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Rüdiger Safranski legt mit seinem großen Buch über Martin Heidegger die Biographie über den wirkungsmächtigsten (und umstrittensten) Philosophen des 20. Jahrhunderts vor. Es ist darüber hinaus auch die Biographie der Epoche, selbst ein Stück Philosophie über den Zusammenhang von Denken und Leben und der Ausdruck eines souveränen Verhältnisses zum philosophischen Erbe Heideggers. Und: endlich kann man Heidegger nicht nur lesen, sondern auch verstehen!

Produktbeschreibung
Rüdiger Safranski legt mit seinem großen Buch über Martin Heidegger die Biographie über den wirkungsmächtigsten (und umstrittensten) Philosophen des 20. Jahrhunderts vor. Es ist darüber hinaus auch die Biographie der Epoche, selbst ein Stück Philosophie über den Zusammenhang von Denken und Leben und der Ausdruck eines souveränen Verhältnisses zum philosophischen Erbe Heideggers. Und: endlich kann man Heidegger nicht nur lesen, sondern auch verstehen!
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Autorenporträt
Rüdiger Safranski, geboren 1945, studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Wissenschaftlicher Assistent, Herausgeber und Redakteur der Berliner Hefte, Dozent in der Erwachsenenbildung, seit 1986 freier Autor. Für sein in 26 Sprachen übersetztes Werk wurde er u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2014), mit dem Ludwig-Börne-Preis (2017) und dem Deutschen Nationalpreis (2018) ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: Hölderlin (Komm ins Offene Freund! Biographie, 2019) und Klassiker! (2019, mit Michael Krüger und Martin Meyer). Er lebt in Badenweiler.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2015

Ein Zitatmeister aus Deutschland
Wo ein Bonmot ist, wächst das Belehrende doch auch: Der Philosoph Rüdiger Safranski plaudert über die Zeit

Das sechste Kapitel des neuen Buches von Rüdiger Safranski steht unter der bei Hans Blumenberg entlehnten Überschrift "Lebenszeit und Weltzeit". Safranski legt dar, durch die physikalische Prinzipienlehre Isaac Newtons habe sich "das Problem einer leeren Zeit" aufgetan, einer Zeit vor der Zeit, da Newton einerseits eine unendliche Zeit postuliert und andererseits an der Endlichkeit der mit der Schöpfung einsetzenden christlichen Weltgeschichte festgehalten habe. "Man kam hier selbstverständlich nicht weiter, weshalb Newton es ablehnte, sich mit den Fragen der Weltentstehung und ihres Zeitpunktes herumzuschlagen, und sich lieber auf seinen Deismus zurückzog." An diesem Satz ist vielleicht nicht alles falsch, aber fast nichts richtig. Er führt die Leser in die Irre.

In älteren Standardwerken findet man die These, Newton sei ein Deist gewesen. Sie geht zurück auf die enthusiastische Rezeption Newtons unter den radikalen Aufklärern, die ihn als Deisten verstehen wollten. Allerdings widerspricht Newton in seiner "Optik" ausdrücklich einem Deismus in dem auch von Safranski vorausgesetztem Sinne, dass Gott die Welt nur geschaffen und dann sich selbst überlassen habe: Die Regelmäßigkeit der Planetenbahnen konnte sich Newton nur damit erklären, dass der Schöpfer sie in Bewegung halte. Die öffentliche Gestalt von Newtons Theorien wich insoweit nicht von den Dogmen der anglikanischen Staatskirche ab. Aber der Deismus war auch nicht das Rückzugsgebiet des zur Diskretion genötigten Privatmanns, obwohl Newton mit den Deisten im Zweifel an der göttlichen Natur Jesu Christi übereinkam. Sein Nachlass ist voll von Notizen zu den biblischen Prophetien.

1728 erschien postum seine Untersuchung der Chronologie der ältesten Geschichte auf der Grundlage der biblischen Offenbarung. Newton unterbreitet da in der Tat keinen eigenen Datierungsvorschlag für die Weltentstehung; er setzt das von Erzbischof James Ussher ermittelte Schöpfungsdatum des Jahres 4004 vor Christus voraus und verengt den für die Ereignisse der antiken Überlieferung zur Verfügung stehenden Zeitraum weiter, indem er etwa den Trojanischen Krieg im Jahr 903 vor Christus beginnen lässt, 281 Jahre später als Ussher. Newtons Biograph William Stukeley urteilte, er habe die Jahre der Welt mit Recht verkürzt, dabei aber des Guten zu viel getan. Das kann man auch von Safranskis Behandlung Newtons sagen.

Ein philosophischer Essay mit dem Titel "Zeit - Was sie mit uns macht und was wir mit ihr machen" wird sich in der Darstellung auch der wichtigsten ideengeschichtlichen Stationen kurz fassen. Aber hier fällt der Verkürzung gerade das zum Opfer, was für Safranskis Fragestellung interessant sein müsste: Nie käme man darauf, dass Newton so viel Zeit in die Zeit gesteckt hat, in die Synchronisierung der Kalender der alten Welt. Als in Paris eine unautorisierte Ausgabe seines Urkulturfahrplans gedruckt wurde, bemerkte ein Witzbold, das Werk werde in der Wissenschaft von der Zeit Wunder wirken. "Warum hätte der große Mathematiker sonst so viele Jahre daran arbeiten sollen?" Das soll eigentlich Safranskis Thema sein: wie das Nachdenken über die Zeit die Zeitnutzung verändert.

