Galizien in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts: Hier liegt Drohobycz, die Heimatstadt von Bruno Schulz, dem Autor der "Zimtläden" und polnischen Übersetzer von Kafkas "Prozeß". Er gilt neben Witold Gombrowicz und Stanislaw Witkiewicz als der wichtigste Vertreter der polnischen Avantgarde zwischen den Kriegen. Ugo Riccarelli ist den Spuren dieses genialen Schriftstellers und Künstlers nachgegangen und hat seinen vielschichtigen Lebensweg in Form eines Romans nachgezeichnet:
Schulz' Kindheit und Jugend in der Familie eines jüdischen Tuchhändlers, seine Tätigkeit als Zeichenlehrer an einem Gymnasium bis hin zu seinem grausamen Tod im Jahr 1942, als er von einem deutschen Soldaten auf offener Straße erschossen wurde. Auf wunderbar poetische und nüchterne Weise gelingt es Ugo Riccarelli, die Verflechtung von allgemeiner und persönlicher Geschichte darzustellen und die längst untergegangene Welt des osteuropäischen Judentums, der Schulz entstammte, vor dem Leser wiederauferstehen zu lassen.
Schulz' Kindheit und Jugend in der Familie eines jüdischen Tuchhändlers, seine Tätigkeit als Zeichenlehrer an einem Gymnasium bis hin zu seinem grausamen Tod im Jahr 1942, als er von einem deutschen Soldaten auf offener Straße erschossen wurde. Auf wunderbar poetische und nüchterne Weise gelingt es Ugo Riccarelli, die Verflechtung von allgemeiner und persönlicher Geschichte darzustellen und die längst untergegangene Welt des osteuropäischen Judentums, der Schulz entstammte, vor dem Leser wiederauferstehen zu lassen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.2000Im Himmel handelt das Wunder mit Tüchern
In der Schwebe: Ugo Riccarellis Roman über einen Mann, der vielleicht Schulz hieß · Von Manfred Hardt
Bürgermeister und Bürger der Stadt Pisa sind um ihr Pressebüro zu beneiden. In zwei nebeneinander liegenden Räumen des Rathauses sitzen zwei ambitionierte und belesene Literaten, die tagsüber Nachrichten und Texte von anderen und über andere sammeln, kopieren und weiterleiten, um abends und am Wochenende ihrer Leidenschaft zu frönen: eine eigene Nachricht, eine eigene, authentische Prosa zu verfassen. So entstanden vor kurzem zwei bemerkenswerte und in Italien beachtete Romane: Athos Bigongiali schrieb "Ballata per un'estate calda" und kam damit in die engere Auswahl für den angesehenen "Premio Viareggio"; Ugo Riccarelli, der andere städtische Angestellte, schrieb "Un uomo che forse si chiamava Schulz" und platzierte sich damit unter den fünf ersten Bewerbern für den nicht minder angesehenen "Premio Campiello". Der letztere Roman, 1998 in Italien erschienen, wird nun unter dem Titel "Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß" dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt. Der Titel hat es in sich. Das Buch auch.
Der Klappentext informiert darüber, dass mit Schulz der polnische Schriftsteller Bruno Schulz, Autor der "Zimtläden" und Übersetzer von Kafka, gemeint sei und dass Riccarelli den "vielschichtigen Lebensweg" von Schulz "in Form eines Romans" nachgezeichnet habe. Wenn es aber der Lebensweg von Schulz war, warum spricht der Titel davon, dass der Mann vielleicht Schulz hieß? Gibt es Zweifel an der Identität des Helden? War der Protagonist des Romans ein anderer? Der Umstand, dass der Erzähler seinen Bericht in der Ichform und nicht in der dritten Person vorträgt, kann mögliche Verunsicherungen des Lesers nur erhöhen.
