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Produktdetails
  • Verlag: Edition Memoria / Schumann
  • Seitenzahl: 223
  • Deutsch
  • Abmessung: 200mm
  • Gewicht: 416g
  • ISBN-13: 9783930353071
  • ISBN-10: 3930353075
  • Artikelnr.: 25196335
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.1997

Lächle vor dem Einschlafen
Prosa aus dem Exil: Stephan Lackners Versuche der Selbsterquickung

Im Rückblick auf seine kindlichen Anfänge des Philosophierens hat Stephan Lackner sich der folgenden Fragen erinnert: "Wenn ich da hinaufschaue in den Himmel - wie weit schaue ich? Wie groß ist der Weltraum? Und wenn er irgendwo aufhört, was kommt dann dahinter? Wie lang werden Menschen auf der Erde leben? Wann hat all das angefangen? Und was war vor dem Anfang?"

In Lackners Erzählungen, die man eher als Parabeln oder Allegorien bezeichnen möchte, sind die Spekulationen des Knaben aufbewahrt. "Die Gebeugten" berichtet von einem Land, "in welchem die Sitte verlangte, daß alle Menschen nur mit nach vorne hängenden Köpfen umhergingen". Gesetz und Tradition verbieten strengstens, jemals auch nur einen Blick an den Himmel zu tun, der von den ortsansässigen Physikern und Künstlern als gelb beschrieben wird, "und zwar von einem ganz speziellen, entsetzenerregenden, unbeschreibbaren Gelb, das auf der Erde nicht vorkommt". Eines Tages stolpert ein Liebespaar auf einem Feld; das Mädchen starrt zum ersten Mal in den Himmel, der Bann ist gebrochen, und der Jüngling, "überwältigt von der Seligkeit der Entdeckung", läuft in die Stadt, um sie den Bürgern mitzuteilen.

Lackner läßt seine Geschichten gern in eine Offenbarung der Natur münden, bei der man eine kosmische, von besonderem Pathos getragene Ergriffenheit spürt. Er, der mit der Schilderung einer nordafrikanischen Gebirgswanderung literarisch debütierte, ist über geistesgeschichtliche Studien zur Befreiung der "unterdrückten vegetativen Regungen des Menschen" bei Heine und Nietzsche auch zu Wilhelm Reich gekommen, mit dem er im Briefwechsel stand, und tatsächlich ist die Natur gerade in ihrer elementaren Majestät Lackner vertraut: Berge, Wüsten, Geysire, ungeheure Wälder und Flüsse bilden den Schauplatz der Geschichten. Es ist Lackners Kunstgriff, seine Zeit - die Erzählungen entstanden seit den späten dreißiger Jahren - in archaischen Verhältnissen zu spiegeln; auch das Porträt des Autors, das der Publikation beigegeben ist, läßt eher an einen Bauern oder einen Seefahrer denken als an einen städtischen Intellektuellen.

Man kann die Geschichten als Kranz von Parabeln eines kreativen Lebens verstehen. Den großen Naturszenen entsprechen die magisch wirksamen Kunstwerke, von denen häufig die Rede ist; Musik und Eros werden in ihren erhabenen, schicksalsbestimmenden Momenten dargestellt. Das kreative Leben in seiner mythischsten Gestalt ist es, das Lackner, den Freund Max Beckmanns und Verfasser mehrerer Künstlerbiographien, immer beschäftigt hat. Hier finden sich Geschichten, die den Übergang von Leben in Kunst zum Thema haben: Ein Professor der Malerei verschwindet mit seinem Schüler, dessen er sich auf unerklärliche Weise bemächtigt, in einer Miniatur; in einer anderen Erzählung wird eine allzu getreue farbige Statuette zum Träger der Seele eines Mädchens, das währenddessen im wirklichen Leben verfällt.

Lackner, dem Sohn eines süddeutschen Juden und einer norddeutschen Protestantin, waren, wie er in seinem Lebensrückblick am Ende des Buches schreibt, "zwei verschiedenartige Perspektiven von Anfang an mitgegeben". Das Exil, zunächst in Frankreich, später in den Vereinigten Staaten, läßt sich für viele dieser Geschichten als Erfahrungshintergrund nachweisen: nicht nur ist der Außenseiter - der "Mann mit den blauen Haaren" - die Figur, die der ganzen Sammlung den Titel gegeben hat. Lackners Menschen leben auf der Grenze wie Orlando Peters, der "sein Leben lang eine Vorliebe für ungewöhnliche, ja absurde Wohnsitze" gehabt hat und sich nun an einer Schlucht niederläßt; sie verfügen über das bessere Sensorium für Krisen kultureller Systeme - daß "unsere Insel sinkt", weiß der zugereiste Erzähler der Parabel "Flaschenpost" vor allen anderen -, und sie sehen deshalb bei zwei einander bekämpfenden Parteien objektiver die Grenzen wie die Gemeinsamkeiten: "Ein Blinder bestand beim Abschied darauf, allein heimzugehen, bat seinen Freund aber um eine Laterne. ,Wozu? Mit der Laterne siehst du deinen Weg auch nicht.' ,Ich brauche die Laterne, damit die anderen mir ausweichen.' Auf der Straße stieß er mit jemandem zusammen. ,Paß doch auf! Siehst du meine Laterne nicht?' Der Fremde: ,Leider nein: Ich bin nämlich blind'".

Eine andere Geschichte handelt von einem, der im Herbst vor Glück lächelt. Die Polizei hält ihn an, er wird verhört und zu einer Ordnungsstrafe verurteilt; da kommt der Polizeipräsident und stellt die Dinge richtig. In Zukunft, so beschließt er gemeinsam mit dem Bürgermeister, müssen alle lächeln, Zuwiderhandlungen werden mit Geldbuße belegt. Oft scheint das Lächeln in diesen Erzählungen wie eine goldene Regel des Optimismus gegen alle Widrigkeiten aufzutauchen, und man wird nicht fehlgreifen, wenn man auch hier eine Haltung vermutet, die den Emigranten vor dem Untergang schützte.

In den fünfziger Jahren schrieb Lackner eine Anleitung zur Selbsttherapie: "Ein Trick, der auch meiner Mutter gutgetan hat, ist, daß man vor dem Einschlafen still vor sich hinlächelt. Das Lächeln ist mit erfreulichen Gedanken assoziiert, und ein bewußt hervorgerufenes Lächeln bringt fast automatisch freundliche Empfindungen und ruft erquickenden Schlaf herbei." Lackners Erzählungen bleiben nah an solchen Rezepten; der Übergang von Natur in Kunst wird um eine Spur zu einfach hingestellt und deshalb so genau verfehlt wie in der Geschichte "Die Vorstellung", in der der Erzähler, um Musik hervorzubringen, in sein Herz greift und im Anschlagen der "Saiten seiner Seele" schon den Wohllaut zu erzeugen glaubt. LORENZ JÄGER

Stephan Lackner: "Ein Mann mit blauen Haaren". Erzählungen. Hrsg. von Thomas B. Schumann. Edition Memoria, Köln 1996. 223 S., geb., 36,- DM.

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