Wer bestimmt das Lebensende eines Menschen?Der Roman zu einem Thema, das in ganz Europa diskutiert wird. Der Protagonist Paul Gärtner bestellt sich einen Recorder und erzählt sein Leben. Deutsche Geschichte von 1945 bis 2020 im Brennglas. Er hat eine schwere Krankheit hinter sich, kämpft, noch als Pflegefall, für die Legalisierung von Sterbehilfe und die Freigabe von Natrium-Pentobarbital, erhebt sich, wieder genesen, eines Tages aus seinem Bett und macht sich auf den Weg.Auf einer kleinen Insel im Atlantischen Ozean beginnt ein neuer Lebensabschnitt, wobei er vorgesorgt hat, um an seinem Tag X den Weg gehen zu können, für den er gekämpft hat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.01.2024Er lässt nichts aus
Roswitha Quadflieg geht dem Lebensweg eines Pädagogen nach
Die Handlung des schmalen Romans "Ein Mann seiner Zeit" von Roswitha Quadflieg ist schnell erzählt: Während der Corona-Pandemie spricht der krebskranke Paul Gärtner die Erinnerungen an sein Leben auf ein Diktiergerät, in Anlehnung an den Film "Lisbon Story" von Wim Wenders.
Den Tod vor Augen, macht er sich Gedanken über die Möglichkeiten der Sterbehilfe; mit seinem Anwalt setzt er sich dafür ein, dass das Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital für diesen Zweck erhältlich ist. Bereits hier werden die Schwierigkeiten im Erzählansatz ersichtlich, denn der Lebensbericht von Paul Gärtner verdeutlicht in erster Linie eine politische oder soziale Haltung. Roswitha Quadflieg hat ein moralisches Buch geschrieben.
Der Titel "Ein Mann seiner Zeit" unterstreicht das Vorhaben der Autorin. Die Figur des Paul Gärtner, der 1945 geboren wurde, dient vor allem dazu, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ausbruch der Corona-Pandemie zu beleuchten. Kaum ein Ereignis wird ausgelassen. Der Protagonist ist geprägt von seinem Vater, der zu den Tätern im Dritten Reich gehörte und sich 1953 das Leben nimmt.
Gärtners Mutter schlägt ihn, er gehört zu den Verschickungskindern, die in Heimen schikaniert werden. Natürlich ist er Teil der Studentenbewegung in den Sechzigerjahren, erlebt auch den Prager Frühling, ist beeinflusst von freier Liebe. Die erste Mondlandung wird ebenso beschrieben wie das Wirken der RAF in den Siebzigerjahren. Der Protagonist schildert die Wende, ebenfalls den 11. September 2001.
"Paul stoppt und überlegt, ob er jetzt in eine Geschichtsstunde abgerutscht ist", heißt es an einer Stelle. Das Abgleiten in die Nacherzählung der historischen Tatsachen versucht die Autorin zu verhindern, indem sie ihre Hauptfigur mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit ausstattet. Der Pädagoge Gärtner, der in Schulen und Erziehungsheimen gearbeitet hat, sich schließlich in Süddeutschland und Portugal selbständig macht mit Häusern zur Integration von schwierigen Jugendlichen, kritisiert die sozialen Zustände und die Politik der Bundesregierung. Doch dabei belässt er es nicht, er versucht auch aktiv, die Gesellschaft zu verändern. So heiratet er zum Beispiel eine afghanische Frau, die aus ihrer Heimat geflüchtet ist, ihren gewalttätigen Mann und die beiden Kinder verlassen hat. Gärtner geht mit ihr eine Scheinehe ein, damit sie in der Bundesrepublik bleiben darf.
Für Roswitha Quadflieg ist die private Erfahrung vor allem relevant, wenn sie sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verrechnen lässt. Es finden sich nur sehr wenige Episoden in dem Buch, bei denen das intime Erlebnis den zeitgeschichtlichen Charakter überdeckt. Als Jugendlicher hatte Paul Gärtner eine freundschaftliche, vermutlich auch erotische Beziehung zu Ed. Der Mann ist Thomaskantor in Leipzig und fast vierzig Jahre älter als er. Gärtner fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben angenommen von einem anderen Menschen, respektiert in seinen Bedürfnissen.
Hier geht der Protagonist in der Erzählung von den eigenen Emotionen aus, schildert authentisch sein Bedürfnis nach Zuneigung und Bestätigung. Die Eitelkeit bei den Passagen, in denen sich er als Teilnehmer oder Kritiker der historischen Ereignisse darstellt, entfällt. Ähnlich verhält es sich bei den Erfahrungen mit den vier Frauen, mit denen Gärtner verheiratet war. Auch die Episode über seinen amerikanischen Sohn, von dem er erst nach vierzig Jahren erfährt, gehört dazu. Das persönliche Erlebnis steht im Vordergrund.
Roswitha Quadfliegs Buch endet damit, dass Ayla, die Ehefrau der Hauptfigur, bei der Geburt eines Kindes stirbt, das sie von einem anderen Mann erwartet hatte. Paul Gärtner wird wieder gesund und zieht auf die Kapverdische Insel Boa Vista. "Die Dosis Natrium-Pentobarbital ist für den Tag X gut verwahrt", heißt es am Schluss des Romans. THOMAS COMBRINK
Roswitha Quadflieg: "Ein Mann seiner Zeit". Roman.