Mit historisch verbürgter Gewissheit war der 1892 in Drohobycz/Galizien geborene Bruno Schulz einer der großen avantgardistischen Künstler Polens zwischen den beiden Weltkriegen. Sohn eines jüdischen Tuchhändlers, wuchs er nach dem frühen Tod des eigensinnigen und dominanten Vaters in ärmlichen Verhältnissen auf, studierte in Lemberg Architektur und verdiente seinen Lebensunterhalt als Zeichenlehrer am Gymnasium seines Geburtsortes. Literarisch entwickelte sich Schulz als Einzelgänger, geprägt von der kulturellen Atmosphäre der österreichisch-ungarischen Monarchie. Zu seinen wenigen Freunden zählten S. I. Witkiewicz und W. Gombrowicz. 1933 schloss er sich der Gruppe "Vorstadt" an, die sich dem Programm eines authentischen Realismus verschrieben hatte und der unter anderem Z. Nalkoweska angehörte. Stark beeinflusst von Kafka, dessen "Prozess" er 1936 ins Polnische übersetzte, und von Sigmund Freud, dessen Untersuchungen zum Unterbewussten und zur Bedeutung des Vater-Sohn-Konflikts in seinem Werk nachwirkten, erlangte er Beachtung vor allem durch seine Erzählbände "Die Zimtläden" von 1934 und "Das Sanatorium zur Todesanzeige" von 1937. Lange Zeit vergessen, wurde Schulz in den fünfziger Jahren wieder entdeckt; die beiden Erzählbände erschienen 1961 in deutscher Übersetzung.
Ugo Riccarelli, 1954 bei Turin geboren, erzählt also in der ersten Person die Lebensgeschichte von Bruno Schulz. In Drohobycz, der kleinen Stadt am Fuße der Karpaten, kommt dieser im Hause seines Vaters zur Welt. "Ich kam aus meiner Mutter hervor mit dem Widerwillen eines Menschen, der gezwungen wird, die Stille eines Refugiums zu verlassen, in dem ich neun Monate geträumt hatte." Das sind unheilvolle Worte, denn in der Tat wird das Leben den Träumen des Bruno Schulz grausamen, schließlich tödlichen Widerstand entgegensetzen. Doch zunächst wird der kleine Bruno in die umhegte Welt des Hauses von Vater Jakob entlassen, der ihn als "Wunder des Himmels" begrüßt, als "Nachkomme" und als "neuen Händler, der in Galizien Stoffe und Tuchwaren verkauft".
Der mit ungewöhnlichen Fähigkeiten der Beobachtung und Wahrnehmung begabte Knabe durchstreift die Korridore, Gemächer und Lagerkammern des väterlichen Hauses. Alles, was er wahrnimmt, die farbenfrohen Tapeten, die Fugen und Lineaturen in den Böden und die Risse und Kratzer an den Möbeln, so bekennt er, "waren für mich das Filigran einer geheimnisvollen und zauberhaften Welt". "Und so kam es, dass ich, noch bevor ich sprechen konnte, zeichnen lernte." Dies in der "von der majestätischen Präsenz des Kaisers in Wien" beherrschten Stille einer vergessenen Provinzstadt im äußersten nordöstlichen Zipfel Kakaniens: "Drohobycz schlief. In der Ebene liegend, setzte es seinen Schlaf fort, der ewig schien. Es schliefen seine Häuser mit den in den warmen Frühsommertagen offen stehenden Fenstern, und mit ihnen ihre Bewohner, die jeden Tag Schritt für Schritt dieselbe Strecke zurücklegten und die Zeit in ihrer Unbeweglichkeit im Kreise drehten. Unbeweglich war die Zukunft."
Das ändert sich, als sich eines Januarmorgens eine Fahrzeugkolonne mit Soldaten, Ingenieuren, Mannschaften und technischem Gerät durch das Städtchen wälzt. Man ist auf dem Weg zur nahe gelegenen Tysmienica, wo Erdölquellen auszubeuten sind, die dem Kaiser und dem Städtchen Drohobycz Reichtum und Fortschritt bescheren sollen. Der große Zukunftstraum endet bald, indem das Bohrfeld in Flammen aufgeht, die im weiten Umkreis die Natur zerstören. Nach Jahren der Agonie und dem Untergang der Monarchie gerät Galizien in das Spannungsfeld deutsch-russischer Interessen. Nach dem Abschluss des deutsch-russischen Nichtangriffspakts sind es die Russen, die das Städtchen okkupieren und auf den Kopf stellen - und wenige Monate später abziehen. Dann marschiert die Armee Hitlers ein. Die neue Ordnung bringt die organisierte Vernichtung des osteuropäischen Judentums. Sie führt zur brutalen Ermordung des jüdischen Künstlers Bruno Schulz durch einen Nazioffizier am 19. November 1942. Hier endet der Roman.