Verräterisch ist die Formulierung, dass Newton mit Berechnungen zum Schöpfungsdatum "selbstverständlich" nicht weitergekommen wäre. Das ist vor dem Horizont der heutigen naturalistischen Weltanschauung gesagt, im Geiste jenes Reduktionismus, den Safranski gerade kritisieren möchte. Sein Vertrauen auf die vermeintliche Selbstverständlichkeit illustriert, was die Zeit mit unseren Erkenntnissen macht: Sie glättet und schleift ab, macht geschmeidig und geläufig. Viele Gedanken des Buches dürften den Verfasser über die längste Zeit seines Lebens begleitet haben; man erkennt prägende Motive seiner intellektuellen Generation wieder.

Die Ablösung des zyklischen Geschichtsbilds der Antike durch das lineare Geschichtsdenken des Christentums war die These von Karl Löwiths Buch "Weltgeschichte und Heilsgeschehen". Auf die Studien des von Safranski zitierten Historikers Reinhart Koselleck zur neuzeitlich bewegten Geschichte übte Löwiths Schema starken oder, wie Safranski wohl schriebe, nachhaltigen Einfluss aus. Das Auftauchen des Adjektivs "nachhaltig" in der Interpretation von Samuel Becketts Stück "Warten auf Godot" im Kapitel über die Langeweile ist ein einsames sprachliches Indiz dafür, dass dieses Kapitel nicht schon vor fünfzig Jahren niedergeschrieben wurde. Die Beliebtheit von Löwiths Figur in der Nachkriegszeit sollte man einmal als Symptom des damaligen Zeitbewusstseins erörtern; Safranski präsentiert die Geschichte des Übergangs vom Kreislauf zum Fortschritt als sicheres Wissen.

Seine Gewährsleute aus Literatur- und Geistesgeschichte bilden einen Zirkel von Olympiern, alterslosen Weltstars, die ihre berühmtesten Sentenzen zum Besten geben. Hofmannsthals Marschallin kommt gleich auf der ersten Seite zu Wort, gefolgt vom heiligen Augustinus. Nach Kant unter dem bestirnten Himmel und Brechts Marie A. unter der Wolke hat im vorletzten Kapitel endlich auch der Zauderer Hamlet mit "Die Zeit ist aus den Fugen" seinen Auftritt.

Wie ein Tick wirkt es, dass Safranski sich keine Gelegenheit zum Zitieren entgehen lässt. "Es mag sein, dass, wo Gefahr ist, auch das Rettende wächst, wie es bei Hölderlin heißt." Aber das geflügelte Wort ist das Emblem der Zeitlosigkeit, verbürgt die Fähigkeit des Geistes, alles Zeitliche hinter sich zu lassen, das Lokale und Bedingte, die "ganze alte Scheiße", um es mit einem Marx-Zitat Safranskis zu sagen, das auch Helmut Schmidt gern gebrauchte.

So nennt Safranski nach Heidegger im Titel seiner Biographie von 1994 und nach Beethoven, Nietzsche, Thomas Mann und sieben anderen Herren in einer Dankesrede von 2014 jetzt auch Goethes Faust einen "Meister aus Deutschland" - der mit diesem Zitat aus einem der meistzitierten deutschen Gedichte natürlich nicht für den Holocaust in Haftung genommen werden soll.

Das fatale Gesetz der Konsumgesellschaft gilt glücklicherweise nicht für den Zitatenschatz: "Die Schätze, welche die Vergangenheit angehäuft hat, werden verbraucht, und die Zukunft wird mit den Abfallprodukten belastet." Auch auf dem Mist der ökologischen Gefahr wächst das rettende Bonmot. "Alexander Kluge hat dafür den treffenden Ausdruck gefunden - er nennt diesen Vorgang den Angriff der Gegenwart auf den Rest der Zeit." Abgesehen davon, dass bei Kluge "die übrige Zeit" steht: Er hat keinen Vorgang so genannt, sondern einen Film.

Ähnlich sorglos verallgemeinert Safranski den Sinn eines bekannten Hegel-Worts. Warum täuscht sich Faust, wenn er - Rekordmeister aus Deutschland - verkündet, dass seine Erdenspur nie untergehen werde? "Die Weltzeit ist, wie ein schöner Ausdruck Hegels dafür lautet, eine Furie des Verschwindens." Dieser schöne Ausdruck steht aber in der "Phänomenologie des Geistes" nicht "dafür", für die Vergänglichkeit aller Dinge, sondern für eine historisch genau umrissene Erscheinung, die absolute Freiheit des Zeitalters der Revolution, die nichts Positives hervorbringt und in den Schrecken umschlägt. Um diese Dialektik unbekümmert, wünscht Safranski sich eine Revolution der Nachhaltigkeit herbei.

Der Zug ins Allgemeine ist charakteristisch für den Duktus des Buches. Nur verdeckt berichtet der Autor von seinen eigenen Zeiterlebnissen; ein "Wir" und "Man" ist zugleich Subjekt und Adressat bedächtiger Kulturkritik. Sage und schreibe sechsmal erscheint die Furie des Verschwindens, berechenbar wie Halleys Komet. Sie will bei Safranski partout nicht tun, was ihr Name sagt! Sollte in dieser Steigerung der Zitierfreude zum Wiederholungszwang die Haltung durchschimmern, die Goethe hinter der Selbstgewissheit Newtons ausmachte: eine Art von Ironie?

PATRICK BAHNERS.

Rüdiger Safranski: "Zeit". Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen.

Carl Hanser Verlag, München 2015. 272 S., geb., 24,90 [Euro].

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