Faber & Faber, Leipzig 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roswitha Quadflieg geht dem Lebensweg eines Pädagogen nach
Die Handlung des schmalen Romans "Ein Mann seiner Zeit" von Roswitha Quadflieg ist schnell erzählt: Während der Corona-Pandemie spricht der krebskranke Paul Gärtner die Erinnerungen an sein Leben auf ein Diktiergerät, in Anlehnung an den Film "Lisbon Story" von Wim Wenders.
Den Tod vor Augen, macht er sich Gedanken über die Möglichkeiten der Sterbehilfe; mit seinem Anwalt setzt er sich dafür ein, dass das Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital für diesen Zweck erhältlich ist. Bereits hier werden die Schwierigkeiten im Erzählansatz ersichtlich, denn der Lebensbericht von Paul Gärtner verdeutlicht in erster Linie eine politische oder soziale Haltung. Roswitha Quadflieg hat ein moralisches Buch geschrieben.
Der Titel "Ein Mann seiner Zeit" unterstreicht das Vorhaben der Autorin. Die Figur des Paul Gärtner, der 1945 geboren wurde, dient vor allem dazu, die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ausbruch der Corona-Pandemie zu beleuchten. Kaum ein Ereignis wird ausgelassen. Der Protagonist ist geprägt von seinem Vater, der zu den Tätern im Dritten Reich gehörte und sich 1953 das Leben nimmt.
Gärtners Mutter schlägt ihn, er gehört zu den Verschickungskindern, die in Heimen schikaniert werden. Natürlich ist er Teil der Studentenbewegung in den Sechzigerjahren, erlebt auch den Prager Frühling, ist beeinflusst von freier Liebe. Die erste Mondlandung wird ebenso beschrieben wie das Wirken der RAF in den Siebzigerjahren. Der Protagonist schildert die Wende, ebenfalls den 11. September 2001.
"Paul stoppt und überlegt, ob er jetzt in eine Geschichtsstunde abgerutscht ist", heißt es an einer Stelle. Das Abgleiten in die Nacherzählung der historischen Tatsachen versucht die Autorin zu verhindern, indem sie ihre Hauptfigur mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit ausstattet. Der Pädagoge Gärtner, der in Schulen und Erziehungsheimen gearbeitet hat, sich schließlich in Süddeutschland und Portugal selbständig macht mit Häusern zur Integration von schwierigen Jugendlichen, kritisiert die sozialen Zustände und die Politik der Bundesregierung. Doch dabei belässt er es nicht, er versucht auch aktiv, die Gesellschaft zu verändern. So heiratet er zum Beispiel eine afghanische Frau, die aus ihrer Heimat geflüchtet ist, ihren gewalttätigen Mann und die beiden Kinder verlassen hat. Gärtner geht mit ihr eine Scheinehe ein, damit sie in der Bundesrepublik bleiben darf.
Für Roswitha Quadflieg ist die private Erfahrung vor allem relevant, wenn sie sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verrechnen lässt. Es finden sich nur sehr wenige Episoden in dem Buch, bei denen das intime Erlebnis den zeitgeschichtlichen Charakter überdeckt. Als Jugendlicher hatte Paul Gärtner eine freundschaftliche, vermutlich auch erotische Beziehung zu Ed. Der Mann ist Thomaskantor in Leipzig und fast vierzig Jahre älter als er. Gärtner fühlt sich zum ersten Mal in seinem Leben angenommen von einem anderen Menschen, respektiert in seinen Bedürfnissen.
Hier geht der Protagonist in der Erzählung von den eigenen Emotionen aus, schildert authentisch sein Bedürfnis nach Zuneigung und Bestätigung. Die Eitelkeit bei den Passagen, in denen sich er als Teilnehmer oder Kritiker der historischen Ereignisse darstellt, entfällt. Ähnlich verhält es sich bei den Erfahrungen mit den vier Frauen, mit denen Gärtner verheiratet war. Auch die Episode über seinen amerikanischen Sohn, von dem er erst nach vierzig Jahren erfährt, gehört dazu. Das persönliche Erlebnis steht im Vordergrund.
Roswitha Quadfliegs Buch endet damit, dass Ayla, die Ehefrau der Hauptfigur, bei der Geburt eines Kindes stirbt, das sie von einem anderen Mann erwartet hatte. Paul Gärtner wird wieder gesund und zieht auf die Kapverdische Insel Boa Vista. "Die Dosis Natrium-Pentobarbital ist für den Tag X gut verwahrt", heißt es am Schluss des Romans. THOMAS COMBRINK
Roswitha Quadflieg: "Ein Mann seiner Zeit". Roman.
Faber & Faber, Leipzig 2023. 256 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wirklich glücklich wird Rezensent Thomas Combrink mit Roswitha Quadfliegs Buch nicht. Es erzählt die Lebensgeschichte Paul Gärtners, die dieser selbst auf Band spricht, nachdem er , in den Corona-Jahren an Krebs erkrankt ist. Es geht Quadflieg vor allem darum, Gärtners Leben mit der deutschen Geschichte der Nachkriegsjahrzehnte kurz zu schließen, meint Combrink. Das beginne mit der Verstrickung des Vaters der Hauptfigur ins Nazi-Regime und setze sich fort, wenn Gärtner in der Stundentenbewegung aktiv ist und über die deutsche Einheit sowie 9/11 sinniert. Um Gärtner als Figur jenseits der Zeitgeschichte interessant zu machen, verleiht die Autorin ihm einen starken Gerechtigkeitssinn, so der Kritiker. Eine wirklich eigenständige Figur wird der Protagonist für ihn jedoch nur in den Episoden, in denen Gärtner aus seinem Privatleben erzählt, einer angedeuteten schwulen Liebesgeschichte sowie den Ehen mit insgesamt vier Frauen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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