Mit ungewöhnlicher Sensibilität hat Ugo Riccarelli den Lebensweg von Bruno Schulz nachgezeichnet. Zu den eindrucksvollsten Seiten des Romans zählt die Beschreibung der Kindheit des Protagonisten. Der kleine Bruno lebt in einer Traumwelt, in die Segmente der Wirklichkeit eindringen, die mit dem Blick des Kindes, das heißt aus nächster Nähe und mit fast halluzinatorischer Genauigkeit, wahrgenommen werden. Die Unschuld dieses Lebens zwischen Traum und Wirklichkeit bleibt aufgehoben in einer Welt, in deren scheinbarer Ewigkeit das Kind eine unzerstörbar scheinende Geborgenheit erfährt, die von einer vertrauten Dingwelt und einer zyklisch wiederkehrenden, anthropomorph empfundenen Natur getragen wird. Durch die den Knaben choral umgebenden Personen setzt Riccarelli komische, ironische, groteske oder dramatische Akzente; Letzteres vor allem durch die Überfigur des Vaters, der mit seinen Theorien über die Heilfunktionen des Salzes sich zu Tode und der Familie großen Schaden bringt.
Stets sind es zunächst ungeahnte, aus der Ferne heraufziehende und dann rasch bedrohlich werdende Phänomene, die die Lebenswelt des Heranwachsenden zerstören. Zuerst kommen die kakanischen Offiziere und Mannschaften; sie zerstören die mythische Stille von Drohobycz, bedrohen aber nicht das Leben der Menschen. Brutaler sind die russischen Okkupanten, und ihnen folgt die Armee Hitlers und die systematische Zerstörung jüdischen Lebens.
Mit großem Geschick hat es Riccarelli verstanden, in den Strang der Ereignisse die zarten Lebensfäden der Bruno umgebenden Personen einzuflechten: Vater Jakob, die kränkelnde Mutter, Schwester Hania, die Sechslinge, drei davon tot, zur Welt bringt, die Dienerin Danuta und viele Freunde der Familie und Bewohner von Drohobycz. Ihre Schicksale erfüllen sich in oft grotesken Handlungen oder Erlebnissen und in Bildern; die meisten von ihnen werden in das blutige Fanal des Romanendes hineingezogen. Viele der Figuren, Szenen und Bilder des Romans bleiben unvergesslich. Dazu gehört der Blick auf das mythisch dahinträumende Drohobycz ebenso wie die dramatische Geburt der Sechslinge oder die mythische Gestalt des Sinti Emram, der im Frühling mit Jozsef, "dem Kaiser aller Bären des Reiches", von den Karpaten herabsteigt und den Bruno eines Tages von den Nazis gekreuzigt und an einen Baumstamm genagelt vorfindet.
Der Roman vereint filigran gezeichnete Oberflächen mit seelischen Tiefen, mythischen Stillstand mit blutiger Bewegung. Individuelles und Kollektives, Intimes und Öffentliches, Träumen und Erleiden, Geborgenheit und Vernichtung wechseln rasch. Dieser Wechsel findet einen verklärenden Ausdruck in dem wichtigsten Leitmotiv, der kreisenden oder stillstehenden Zeit, die Leben und Tod umfasst. In der Schwebe bleibt auch das Verhältnis von Biographie, Autobiographie und Roman. Das rätselhafte "vielleicht" des Titels findet seine Spiegelung und teilweise Erklärung in der Schlussszene des Romans, wo Schulz sich dem Scharführer Günther zu erkennen gibt: "Ja, das bin ich, ich bin ein Jude, der sogar seinen Namen verloren hat. Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß." Das ist eine ironische Anspielung auf den Identitätsverlust, den die mit Nummern versehenen, in Gettos zusammengetriebenen Juden erlitten. Zum anderen verweist es auf unvermeidliche Unschärfen der gewählten literarischen Gattung, auf den "ungetreuen Maßstab des Romans", auf "die unvermeidlichen Ungenauigkeiten und Verwischungen", von denen der Autor im Nachwort zu seinem Buch spricht. Aber es darf und muss auch als Hinweis auf die extreme Leistung der Anverwandlung und der Einfühlung verstanden werden, die der Autor erbracht hat. Der Held des Romans ist eben nicht nur Schulz, sondern auch Ugo Riccarelli.
