur Bewegungsunfähigkeit verurteilter Lebensgefährte zu Hause sein soll.
Dem, einem Architekten, wird die Welt zunehmend abstrakt, weil er sie vorerst nur aus der einen, festen Perspektive wahrnimmt. Ein Mann am Fenster, der das Treiben auf der Straße beobachtet, vor allem all die anderen Fälle, die sich dort und im Haus selbst vollziehen, die Un- und Todesfälle.
Doch auch wenn er irgendwann die Therapien meidet, die ihm angetragen werden, „weil sie ein Spiel mit der Hoffnung treiben, das er nicht jedes Mal verlieren will“, gelingt es ihm nach einer Weile, einen Teil seiner Bewegungsfähigkeit zurückzugewinnen. Erst auf Krücken, dann nurmehr auf einen Stock gestützt, kann er, wenn auch wie in Zeitlupe, wieder auf die Straße, kann Auto fahren und arbeiten.
Und er kann fallen. Wer nicht stehen und gehen kann, kann das nicht, und so ist der Titel von Ulrike Edschmids konzentriertem Erinnerungstext im Grunde ein Ausdruck des wiedergewonnenen Glücks: Ja, er kann fallen, und er kann sich wieder aufrichten, wenn auch, um erneut zu fallen. Fallend geht voran.
Es geht voran, und die Stadt verändert sich. Ein Jüdisches Museum wird errichtet, und bevor es eingerichtet und eröffnet wird, gibt es für einige Zeit die Möglichkeit, den leeren, verschachtelten Libeskind-Bau zu besichtigen. Das tun auch der Architekt und seine Frau, verlieren aber den Anschluss an die geführte Gruppe. Nach einer Weile sehen sie keine Chance mehr, den Ausgang zu finden, bevor er geschlossen wird, und richten sich für die Nacht ein.
Einen Namen hat der Architekt nicht. Auch kommt er selbst an keiner Stelle zu Wort. Es gibt keinen einzigen Dialog in diesem Buch. Es ist, als würde der Mann, der fällt, mit jedem Schritt mehr sagen, als sich durch bloße Schrift mitteilen ließe.
TOBIAS LEHMKUHL
Ulrike Edschmid: Ein Mann, der fällt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 187 Seiten, 20 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Ein nächtlicher
Libeskind-Bau wird zur
ausweglosen Situation
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Architekten
Ulrike Edschmid berichtet von
einem „Mann, der fallen kann“
Es sollte etwas beginnen, ein gemeinsames Leben in einer gemeinsamen Wohnung, Mitte der achtziger Jahre in Westberlin. Dann aber fällt der Mann von der Leiter und aus dem euphorischen Aufbruch ist plötzlicher Stillstand geworden. Querschnittslähmung, sagen die Ärzte, Sie werden nie wieder laufen können. So richtet die Frau, die diese Geschichte erzählt, und bei der es sich fraglos um die Autorin Ulrike Edschmid selbst handelt, die Wohnung ein, macht aus dem heruntergekommenen Altbau einen Platz, an dem in Zukunft auch ihr offenbar zur Bewegungsunfähigkeit verurteilter Lebensgefährte zu Hause sein soll.
Dem, einem Architekten, wird die Welt zunehmend abstrakt, weil er sie vorerst nur aus der einen, festen Perspektive wahrnimmt. Ein Mann am Fenster, der das Treiben auf der Straße beobachtet, vor allem all die anderen Fälle, die sich dort und im Haus selbst vollziehen, die Un- und Todesfälle.
Doch auch wenn er irgendwann die Therapien meidet, die ihm angetragen werden, „weil sie ein Spiel mit der Hoffnung treiben, das er nicht jedes Mal verlieren will“, gelingt es ihm nach einer Weile, einen Teil seiner Bewegungsfähigkeit zurückzugewinnen. Erst auf Krücken, dann nurmehr auf einen Stock gestützt, kann er, wenn auch wie in Zeitlupe, wieder auf die Straße, kann Auto fahren und arbeiten.
Und er kann fallen. Wer nicht stehen und gehen kann, kann das nicht, und so ist der Titel von Ulrike Edschmids konzentriertem Erinnerungstext im Grunde ein Ausdruck des wiedergewonnenen Glücks: Ja, er kann fallen, und er kann sich wieder aufrichten, wenn auch, um erneut zu fallen. Fallend geht voran.
Es geht voran, und die Stadt verändert sich. Ein Jüdisches Museum wird errichtet, und bevor es eingerichtet und eröffnet wird, gibt es für einige Zeit die Möglichkeit, den leeren, verschachtelten Libeskind-Bau zu besichtigen. Das tun auch der Architekt und seine Frau, verlieren aber den Anschluss an die geführte Gruppe. Nach einer Weile sehen sie keine Chance mehr, den Ausgang zu finden, bevor er geschlossen wird, und richten sich für die Nacht ein.
Einen Namen hat der Architekt nicht. Auch kommt er selbst an keiner Stelle zu Wort. Es gibt keinen einzigen Dialog in diesem Buch. Es ist, als würde der Mann, der fällt, mit jedem Schritt mehr sagen, als sich durch bloße Schrift mitteilen ließe.
TOBIAS LEHMKUHL
Ulrike Edschmid: Ein Mann, der fällt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 187 Seiten, 20 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Ein nächtlicher
Libeskind-Bau wird zur
ausweglosen Situation
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»Nie wird [Ulrike Edschmid] laut, hektisch, vordergründig. Ihre Sätze sind kurz und erzeugen trotzdem eine Melodie. Das ist toll gemacht.« Hannah Bethke Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20170716