Ugo Riccarelli: "Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Sylvia Höfer. Verlag C. H. Beck, München 1999. 160 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In der Schwebe: Ugo Riccarellis Roman über einen Mann, der vielleicht Schulz hieß · Von Manfred Hardt
Bürgermeister und Bürger der Stadt Pisa sind um ihr Pressebüro zu beneiden. In zwei nebeneinander liegenden Räumen des Rathauses sitzen zwei ambitionierte und belesene Literaten, die tagsüber Nachrichten und Texte von anderen und über andere sammeln, kopieren und weiterleiten, um abends und am Wochenende ihrer Leidenschaft zu frönen: eine eigene Nachricht, eine eigene, authentische Prosa zu verfassen. So entstanden vor kurzem zwei bemerkenswerte und in Italien beachtete Romane: Athos Bigongiali schrieb "Ballata per un'estate calda" und kam damit in die engere Auswahl für den angesehenen "Premio Viareggio"; Ugo Riccarelli, der andere städtische Angestellte, schrieb "Un uomo che forse si chiamava Schulz" und platzierte sich damit unter den fünf ersten Bewerbern für den nicht minder angesehenen "Premio Campiello". Der letztere Roman, 1998 in Italien erschienen, wird nun unter dem Titel "Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß" dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt. Der Titel hat es in sich. Das Buch auch.
Der Klappentext informiert darüber, dass mit Schulz der polnische Schriftsteller Bruno Schulz, Autor der "Zimtläden" und Übersetzer von Kafka, gemeint sei und dass Riccarelli den "vielschichtigen Lebensweg" von Schulz "in Form eines Romans" nachgezeichnet habe. Wenn es aber der Lebensweg von Schulz war, warum spricht der Titel davon, dass der Mann vielleicht Schulz hieß? Gibt es Zweifel an der Identität des Helden? War der Protagonist des Romans ein anderer? Der Umstand, dass der Erzähler seinen Bericht in der Ichform und nicht in der dritten Person vorträgt, kann mögliche Verunsicherungen des Lesers nur erhöhen.
Mit historisch verbürgter Gewissheit war der 1892 in Drohobycz/Galizien geborene Bruno Schulz einer der großen avantgardistischen Künstler Polens zwischen den beiden Weltkriegen. Sohn eines jüdischen Tuchhändlers, wuchs er nach dem frühen Tod des eigensinnigen und dominanten Vaters in ärmlichen Verhältnissen auf, studierte in Lemberg Architektur und verdiente seinen Lebensunterhalt als Zeichenlehrer am Gymnasium seines Geburtsortes. Literarisch entwickelte sich Schulz als Einzelgänger, geprägt von der kulturellen Atmosphäre der österreichisch-ungarischen Monarchie. Zu seinen wenigen Freunden zählten S. I. Witkiewicz und W. Gombrowicz. 1933 schloss er sich der Gruppe "Vorstadt" an, die sich dem Programm eines authentischen Realismus verschrieben hatte und der unter anderem Z. Nalkoweska angehörte. Stark beeinflusst von Kafka, dessen "Prozess" er 1936 ins Polnische übersetzte, und von Sigmund Freud, dessen Untersuchungen zum Unterbewussten und zur Bedeutung des Vater-Sohn-Konflikts in seinem Werk nachwirkten, erlangte er Beachtung vor allem durch seine Erzählbände "Die Zimtläden" von 1934 und "Das Sanatorium zur Todesanzeige" von 1937. Lange Zeit vergessen, wurde Schulz in den fünfziger Jahren wieder entdeckt; die beiden Erzählbände erschienen 1961 in deutscher Übersetzung.
Ugo Riccarelli, 1954 bei Turin geboren, erzählt also in der ersten Person die Lebensgeschichte von Bruno Schulz. In Drohobycz, der kleinen Stadt am Fuße der Karpaten, kommt dieser im Hause seines Vaters zur Welt. "Ich kam aus meiner Mutter hervor mit dem Widerwillen eines Menschen, der gezwungen wird, die Stille eines Refugiums zu verlassen, in dem ich neun Monate geträumt hatte." Das sind unheilvolle Worte, denn in der Tat wird das Leben den Träumen des Bruno Schulz grausamen, schließlich tödlichen Widerstand entgegensetzen. Doch zunächst wird der kleine Bruno in die umhegte Welt des Hauses von Vater Jakob entlassen, der ihn als "Wunder des Himmels" begrüßt, als "Nachkomme" und als "neuen Händler, der in Galizien Stoffe und Tuchwaren verkauft".
Der mit ungewöhnlichen Fähigkeiten der Beobachtung und Wahrnehmung begabte Knabe durchstreift die Korridore, Gemächer und Lagerkammern des väterlichen Hauses. Alles, was er wahrnimmt, die farbenfrohen Tapeten, die Fugen und Lineaturen in den Böden und die Risse und Kratzer an den Möbeln, so bekennt er, "waren für mich das Filigran einer geheimnisvollen und zauberhaften Welt". "Und so kam es, dass ich, noch bevor ich sprechen konnte, zeichnen lernte." Dies in der "von der majestätischen Präsenz des Kaisers in Wien" beherrschten Stille einer vergessenen Provinzstadt im äußersten nordöstlichen Zipfel Kakaniens: "Drohobycz schlief. In der Ebene liegend, setzte es seinen Schlaf fort, der ewig schien. Es schliefen seine Häuser mit den in den warmen Frühsommertagen offen stehenden Fenstern, und mit ihnen ihre Bewohner, die jeden Tag Schritt für Schritt dieselbe Strecke zurücklegten und die Zeit in ihrer Unbeweglichkeit im Kreise drehten. Unbeweglich war die Zukunft."
Das ändert sich, als sich eines Januarmorgens eine Fahrzeugkolonne mit Soldaten, Ingenieuren, Mannschaften und technischem Gerät durch das Städtchen wälzt. Man ist auf dem Weg zur nahe gelegenen Tysmienica, wo Erdölquellen auszubeuten sind, die dem Kaiser und dem Städtchen Drohobycz Reichtum und Fortschritt bescheren sollen. Der große Zukunftstraum endet bald, indem das Bohrfeld in Flammen aufgeht, die im weiten Umkreis die Natur zerstören. Nach Jahren der Agonie und dem Untergang der Monarchie gerät Galizien in das Spannungsfeld deutsch-russischer Interessen. Nach dem Abschluss des deutsch-russischen Nichtangriffspakts sind es die Russen, die das Städtchen okkupieren und auf den Kopf stellen - und wenige Monate später abziehen. Dann marschiert die Armee Hitlers ein. Die neue Ordnung bringt die organisierte Vernichtung des osteuropäischen Judentums. Sie führt zur brutalen Ermordung des jüdischen Künstlers Bruno Schulz durch einen Nazioffizier am 19. November 1942. Hier endet der Roman.
Mit ungewöhnlicher Sensibilität hat Ugo Riccarelli den Lebensweg von Bruno Schulz nachgezeichnet. Zu den eindrucksvollsten Seiten des Romans zählt die Beschreibung der Kindheit des Protagonisten. Der kleine Bruno lebt in einer Traumwelt, in die Segmente der Wirklichkeit eindringen, die mit dem Blick des Kindes, das heißt aus nächster Nähe und mit fast halluzinatorischer Genauigkeit, wahrgenommen werden. Die Unschuld dieses Lebens zwischen Traum und Wirklichkeit bleibt aufgehoben in einer Welt, in deren scheinbarer Ewigkeit das Kind eine unzerstörbar scheinende Geborgenheit erfährt, die von einer vertrauten Dingwelt und einer zyklisch wiederkehrenden, anthropomorph empfundenen Natur getragen wird. Durch die den Knaben choral umgebenden Personen setzt Riccarelli komische, ironische, groteske oder dramatische Akzente; Letzteres vor allem durch die Überfigur des Vaters, der mit seinen Theorien über die Heilfunktionen des Salzes sich zu Tode und der Familie großen Schaden bringt.
Stets sind es zunächst ungeahnte, aus der Ferne heraufziehende und dann rasch bedrohlich werdende Phänomene, die die Lebenswelt des Heranwachsenden zerstören. Zuerst kommen die kakanischen Offiziere und Mannschaften; sie zerstören die mythische Stille von Drohobycz, bedrohen aber nicht das Leben der Menschen. Brutaler sind die russischen Okkupanten, und ihnen folgt die Armee Hitlers und die systematische Zerstörung jüdischen Lebens.
Mit großem Geschick hat es Riccarelli verstanden, in den Strang der Ereignisse die zarten Lebensfäden der Bruno umgebenden Personen einzuflechten: Vater Jakob, die kränkelnde Mutter, Schwester Hania, die Sechslinge, drei davon tot, zur Welt bringt, die Dienerin Danuta und viele Freunde der Familie und Bewohner von Drohobycz. Ihre Schicksale erfüllen sich in oft grotesken Handlungen oder Erlebnissen und in Bildern; die meisten von ihnen werden in das blutige Fanal des Romanendes hineingezogen. Viele der Figuren, Szenen und Bilder des Romans bleiben unvergesslich. Dazu gehört der Blick auf das mythisch dahinträumende Drohobycz ebenso wie die dramatische Geburt der Sechslinge oder die mythische Gestalt des Sinti Emram, der im Frühling mit Jozsef, "dem Kaiser aller Bären des Reiches", von den Karpaten herabsteigt und den Bruno eines Tages von den Nazis gekreuzigt und an einen Baumstamm genagelt vorfindet.
Der Roman vereint filigran gezeichnete Oberflächen mit seelischen Tiefen, mythischen Stillstand mit blutiger Bewegung. Individuelles und Kollektives, Intimes und Öffentliches, Träumen und Erleiden, Geborgenheit und Vernichtung wechseln rasch. Dieser Wechsel findet einen verklärenden Ausdruck in dem wichtigsten Leitmotiv, der kreisenden oder stillstehenden Zeit, die Leben und Tod umfasst. In der Schwebe bleibt auch das Verhältnis von Biographie, Autobiographie und Roman. Das rätselhafte "vielleicht" des Titels findet seine Spiegelung und teilweise Erklärung in der Schlussszene des Romans, wo Schulz sich dem Scharführer Günther zu erkennen gibt: "Ja, das bin ich, ich bin ein Jude, der sogar seinen Namen verloren hat. Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß." Das ist eine ironische Anspielung auf den Identitätsverlust, den die mit Nummern versehenen, in Gettos zusammengetriebenen Juden erlitten. Zum anderen verweist es auf unvermeidliche Unschärfen der gewählten literarischen Gattung, auf den "ungetreuen Maßstab des Romans", auf "die unvermeidlichen Ungenauigkeiten und Verwischungen", von denen der Autor im Nachwort zu seinem Buch spricht. Aber es darf und muss auch als Hinweis auf die extreme Leistung der Anverwandlung und der Einfühlung verstanden werden, die der Autor erbracht hat. Der Held des Romans ist eben nicht nur Schulz, sondern auch Ugo Riccarelli.
Ugo Riccarelli: "Ein Mann, der vielleicht Schulz hieß". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Sylvia Höfer. Verlag C. H. Beck, München 1999. 160 S., geb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main